Hermann Kant

Lebenslauf, zweiter Absatz

Erzählungen

 

 

 

Impressum

Die Orthographie folgt der jeweils im Entstehungsjahr der Erzählungen gültigen Rechtschreibung.

 

ISBN 978-3-8412-0278-9

 

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, März 2011

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Erstausgabe erschien 2011 bei Aufbau,

einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Die Textnachweise der einzelnen Erzählungen

folgen am Schluss des Bandes

 

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unter Verwendung eines Fotos von © Paula Friedrich / bobsairport

 

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Inhaltsübersicht

Krönungstag

Der Glasberg

Mitten im kalten Winter

Gold

Lebenslauf, zweiter Absatz

Eine Übertretung

Frau Persokeit hat grüßen lassen

Der dritte Nagel

Bronzezeit

Der Mann von Frau Lot

Patchwork

Textnachweis

KRÖNUNGSTAG

Ich saß auf dem Dach und konnte alles genau sehen: die vier verstaubten Männer in der Buchenlaube, meine Mutter und die Frau mit der Ziege, meine kleine Schwester Alida hinter dem Schattenmorellenspalier, den Festzug mit Blumen und Fahnen in der kleinen sandigen Straße und Judith, die Königin.

Die Königin stand ganz allein auf dem sauber geharkten Weg zwischen dem Steingarten und der Dahlienreihe. Sie wartete auf den König.

Ich hatte nie gewußt, daß Judith hübsch war, aber jetzt sah ich es. Gewiß, sie war so mager, wie nur Mädchen kurz vor der Konfirmation sein können, und ihre Augen waren vom Weinen gerötet, aber dennoch war sie hübsch oder sogar schön. Sicher war einiges davon dem weißen Kleid und den neuen blanken Schuhen und dem Nelkenkranz im Haar zu danken, aber schließlich saß der Kranz auf vollen braunen Locken, und in den zierlichen Schuhen steckten zierliche Füße, und das weiße Leinenkleid wäre nichts gewesen ohne die dünnen, aber golden schimmernden Arme und Beine Judiths. Sie stand schmal und allein auf dem Gartenweg und blickte dem König entgegen.

Die Leute im Festzug waren ruhig geworden und sahen neugierig über die Ligusterhecke in unseren Garten. Mochten sie nur! Da war jetzt alles in Ordnung. Die Blumenkästen unter den Fenstern glänzten in frischem Weiß, der Rhododendronbusch verbarg mit rosig leuchtenden Blüten die rostige Regentonne, auf dem Wege lag kein Stein mehr, niemand konnte meinen Vater und die anderen Männer oder die Frauen mit der Ziege sehen, und keiner sah den empörend strubbeligen Kopf meiner kleinen Schwester Alida hinter dem Kirschenspalier. Es war alles in Ordnung – bis auf den dünnen Faden Heu vielleicht, der in dem Heckenrosenbogen über der Pforte hing und leise im Winde schaukelte.

Aber außer mir sah das niemand. Die Blicke der Leute ruhten auf Judith, die erlöst und erwartend zugleich vor der offenen Haustür stand, und auf dem König, der aus der Kutsche geklettert war und durch den Rosenbogen unseren Garten betrat.

Er war keine fünf Minuten zu früh gekommen.

Der Tag hatte eigentlich wie alle anderen begonnen. Schön, wir Kinder waren aufgeregt – für uns war dieser Tag keineswegs wie jeder andere –, aber für meine Eltern begann er, wie ein Tag eben beginnt, wenn der Mann um sieben zur Arbeit fahren muß und im Stall ein Haufen Viehzeug nach Futter verlangt.

So war es jeden Morgen: Meine Mutter klapperte mit Tassen und Tellern und fragte sich laut, wo sie denn wieder den Malzkaffee gelassen habe, und beschwichtigte den Pfeifkessel mit ihrem allmorgendlichen »Jaja, ich komm ja schon!«, und mein Vater erklärte unserer Ziege, die sich wieder einmal nicht melken lassen wollte, sie sei ein »ganz obstinates Beest«. Dann pumpte mein Vater mit einer schrecklich quietschenden Pumpe Luft in die brüchigen Schläuche seines alten Fahrrades. Er tat das jeden Morgen, und jeden Morgen pfiff er »La Paloma« dazu. Die rostige Pumpe war musikalischer als er.

Wenn meine Mutter ihm die Tasche mit dem Mittagbrot und einer Blechflasche voll Kaffee an das Fahrrad gehängt hatte, fuhr er zur Arbeit, jedoch nie, ohne sich an der Gartenpforte noch einmal umzudrehen und meiner Mutter »Tschüs, Lowise!« zuzurufen. Er wußte ganz genau, daß sie sich darüber ärgerte, denn sie hieß ja nicht Lowise, sondern Luise.

Wenn mein Vater fort war, klopfte meine Mutter an die Schlafstubentür und fragte, ob sie es vielleicht noch einmal tun solle. So war es auch an diesem Tag gewesen, mit dem einen Unterschied nur, daß wir diesmal ungeduldig auf die Aufforderung, »endlich und ein bißchen dalli« aufzustehen, gewartet hatten.

Denn – wie gesagt – für uns war dieser Tag ein besonderer. Heute war »Kinnergreun«, was hochdeutsch »Kindergrün« heißt und bei uns in Hamburg der Name für das alle Jahre wiederkehrende Schulfest ist.

Kinnergreun war fast so schön wie Weihnachten, es gab Umzüge und einen Ball und Waldmeisterlimonade; Kinnergreun war schöner als Pfingsten, wo es nur neue Socken und keine Limonade gab.

An diesem Tag gingen wir gern in die Schule, wurden doch an Stelle der Kenntnis aller Ereignisse beim Gang nach Canossa und der atemlosen Beherrschung von Schillers »Glocke« Leistungen in Sackhüpfen, Eierlaufen und Tauziehen verlangt. Die Meister in diesen Sportarten wurden Könige geheißen und als solche reich beschenkt.

Nicht, daß wir an diesem Morgen gehofft hätten, am Mittag als gekrönte Häupter zurückzukehren. Daran war ja nicht zu denken – ausgerechnet wir! Aber der Spaß war uns auch so sicher.

Die beiden Mädchen wollten ihre neuen Kleider schon am Vormittag anziehen – meine Mutter erledigte das mit einer Handbewegung. Immerhin erreichte Alida einen Teilerfolg, als ihr »das Rote« genehmigt wurde. Das Rote war ein Dirndlkleid und eigentlich auch nur »für gut«, aber Alida kam mit meiner Mutter eben immer am weitesten. Einmal, weil sie die Jüngste war, und zum anderen ihres Namens wegen. Um diesen Namen hatte es heftige Kämpfe zwischen meinen Eltern gegeben. Mein Vater, der bei Judith einmal klein beigegeben hatte, war gegen eine so überkandidelte Bezeichnung wie Alida gewesen – »So heißen Herdbuchkühe oder welche vom Kintopp!« –, aber gegen meine Mutter, die gesagt hatte, die Namen ihrer Kinder seien der einzige Luxus, den sie sich leisten könne, war er nicht aufgekommen. Nur bei mir hatte er sich durchgesetzt.

In der Schule ging es schon hoch her, als wir ankamen. Die Sackhüpfbahn war mit bunten Fähnchen abgesteckt, in der Mitte des Hofes hatten sie einen Klettermast aufgestellt, und an der Turnhalle standen bunte Buden.

Der Kampf um die Königswürde in meiner Klasse wurde mit Lederbällen ausgetragen, die einer riesigen Pappfigur in den gewaltigen Rachen zu werfen waren. Ich hatte da nicht viel zu bestellen, denn nach dem Urteil meines Vaters war ich um die Hände rum der größte Dösbartel, der in unserer Gegend ansässig war.

Zuerst schien es ja, als würde ich ihn wenigstens einmal widerlegen, denn im ersten Durchgang landeten alle fünf Bälle im Rachen der Pappfigur, die übrigens auffällige Ähnlichkeit mit dem Biologielehrer Heinius hatte. Aber im Stichkampf ging ich schmählich unter, da ich immer nur den rechten Eckzahn von »Heini« traf.

Sieger und somit Klassenkönig wurde Pieke Holmers. Pieke hieß eigentlich Reginald – ein Name, der es meiner Mutter angetan hatte –, Pieke war der Gipfel an Häßlichkeit, Faulheit und Dummheit nicht nur in unserer Klasse, sondern in der ganzen Schule. Kein Wunder, daß sein Sieg nur geteilte Freude bei unserem Klassenlehrer auslöste: König Pieke, o mein Gott!

Alida war beim Sackhüpfen – diese Sportart war stets der untersten Klasse vorbehalten – von vornherein geschlagen, denn sie hatte so herrlich gebogene Beine, daß sie sich auch ohne die künstliche Hemmung eines Zuckersackes ständig auf die eigenen Zehen trat. Ihr machte das nichts aus, sie war von einer wunderbaren Wurstigkeit und vollauf zufrieden, da sie das Rote anhaben durfte.

In der achten Klasse spielten die Mädchen Taubenstechen. Eine Holztaube mit einem Nagel an Stelle des Schnabels schwebte an einer langen Schnur gegen eine Zielscheibe und bohrte sich dort fest. Klar, wer mit drei Würfen die höchste Ringzahl erreichte, war Königin.

Ich kümmerte mich nicht um diesen Wettbewerb, denn daß Judith da keine Aussichten hatte, stand für mich fest: die Mädchen aus der Achten, zwei Klassen über mir, waren ja fast schon erwachsen, aber Judith war nur meine Schwester.

Ich sah gerade den ältesten Jungen beim Armbrustschießen zu, als Werner Gideon zu mir kam und sagte, meine Schwester sei Königin.

Zuerst begriff ich das gar nicht, aber dann rannte ich nach Hause. Meine Mutter war dabei, den Fußboden im Windfang zu schrubbern, als ich ihr mitteilte, sie sei Königinmutter geworden.

»Ist ja fein«, sagte sie und schrubberte weiter. Dann stellte sie jedoch plötzlich den Besen beiseite: »Moment mal, wieso, wer, Judith? – Dann gibt das doch einen Festzug hier, wie? Ach du meine Güte! All die vielen Leute, und wie das hier aussieht!«

Meine Mutter konnte fix arbeiten, aber so hatte ich sie noch nie gesehen. Sie langte sich wieder den Besen und scheuerte den Boden fertig, zwischendurch rief sie, ich solle nicht so dämlich rumstehen und die Steine vom Weg sammeln und die Straße fegen und Stärke für Judiths Kleid vom Krämer holen und die Ziege von der Wiese und Tante Ella Bescheid sagen und die Pumpe noch mal angießen, denn sie brauche noch Wasser, und ob ich denn nicht sehen könne, daß da frisch gescheuert sei, und wo denn die verflixten anderen beiden Gören blieben.

Meine Mutter hatte für Königinnen viel übrig; schließlich hieß sie ja Luise, und die berühmte Preußin mußte nach ihren Worten wirklich eine großartige Person gewesen sein, hatte sie doch all ihr Geschmeide (welch herrliches Wort, Geschmeide!) für den Kampf gegen Napoljon gestiftet und jeden Abend vor dem Schlafengehen das Gedicht »Wer nie sein Brot mit Tränen aß …« aufgesagt. Mich verwirrte dieser Bericht immer, denn daß man Margarine mit Zucker aufs Brot tat oder am Freitag Leberwurst, leuchtete mir ein, wieso aber Tränen, das war nicht ganz klar. Aber schließlich war die Luise ja Königin …

Und nun hatten wir eine Königin in der Familie.

Wenn die gedacht haben sollte, sie würde zu Hause mit Böllern und Fanfaren empfangen, so hatte sie sich geirrt. Meine Mutter hatte sich über die Fensterscheiben hergemacht, und ich sammelte die Steine aus dem kleinen Straßengraben vor unserem Garten, als sie ankam.

Mit ihr kam ein ganzer Schwarm von Mädchen, die wunder was erwartet haben mochten und nun enttäuscht waren, weil sich unser kleines Pappdachhäuschen noch nicht in ein Schloß verwandelt hatte. Sie gackerten und kicherten so lange auf der Straße herum, bis ich mit Steinen nach ihnen warf. Ich sagte ihnen nur, sie sollten man zusehen, daß sie Land gewönnen, aber das – und vielleicht auch die Steine – war schon zuviel, jedenfalls rief die eine: »Strootenfeger, Rönnsteenneger!«, und das war nun ganz gewiß eine tödliche Beleidigung.

Es stimmte schon, mein Vater war Straßenfeger, und wenn er abends nach Hause kam, war er voll Rinnsteinstaub, aber das war noch lange kein Grund, solche Worte in der Gegend herumzuschreien.

Judith heulte gleich los.

Sie hatte sich wohl schon so in ihre Königinnenrolle hineingelebt, daß ihr dieses Wort wie eine Entthronung ankommen mußte.

»Dumme Liese«, sagte meine Mutter, »hast du vielleicht gedacht, die freuen sich, daß ausgerechnet du Königin wirst? Das mach dir man ab!«

Und dann sagte sie, Judith solle ihr beim Fensterputzen helfen, damit die Leute auch schön durch die Scheiben in unseren fürstlichen Palast und auf unsere goldenen Teller sehen könnten.

Vielleicht hätte sie das nicht sagen sollen, denn jetzt sah Judith sich erst einmal richtig bei uns um, und da ging das Geheule wieder los.

Der Garten war ja schön, den hatte mein Vater gut in Schuß, aber sonst … Die Gartenpforte war ebenso rostig wie die Regentonne in der Hausecke, die Schornsteinhaube war nach einer Seite heruntergerutscht, und die Blumenkästen wußten gar nicht mehr, was Farbe ist.

Meine Mutter sagte, da müsse mein Vater eben ran, wenn er nach Hause komme, das schaffe er schon noch. Dann überlegte sie einen Augenblick lang, schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und rief, daß uns das gerade noch gefehlt habe.

Eine halbe Stunde später wußte ich, was sie damit gemeint hatte, denn da kam ein Pferdewagen mit einer riesigen Ladung Heu die Straße heruntergedonnert, und obendrauf saß mein Vater.

Er fegte damals gerade die Elbchaussee und hatte sich dort mit einigen Hausmeistern angefreundet und die Erlaubnis erhalten, manchen herrschaftlichen Rasen mähen und Heu machen zu dürfen. Und ausgerechnet heute hatte es Alfred Goldenmarkt, dem einzigen Besitzer eines Pferdefuhrwerks in unserer Gegend, so mit der Zeit gepaßt, daß er meines Vaters Ernte einbringen konnte.

Alfred, der einen kleinen Tierhandel betrieb, machte die Fuhre gewissermaßen als Entgelt für die kleinen Züchter- und Händlertips, die mein Vater ihm gab. Ja, mein Vater wußte nicht nur sehr viel von Blumen und Obstbäumen, sondern auch eine ganze Menge von Tieren, und aufs Feilschen verstand er sich nur einmal.

Es war nichts daran zu ändern: Das Heu mußte herunter vom Wagen und wenigstens hinters Haus geschafft werden; Alfred brauchte sein Gefährt, um eine Ladung Frettchen zum Bahnhof zu bringen, und vor der Tür konnte das Fuder nicht liegenbleiben, erstens, weil es die ganze Straße blockierte, und zweitens sah es ja auch nicht gut aus.

»Die giften sich sowieso schon, daß sie mit Pauken und Trompeten und Ponykutsche hier in die Fischkistensiedlung kommen müssen«, sagte meine Mutter, und man brauche die Leute ja nicht unbedingt in ihrer Ansicht zu bestärken, daß hier unten Sodom und Gomorrha sei.

Unsere Schule lag nämlich auf der Grenze zwischen zwei Vorortteilen; der eine war beinahe herrschaftlich, und der andere war eben unsere Fischkistensiedlung, und die Bewohner beider Teile waren einander nicht grün.

In all den vielen Jahren, in denen wir Kinnergreun gefeiert hatten, war der Festzug nie bei uns unten gewesen, es hatte immer so geklappt, daß das Schulkönigspaar oben ansässig war.

Angesichts des gewaltigen Heuhaufens vor der Tür wurde mir allmählich klar, daß es mit dem Gerede, man solle die Feste feiern, wie sie fielen, auch wieder so eine Sache war: Nun feiere du mal, wenn du gar nicht darauf eingerichtet bist und vor deinem Haus liegt Heu, so hoch wie ein Berg, der Nanga Parbat.

Wenn die Königin, um die es ja schließlich ging, wenigstens mitgeholfen hätte, den Wintervorrat für Ziege und Kaninchen hinters Haus zu tragen! Aber nein, die kroch flennend mit ihrem Leinenkleid unter dem Arm durch die Hecke und rannte zu Tante Ella, damit die ihr die Robe richte, denn dazu hatte meine Mutter jetzt natürlich gar keine Zeit, und das sehe sie ja wohl selbst.

Es zeigte sich bald, daß mein Vater und ich das Fuder Heu niemals rechtzeitig wegschaffen konnten; ohne Hilfe ging das nicht.

So wurde ich geschickt, Max zu holen. Max wohnte ein paar Schritte weiter in einer richtigen Hütte. Er war Rohköstler und Temperenzler und Platzwart bei einem Nacktkulturverein. Ich habe nie herausbringen können, ob es stimmte, daß er die Sonne anbetete; fest stand nur, daß er eine heillose Angst vor Gewittern hatte. Jedesmal, wenn es sich über unserem Landstrich so richtig auswetterte, und das geschah meistens in der Nacht, tauchte er plötzlich vor unserem Fenster auf und jagte meiner ohnedies genug geängstigten Mutter einen gewaltigen Schreck ein. War er dann erst einmal bei uns im Haus, so hielt er zähneklappernd lange Reden über die Ungefährlichkeit solcher Naturereignisse und über die Vorzüge der Nacktkultur.

Max mußte ran an das Heu. »Hier hast du Natur in Massen«, sagte mein Vater. Nun war es aber mit der Arbeitsauffassung von Max ein eigen Ding. Meine Mutter behauptete, die schwerste Arbeit, die er verrichte, sei das Pflücken des Huflattichs zum zweiten Frühstück.

Doch mein Vater wußte ihn zu nehmen, und wenn Max auch nicht gerade unter den Lasten, die er sich aufbürdete, zusammenbrach, so trabte er doch munter hin und her und blieb nur stehen, wenn er in dem Heu die Mumie eines seltenen oder eßbaren Krautes gefunden hatte.

Max war es, der empfahl, Schadder hinzuzuziehen. Meine Mutter war von diesem Vorschlag gar nicht sehr erbaut, denn Schadder war ihr unheimlich. Sie sagte, er führe ein Doppelleben.

Gewiß, etwas merkwürdig war er schon. In der Nacht wirkte er als Klarinettist in der Original-Bayernkapelle des »Zillertal« auf der Reeperbahn, und das, obwohl er Hamburg noch nie von der Südseite her gesehen hatte. Bei Tage züchtete er Bisamratten. Mit Schadder konnte man nur über Bisamratten oder über das absolute Gehör, das zu besitzen er vorgab, sprechen. Meine Mutter brachte das auf die Formel: »Er spinnt.«

Aber solche Vorurteile konnten jetzt, da die Ehre des Hauses und der ganzen Siedlung auf dem Spiele stand, nicht gelten, und ich wurde geschickt, Schadder von seinen Ratten fort und zu unserem Heu zu holen.

Es wurde auch schon höchste Zeit, denn die ersten Leute waren bereits auf dem Wege zur Schule, wo sich der Festzug sammeln sollte, und wenn sie an unserem Heuhaufen vorbeikamen, machten sie sorgenvolle Gesichter oder dumme Witze.

Adje Hüller kam da gerade richtig. Das gehörte so zu ihm, er kam immer gerade richtig. Wenn man Hilfe brauchte, war Adje da. Man durfte ihn nur nicht bitten. Dann war bei ihm gar nichts zu machen. Adje war immer schrecklich wütend, wenn er jemandem half. Er fühlte sich dann überlistet.

Früher hatte er im Hafen gearbeitet, aber seitdem ihm eine zurückfahrende Winsch die Schulter zerschlagen hatte, war es damit aus, und er konnte noch froh sein, daß er den Posten beim Lesezirkel gefunden hatte. Die Frauen, denen er die Mappe mit der »Gartenlaube« und der »Hamburger Illustrierten« ins Haus trug, hatten bald heraus, wie man Adje in Gang brachte. Sie schimpften auf ihre Männer, die nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen könnten, oder sie sagten, ja, leider hätten sie gar keine Zeit mehr, sich mit Adje zu unterhalten, denn so eine Wäscheleine mache sich ja nicht von alleine an – und schon fragte Adje nach dem Hammer oder ließ sich die Leine geben. Dabei schimpfte er dann ordentlich und gebrauchte wiederholt das Wort »Schietkroom«.

Unverständliches leistete er sich, als die Krämerbude von Hulda Ewers abbrannte: Adje kam als erster zu Hilfe. Er sprang in die brennende Bretterhütte, und als er wenig später angesengt und hustend wieder auftauchte, trug er das schmierige Anschreibebuch Huldas unter dem Arm. Der Witz war nur, daß Adje wohl mit dem dicksten Posten drinnen stand. Adje brachte der Krämerin das Buch und sagte: »Hier, ick bün verrückt!« und: »Schietkroom!«

Adje sagte auch jetzt bei jedem Bündel Heu, das er reinschaffte, »Schietkroom«, aber das nahmen wir gerne in Kauf.

Jetzt lief der Transport reibungslos, und wir konnten uns schon ausrechnen, daß wir noch rechtzeitig fertig würden. Da kam Alida nach Hause. Wir hatten sie ganz und gar vergessen, aber jetzt war sie da und weder zu übersehen noch zu überhören; sie schrie, als sei sie vom Affen gebissen. Sie war es auch.

Sie hatte sich nach dem vorausgesehenen Ausgang des Sackhüpfens ruhig auf den Heimweg gemacht und war dabei an Zirkus Bellini vorbeigekommen. Zirkus Bellini gastierte in jedem Jahr einmal oben am Ellernbrook und überraschte vor allem immer wieder durch die Wandlungsfähigkeit seines Besitzers, der einmal als Irokesenhäuptling Minge-tanke (Der weiße Büffel), ein anderes Mal als Feuerfresser aus der hinteren Türkei und im Jahr darauf als Schlangenmensch von Celebes unseren Beifall und unser Geld einheimste. Der Tierpark des Zirkus Bellini bestand aus zwei müden Schecken, einer Horde Hunde und einem alten Affen.

Diesen Affen nun hatte Alida, die so tierlieb wie mein Vater war, aufgesucht.

Mochte er nun keinen oder zuviel Gefallen an dem Roten gefunden haben, jedenfalls hatte er kräftig zugelangt und die Abdrücke seiner Zähne kurz unterhalb der Impfpocken auf Alidas rechtem Oberarm hinterlassen.

Da stand die Unglückselige nun mit zerrissenem Kleid und schrie ihren Schmerz in die Welt hinaus.

Die Störung war enorm. Der Heutransport wurde sofort abgebrochen, und es gab eine medizinische Beratung. Max empfahl gekauten Salbei, und Schadder wußte, Affenbisse seien noch gefährlicher als die von Bisamratten; Adje Hüller sagte, wenn ein Blutspender gebraucht werde, so könne man auf ihn rechnen, und mein Vater pumpte Luft in die Schläuche seines Fahrrades, denn er wollte mit Alida zum Arzt fahren.

Aber meine Mutter sagte, dann wäre es aus mit der Krönungsfeier und Tante Ella müsse mit Alida gehen. Sie schaffte es auch wirklich, daß sich die Heuträger wieder an die Arbeit und die Rettung der Lokalehre machten.

Sie ging sogar so weit, Max aus der Kolonne herauszunehmen und mit Pinsel, weißer Farbe und dem Auftrag zu versehen, er solle die Gartenpforte und die Blumenkästen unter den Fenstern anstreichen.

Von der Feuerwache her heulte die Sirene; es war drei Uhr – die Zeit, da sich oben an der Schule der Festzug in Bewegung setzen sollte. Alle arbeiteten noch schneller, und wenn nun nicht noch etwas passierte, mußte es klappen. Aber es passierte noch etwas.

Daran war Oskar schuld oder vielmehr die Ziege von Fräulein Senkenblei. Niemand hatte Fräulein Senkenblei und ihre Ziege gesehen, bis sie plötzlich vor unserer Gartenpforte standen. Die Ziege machte sich sofort über das Heu her, und Fräulein Senkenblei eröffnete meinem Vater, daß das gute Tierchen zu Oskar müsse.

Oskar war nämlich der staatlich gekörte Ziegenbock, der vom Kleingärtnerverein bei uns eingestellt war und hier zur Herbstzeit eine fruchtbare Tätigkeit ausübte. Zur Herbstzeit ja, aber jetzt war Juni.

Das sei ihr völlig gleichgültig, sagte Fräulein Senkenblei, es stehe nirgendwo geschrieben, daß eine Ziege nicht auch einmal im Juni Liebe fühlen dürfe, und es sei an sich schon Schande genug, daß wir aus dem Spiel der natürlichen Kräfte auch noch Geld zögen, und schließlich sei sie im Vorstand des Kleingärtnervereins, und wenn wir nicht unserer Pflicht nachkämen, so werde sie Sorge tragen, daß man Oskar woanders unterbringe.

Das wäre nun freilich ein harter Schlag gewesen, denn Oskar war für uns wirklich eine wichtige Finanzquelle, und so manches Mal hatten wir, wenn wieder einmal Ebbe in der Kasse gewesen war, hoffnungsvoll die Straße hinuntergesehen und nach einer Ziege Ausschau gehalten, die Oskar Vergnügen bereiten und uns vier Mark einbringen sollte. Aber, wie gesagt, das war eben immer im Herbst, und jetzt war Juni und außerdem Krönungstag.

Doch gegen Fräulein Senkenblei war nicht aufzukommen; wir hatten das schon einmal erfahren, damals, als sie uns das »Blättchen« aufgeschwatzt hatte. Das »Blättchen« war das evangelische Sonntagsblatt, für dessen Vertrieb in unserem Bezirk Fräulein Senkenblei verantwortlich und alles zu tun bereit war. Sie kam alle vierzehn Tage damit und kassierte stets einen Groschen und eine Tasse richtigen Kaffee dafür – so süß und verbindlich sie auch bei diesem Geschäft sein mochte, heute stand sie hier als die Sachwalterin einer Ziege und deren für die Jahreszeit so ungewöhnliches Anliegen und ließ sich auch mit dem Hinweis auf den Ernst und die Dringlichkeit der Stunde nicht abweisen.

Mitten hinein in die Debatte über Naturgesetze und die Satzungen des Kleingärtnervereins tönten die Klänge des Hohenfriedbergers. Der Festzug kam heran.

Meine Mutter zerrte Fräulein Senkenblei und ihre Ziege hinter das Haus und rief nach der Königin, denn ihr Hofstaat nahe. Max pinselte wie rasend den letzten Blumenkasten an, und ich sah, daß er immer nur die Vorderseiten der Kästen geweißt hatte, Adje Hüller raffte das restliche Heu vom Boden und sagte mehrmals »Schietkroom«, Schadder klemmte einen Zweig des blühenden Rhododendrons so unter einen Stein, daß er die Regentonne verbarg, mein Vater zeigte, daß er sich auf seinen Beruf verstand, und harkte und fegte in Rekordzeit die Straße und den Weg sauber, ich kletterte auf das Dach und rückte die Schornsteinhaube gerade und sah mit halbem Blick, wie Alida vom Garten Tante Ellas her durch die Hecke brach und sich mit ihrem zerwuschelten Haar und einem weißen Verband um den Oberarm hinter den Schattenmorellen verkroch. Mein Vater rief den anderen Männern zu, sie sollten sich schleunigst in die Laube begeben, denn er verstehe gar nicht, wie man bloß so dreckig herumlaufen könne, und er sagte noch, er fordere es im Namen der Krone. Von der Hofseite her hörte ich die Stimme meiner Mutter, die Fräulein Senkenblei und ihre Ziege beschwor, sie möchten sich noch einen Augenblick gedulden.

Dann wogten Fahnen und Kränze und bunte Kleider auf der kleinen sandigen Straße, und eine gelbe Kutsche hielt vor unserer Haustür.

Die Leute im Festzug waren ruhig geworden und sahen neugierig über die Ligusterhecke in unseren Garten.

Mochten sie nur! Da war jetzt alles in Ordnung. Die Blumenkästen glänzten in frischem Weiß, der Rhododendronbusch verbarg mit rosig leuchtenden Blüten die rostige Regentonne, auf dem Wege lag kein Stein mehr, niemand konnte meinen Vater und die anderen Männer oder die Frauen mit der Ziege sehen, und keiner sah den empörend strubbeligen Kopf meiner kleinen Schwester Alida hinter dem Kirschenspalier. Es war alles in Ordnung – bis auf den dünnen Faden Heu vielleicht, der in dem Heckenrosenbogen über der Pforte hing und leise im Winde schaukelte.

Aber außer mir sah das niemand. Die Blicke der Leute ruhten auf der Königin Judith, die erlöst und erwartend zugleich im weißen Kleide vor der offenen Haustür stand.

Die Königin war wunderschön, und sie war ganz allein.