Vorwort

In den letzten Jahren zeigen immer mehr Kinder und Jugendliche Auffälligkeiten im Verhaltens- und Leistungsbereich und versagen trotz hoher und sehr hoher Intelligenz in der Schule. Welche Faktoren sind für diese Entwicklung verantwortlich und wie kann diesen Kindern und Jugendlichen geholfen werden?

Diese Fragen faszinieren mich – bedingt durch meine eigene Lebensgeschichte*– seit vielen Jahren und wurden zum Schwerpunkt meiner beruflichen Tätigkeit. Als Kinderärztin und -therapeutin mit breit gefächerter Ausbildung (Facharztausbildung für Kinderheilkunde mit Spezialisierung in der Neonatologie, Ausbildung als Kinder- und Jugendpsychiater und Kinderneurologe mit Kenntnissen in der Epileptologie, psychotherapeutisch ausgebildet in Verhaltenstherapie, tiefenpsychologischer Therapie, Systemischer Familientherapie und Hypnose) und über dreißigjähriger Berufserfahrung lernte ich in meiner Sprechstunde immer mehr Kinder und Jugendliche kennen, die trotz sehr guter Begabung große Schwierigkeiten in der Schule hatten. Die häufig vermutete Unterforderung als Ursache ihrer Probleme konnte ich nur in den wenigsten Fällen bestätigen. Die Gründe für ihr auffälliges Verhalten mussten daher anders gelagert sein. Die Untersuchungen ergaben häufig, dass Hochbegabte mit Verhaltens- und Leistungsauffälligkeiten unter einer mehr oder weniger schweren psychischen Beeinträchtigung als Folge einer kognitiven und sozialen Überforderung bei angeborenen hirnorganisch bedingten Defiziten der Wahrnehmungsverarbeitung und der Daueraufmerksamkeit litten.

Über meine Erfahrungen und die Erziehung von sehr begabten Kindern, ihren möglichen Problemen und ihren Ansprüchen an sich selbst und andere möchte ich berichten und meine Erkenntnisse an Eltern, Erzieher und Therapeuten weitergeben. Handlungsstrategien sollen aufzeigen, wie man verhindern kann, dass diese Kinder und Jugendlichen versagen, und wie ihnen zu einer Entwicklung entsprechend ihren Fähigkeiten verholfen werden kann. Da die Medizin eine Erfahrungswissenschaft auf naturwissenschaftlicher Grundlage ist, nimmt die praktische Erfahrung einen bedeutenden Stellenwert ein. Grundlage dafür ist, dass der jeweilige Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen immer als eine bio-psycho-soziale Einheit gesehen wird und jede zu beurteilende Problematik psychodynamisch betrachtet wird. Jeder Entwicklungsprozess ist individuell als das Ergebnis sowohl angeborener als auch erworbener Fähigkeiten und als Folge des sozialen Umfeldes anzusehen. Deshalb gilt es, nicht nur die Symptome zu behandeln, sondern deren Ursachen, da nur die Beseitigung grundlegender Störungen einen dauerhaften Erfolg sichert. Das soll die Botschaft dieses Buches sein.

Dabei habe ich den Schwerpunkt auf die Gruppe der Hochbegabten gelegt, weil gerade diese Kinder und Jugendlichen mehr als alle anderen unter den ungewollten und unbegreiflichen Misserfolgen leidet. Was ich dazu geschrieben habe, kann aber gut verallgemeinert werden und allen Kindern und Jugendlichen und deren Eltern und Erziehern helfen, das Beste aus ihren Fähigkeiten zu machen.

Mainz, im Sommer 2005

Dr. med. Helga Simchen

* Meine von mir ersehnte Schulzeit begann, als ich gerade fünf Jahre alt war, denn ich konnte zu diesem Zeitpunkt bereits lesen und rechnen. Die Schulzeit war für mich eine interessante Herausforderung, die mir viel Freizeit für den Leistungssport ließ. Mit 17 Jahren machte ich das Abitur, wobei ich sechs Monate der 11. Klasse wegen einer Sportverletzung im Krankenhaus verbrachte. Nach dem Abitur studierte ich an der Charité in Berlin Medizin. Mit 22 Jahren war ich Ärztin. In den Prüfungen des Staatsexamens boten mir einige Prüfer an, meine Weiterbildung zum Facharzt in der Charité machen zu können. Ich lehnte diese Angebote, so unerfahren, wie ich damals war, ab und folgte stattdessen meinem Mann in eine Kleinstadt. Dort wuchs unser während des Studiums geborener Sohn mit Unterstützung der Großeltern auf. Ein großer Fehler, aber niemand konnte mich warnen. War ich doch in unserer Familie bis dahin der erste und einzige Akademiker, mit viel Idealismus aber völliger Fehleinschätzung der Realität, wie ich im Kreiskrankenhaus einer Kleinstadt erfahren musste. Ich machte dennoch das Beste daraus und widmete mich als Kinderarzt der Betreuung von Früh- und Neugeborenen und deren weiterer Entwicklung. Es folgte noch eine Ausbildung in Kinderneuropsychiatrie und später ging ich an die Medizinische Akademie. Hier nutzte ich dann alle Gelegenheiten zur Weiterbildung, hielt Vorlesungen und Vorträge, war Vorstandsmitglied und Arbeitsgruppenleiter für verhaltensauffällige Kinder in der Gesellschaft für Rehabilitation.

1 Hochbegabung – ein Solotanz mit oder ohne Erfolg

Schon einige Jahre vor der Einschulung begeistert so manches Kind durch seinen großen Wissensdrang, seine ständigen Fragen nach dem Warum, durch seine fließende Sprache mit großem Wortschatz und seine überraschende Kreativität. Es will alles erklärt haben, begreift sehr schnell, ist pfiffig und neugierig zugleich, merkt sich jede Kleinigkeit. Es ist an allem Neuen interessiert und will aus eigenem Antrieb schon vor der Einschulung rechnen, lesen oder schreiben. Alles deutet auf eine sehr hohe Intelligenz hin, die eine erfolgreiche Schullaufbahn mit einem zufriedenen und selbstbewussten Kind verspricht.

Andere Kinder dagegen fallen durch außerordentliche Fähigkeiten auf einem oder mehreren Gebieten auf. Sie können z.B. gut turnen, Fußball spielen, singen oder entwickeln technische Fähigkeiten. Wir sprechen dann von besonderen Begabungen.

1. Begabungen erkennen und fördern

Als Begabung bezeichnet die Psychologie die Summe der angeborenen außerordentlichen Fähigkeiten. Sie ist die Voraussetzung für das Erbringen überdurchschnittlicher Leistungen im schulisch-wissenschaftlichen, praktisch-technischen oder künstlerisch-kreativen Bereich. Der Begriff „Talent“ beschreibt einzelne angeborene überdurchschnittliche Fähigkeiten für ein begrenztes Gebiet. Talent an sich ist von der Höhe des Intelligenzquotienten unabhängig, profitiert aber nicht unwesentlich davon; die Anteile von Veranlagung und Umwelteinflüssen sind individuell unterschiedlich.

Es gibt verschiedene Begabungs- oder auch Fähigkeitsbereiche (Talente), die einzeln oder in Kombination vorkommen können, wobei allein die intellektuellen Fähigkeiten den klassischen Begriff der Intelligenz prägen. Inzwischen wurde noch der Begriff der multiplen Intelligenz eingeführt, der Fähigkeiten umfasst, die berufliche Erfolge und Karrieren begünstigen. Dazu gehören etwa Eigenschaften, die für leitende Tätigkeiten und im Personalmanagement von Vorteil sind.

Menschen können auf einzelnen Gebieten herausragende Fähigkeiten erreichen, die nicht unbedingt mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz korrelieren. Solche Begabungen gibt es:

Alle diese Fähigkeiten werden im allgemeinen Sprachgebrauch mit dem Begriff Begabung gleichgesetzt und können mit mehr oder weniger Intelligenz kombiniert sein. Auch wenn hohe Intelligenz keine zwingende Voraussetzung ist, so ist sie doch immer für alle Fähigkeitsbereiche förderlich.

2. Intelligenz – eine variable Größe und ihre Bedeutung für die Entwicklung

Der deutsche Psychologe William Stern definierte 1920 den Begriff der Intelligenz mit der Fähigkeit, abstrakt und analytisch denken zu können, und legte den Intelligenzquotient (IQ) als das Verhältnis des Intelligenzalters zum Lebensalter mal 100 fest. Das bedeutet, dass der errechnete Intelligenzquotient einer Person immer dem statistischen Mittelwert der Intelligenzleistung ihrer Altersgruppe entspricht. Der durchschnittliche IQ liegt also bei 100.

Es gibt viele Definitionen des Begriffes Intelligenz, aber folgende kommt den Erkenntnissen der aktuellen Forschung am nächsten:

Intelligenz ist die angeborene Fähigkeit, durch Erkennen von Gesetzmäßigkeiten und Regeln geistige Leistungen zu erbringen, mit deren Hilfe neue Aufgaben und Anforderungen optimal gelöst werden können. D.h. also, sich in neuen Situationen und Aufgaben mit Hilfe des eigenen Denkvermögens zurechtzufinden, ohne dass bereits spezielle Erfahrungswerte vorliegen.

Die Intelligenz ist die wichtigste Voraussetzung, um den Anforderungen in der Schule und im Leben gerecht zu werden. Aber Intelligenz allein reicht nicht, um das Leben in seiner Vielfalt meistern zu können. Intelligenz ist im Wesentlichen angeboren, sie wird durch Eigenschaften wie Flexibilität, Kreativität und Eigenmotivation beeinflusst, also durch Eigenschaften, die zum größten Teil durch Umwelt, Erziehung und Erfahrung erworben werden.

Intelligenz ist in ihrer Verwirklichung abhängig von verschiedenen anlage- und umweltbezogenen Faktoren; die wichtigsten sind:

Dazu kommen noch vielfältige Umweltfaktoren, die von Geburt an wirken und die Entwicklung der Persönlichkeit lebenslang fördern oder beeinträchtigen.

Zusammenfassend ist für ein erfolgreiches Umsetzen der Intelligenz entscheidend:

3. Hochbegabung ist nicht gleich Erfolg

Kinder und Jugendliche, die einen IQ von über 130 haben, gelten als hochbegabt. Dies trifft auf etwa 2 % der Bevölkerung zu.

Interessant ist, dass bei Kindern und Jugendlichen mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) der prozentuale Anteil an Hochbegabten bei etwa 5 % liegt. Zu diesem Ergebnis kamen in den vergangenen Jahren verschiedene voneinander unabhängige Untersuchungen.

Gerade die Schullaufbahn dieser Kinder und Jugendlichen beweist, dass der Intelligenzquotient allein keine Aussagefähigkeit über das kognitive und soziale Leistungsvermögen besitzt. Denn trotz intensiver Anstrengung in der Schule werden meistens Leistungen erbracht, die nicht dem Intelligenzniveau entsprechen, worunter die Kinder natürlich psychisch leiden. Durch die Spezialisierung einzelner Therapeuten und Einrichtungen auf die Behandlung von diesen Kindern und Jugendlichen zeigt sich zunehmend, dass die Betroffenen mit ADS im Allgemeinen einen höheren Intelligenzquotienten haben als der Durchschnitt der Bevölkerung, nur dass sie aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht immer davon profitieren können. Dieser Sachverhalt wurde bisher schon von einigen Autoren beschrieben (Rossi, Winkler, Neuhaus). Erklären lässt sich dieses Phänomen möglicherweise damit, dass das Gehirn der Kinder mit ADS von Geburt an einem viel größeren Reizangebot ausgesetzt ist und sich dadurch viel mehr Nervenzellen vernetzen und erhalten bleiben.

Es ist schon lange bekannt, dass hochbegabte Menschen oftmals nur mittelmäßige oder gar schlechte schulische und berufliche Leistungen erbringen. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Ursachen und Erklärungen. Diese Menschen werden in der Hochbegabtenforschung „Underachiever“ genannt, was soviel bedeutet wie „unter ihren Möglichkeiten bleibend“.

Hochbegabung ist von Talent zu unterscheiden, d.h. Menschen, die auf einem Gebiet etwas Außergewöhnliches zu leisten vermögen, müssen nicht hochbegabt sein; sie haben ein besonderes Talent oder eine besondere Begabung auf einem Gebiet. Ein Hochbegabter muss nicht unbedingt über große Fähigkeiten auf einem Gebiet verfügen, aber seine intellektuellen Fähigkeiten müssen herausragend sein.

4. Woran kann man hochbegabte Kinder und Jugendliche erkennen?

Sehr begabte Kinder und Jugendliche verfügen über eine Vielzahl von Fähigkeiten, die in ihrer Gesamtheit mit der Höhe der Intelligenz korrelieren.

An folgenden Fähigkeiten kann man Hochbegabte erkennen:

5. Die multiple Intelligenz – ein moderner Begriff

Weil die Höhe des Intelligenzquotienten nicht immer mit dem Erfolg im Leben übereinstimmt, entwickelte der Psychologe Howard Gardner von der Harvard-Universität in Boston vor gut zehn Jahren den Begriff der „multiplen Intelligenz“, die neben klassischen Intelligenzmerkmalen auch soziale und emotionale Intelligenz umfasst. Daher ist bei der multiplen Intelligenz nicht mehr die Höhe des IQ entscheidend, sondern die sozialen und emotionalen Stärken, die erfahrungsgemäß den beruflichen oder privaten Erfolg ermöglichen. Dieses Modell berücksichtigt auch die Erfahrungen von Daniel Goleman, einem klinischen Psychologen der gleichen Universität.1

Die wichtigsten Eigenschaften emotionaler Intelligenz:

Die soziale Intelligenz, die nach Gardner auch als interpersonelle Intelligenz bezeichnet wird, setzt ein gutes Selbstwertgefühl voraus und umfasst folgende Fähigkeiten:

Nach Gardner wird die Höhe der multiplen Intelligenz durch die genetische Veranlagung, durch sozial und emotional gelerntes Verhalten, durch kulturelle Einflüsse und durch Bildung bestimmt. Entscheidend ist dabei die Summe bzw. das Zusammenspiel dieser Faktoren. Gardners Ansatz ist ein plausibles Modell, das sich an der Praxis orientiert und sich dort bestätigt.

6. Beispiele für hochbegabte Kinder und Jugendliche, die ihren Weg gehen

Hochbegabte, die uneingeschränkt über ihre Intelligenz verfügen können, genießen ihre Erfolge und die daraus resultierende Anerkennung. Dadurch entwickeln sie ein gutes Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz, die wiederum Voraussetzung für ein altersentsprechendes Persönlichkeitsprofil sind.

Hochbegabte Kinder und Jugendliche, die diesen Weg gehen bzw. gehen konnten, sind psychisch stabil, können sich von anderen abgrenzen, entscheiden und handeln wohlüberlegt und zukunftsorientiert. Sie können Kritik annehmen, konstruktiv damit umgehen, sowie Niederlagen angemessen verarbeiten und sie als eine Herausforderung ansehen.

Auch können Hochbegabte rationell denken und ihre Gefühle bewusst steuern. Sie akzeptieren und setzen sich selbst Grenzen. Tatsachen, die unabänderlich sind, werden akzeptiert, unnütze Gedanken um ein Warum und Weshalb können gestoppt werden. Eine hohe soziale Kompetenz befähigt dazu, die eigenen Ziele mit Rücksicht auf die Interessen anderer durchsetzen zu können. Sie wissen, was sie wollen, und schmieden Pläne, wie ihre Ziele am besten zu erreichen sind, wenn möglich mit dem geringsten Aufwand.

Solche Schicksale verlaufen leise, fast unauffällig in allen Lebensbereichen, bis dann fast ohne Ankündigung die besonderen Fähigkeiten zu Tage treten. Hochbegabte brauchen eher Ruhe, um sich zu entwickeln, sie meiden Lärm und Rummel um ihre Person. Sie sind nicht auf Motivation von außen angewiesen, sondern kennen ihre Fähigkeiten und können sich auf sie verlassen. Sie setzen sich realistische Ziele, die sie auch erreichen, wenn nicht auf geradem Weg, dann auch mit Hilfe eines Umweges. Zielstrebigkeit, Fleiß, Flexibilität und Beharrlichkeit sind ihre Stärken. In der Entwicklung hochbegabter Kinder lassen sich die Kriterien der multiplen Intelligenz, wie sie Gardner beschrieb, durchaus nachweisen.

Aber trotzdem stehen Eltern hochbegabter Kinder und Jugendlicher genau wie alle anderen vor der entscheidenden Frage: „Welchen schulischen Weg soll mein Kind einschlagen; was soll mein Kind beruflich am besten machen?“ Hochbegabte haben oft so viele Fähigkeiten und Interessen, dass die Entscheidung schwerfällt. Aber gerade von der richtigen Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt hängt vieles ab.

Die Hochbegabung als angeborenes Persönlichkeitsmerkmal entwickelt sich aus dem Wechselspiel von Veranlagung, Umwelteinflüssen und Erfahrungen im Verlauf des Lebens.

a) Beatrice, die eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hat

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Beatrice ist ein hochbegabtes Mädchen, das ohne Probleme durch die Schulzeit kommt. Sie hat fast immer nur sehr gute Noten, ist sehr sportlich und gilt als ein Talent für Leichtathletik. Außerdem spielt sie Klavier, bekommt Unterricht am Konservatorium und nimmt Gesangsstunden. Nachdem sie die Schule und das Konservatorium mit „sehr gut“ abgeschlossen hat, steht Beatrice vor der Frage: „Soll ich Pianistin werden oder ein naturwissenschaftliches Fach studieren?“. Nach reiflicher Überlegung trennt sie sich von ihrem liebgewonnenen Hobby und studiert Medizin, ein breit angelegtes Fach mit bleibender Bedeutung und Perspektiven. Sie ist vom Studium begeistert und habilitiert sich bereits wenige Jahre nach Abschluss der Facharztausbildung. In diesem Fall war also der Entschluss, nicht Pianistin zu werden, richtig, sie fühlte sich zu beidem berufen, konnte aber nur eins zum Beruf wählen. Ihre innere Stimme half bei der Beantwortung der Fragen „Bin ich ein Gefühlsmensch oder eher rationell veranlagt, übe ich gern Fingerfertigkeit oder lese und lerne ich lieber, um kreative Ideen zu entwickeln?“, „Mit welchem Beruf kann ich mein Leben besser planen?“. Sie entscheidet sich schließlich für ein naturwissenschaftliches Studium mit wissenschaftlicher Laufbahn, da es sie fasziniert, sich immer neuen Forschungsaufgaben zu stellen.

b) Thomas, der gern viele Menschen um sich hat

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Thomas ist ein hochbegabter sportlicher Junge, der zunächst unbedingt ein großer Fußballspieler werden will. Fußball ist seine Welt, er spielt bereits in der Jugendmannschaft eines Oberligavereines; die Schule ist Nebensache, trotzdem hat er gute bis befriedigende Zensuren. Schon in der 10. Klasse wird ihm klar, dass es wie überall harte Konkurrenz und Beziehungen gibt, und wechselt den Verein, weil er glaubt, ungerecht bei der Auswahl behandelt zu werden. Thomas beginnt, sich neu zu orientieren, spielt weiterhin Fußball, jedoch ohne das unbedingte Ziel, einmal in die Bundesliga zu kommen, und konzentriert sich auf das Abitur, um den gewünschten Studienplatz zu bekommen. In der Schule profitiert Thomas von seiner guten Beobachtungsgabe, seinem Einfühlungsvermögen und seinem großem Einfluss auf die Klasse. Er hat ausgesprochen gute soziale Eigenschaften, wahrscheinlich als Folge des jahrelangen Mannschaftssportes mit hoher Anforderung an den Teamgeist. Er ist Klassensprecher und Vertrauter seiner Mitschüler. Für ihn kommt nur der Beruf des Psychologen in Frage. Mit seinem sehr guten Abitur bekommt er gleich einen Studienplatz, hat Freude am Studium, aber auch an vielen Geselligkeiten und sportlichen Aktivitäten, die die Universität bietet. So trainiert er Langlauf und nimmt am 20-km-Lauf teil. Trotz seiner Hochbegabung und eines guten Examens hat er genug vom Lernen und will sich jetzt der Praxis und den Menschen zuwenden. Er wird ein sehr gefragter Psychologe mit einem großen Freundeskreis und einer Familie mit drei Kindern. Er genießt das Leben mit der Familie, den Freunden und Patienten und deren Anerkennung. In die Wissenschaft zieht es ihn nicht, in der Praxis arbeitet er erfolgreich, aber mit weniger Anstrengung und mit viel mehr Freizeit. Er möchte um keinen Preis auf diese schönen Seiten des Lebens verzichten.

c) Jonas, ein technisch begabter Junge, der Erfinder werden will

Jonas ist hochbegabt und langweilt sich in der 1. Klasse. Er ist sehr fleißig, wissbegierig und lernt gern. Von der Idee, die 2. Klasse zu überspringen, ist er begeistert, seine Lehrerin hält das für möglich und würde es befürworten, seine Eltern sehen das eher skeptisch und müssen erst überzeugt werden. Sie glauben, der Junge sei damit überfordert. Als die Überprüfung der Intelligenz mit zwei Verfahren Werte ergibt, die für Hochbegabung sprechen, stimmen die Eltern dem Wunsch des Jungen zu. Sie helfen ihm, den Stoff der 2. Klasse in den großen Ferien zu erarbeiten, was keiner großen Anstrengung bedarf. Jonas ist motiviert, arbeitet jeden zweiten Vormittag in den Ferien und freut sich auf die 3. Klasse. Er hat immer noch Zeit, seinem Hobby, der Technik, nachzugehen. Mit drei Jahren nahm er schon technische Geräte zum Entsetzen seiner Mutter auseinander und sammelte Ersatzteile, auch wenn sie noch so verrostet waren. Jetzt baut er Flugzeuge und Schiffe zusammen und will sie später einmal mit einer Funkfernsteuerung in Bewegung setzen.

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Seitdem die Eltern wissen, dass Jonas hochbegabt ist, gehen sie ganz anders mit ihm um. Der Vater, ein Physiker, erklärt ihm Zusammenhänge und sagt kaum noch „das verstehst du jetzt nicht, da bist du noch zu klein“. Jonas will alles wissen und alles können. So lernt er das Morse-Alphabet und von der Mutter die englische Sprache. Er hatte im Urlaub bewundert, wie sie sich mit den Leuten so gut auf Englisch unterhalten konnte, während er kein Wort verstand.

Die 3. Klasse ist für Jonas zunächst eine Herausforderung, er freut sich über jede gute Note. Jetzt besucht er die 4. Klasse und gehört wieder zu den Leistungsstärksten, ohne viel lernen zu müssen. Er freut sich auf das Gymnasium, denn er will unbedingt das Abitur machen und dann Techniker werden, am liebsten Weltraumraketen konstruieren oder Astrophysiker werden.

In den folgenden Kapiteln möchte ich von Kindern und Jugendlichen berichtet, die im Gegensatz zu den eben beschriebenen Beispielen mit sich und ihrer Umwelt unzufrieden sind. Auch sie wünschen sich, Erfolg und Anerkennung zu erhalten, was ihnen trotz Anstrengung nicht gelingt und auch aus ganz bestimmten Gründen nicht gelingen kann. Dabei werden ihre Probleme immer als eine Einheit von Veranlagung, Entwicklung, Umwelt und Erziehung betrachtet. Denn Begabung, Verhalten, Leistung und Persönlichkeit sind immer das Ergebnis einer Summe von Faktoren, die deren Entwicklung prägen. Deshalb gilt es, bei jeder „Auffälligkeit“ oder „Störung“ immer nach deren Ursachen zu suchen, um diese zu behandeln und zu beseitigen, um so dauerhaften Erfolg zu ermöglichen.

1 Goleman arbeitet jetzt als verantwortlicher Redakteur für Psychologie und Neurowissenschaften bei der „New York Times“ und schrieb 1995 den empfehlenswerten Bestseller „Der EQ und die emotionale Intelligenz“.

2 Die Probleme sehr und hochbegabter Kinder und Jugendlicher

„Was du in anderen Menschen entzünden willst,
muss in dir selbst brennen.“

Sprichwort

1. Erfahrungen aus 30 Berufsjahren als Kinderarzt, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Verhaltens- und Familientherapeut

Es ist eine bekannte Tatsache, dass manche Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit sehr guter Begabung oder Hochbegabung in der Schule und im Beruf unter ihren Möglichkeiten bleiben oder gar versagen. Begründungen für die Probleme Hochbegabter gibt es viele, doch ich habe versucht, angeregt durch meine Arbeit mit Betroffenen, die alle Probleme im Leistungs- und Verhaltensbereich oder in der sozialen Eingliederung hatten, eine eigene Erklärung zu finden. Dabei stieß ich immer wieder auf eine ganz bestimmte Kombination verschiedener Faktoren, die die Entwicklung dieser Kinder und Jugendlichen beeinträchtigt.

Bei meiner Analyse halfen mir meine vielseitige berufliche Ausbildung, meine lange Berufserfahrung und das Interesse, meine Erfahrungen mit den neuen Erkenntnissen der medizinischen Fachliteratur zu vergleichen und auf diese Weise Anregungen für neue Sichtweisen zu bekommen.

Meine Ausbildung begann als Facharzt für Kinderkrankheiten mit der Spezialisierung auf die Behandlung von Früh- und Neugeborenen. Nach der Beschäftigung mit den Ursachen von Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten folgte die Ausbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Neurologie. Dort waren es die Wahrnehmungs- und Verhaltensstörungen und deren Behandlung, mit denen ich mich wissenschaftlich beschäftigte.

In der ambulanten Tätigkeit sind nun meine Arbeitsschwerpunkte die verschiedenen Ursachen von Schulversagen und deren Behandlung. Deshalb kommen auch viele Kinder und Jugendliche in meine Sprechstunde, die trotz sehr hoher Intelligenz und Anstrengung nicht den Anforderungen der Schule und des Lebens gerecht werden und darunter leiden.

Bei der Ursachensuche für Auffälligkeiten im Verhaltens- und Leistungsbereich sind folgende Leitfragen entscheidend: Was sind die Ursachen für selbst empfundenes Versagen sowohl im Leistungs- als auch im Verhaltensbereich und wie kann man den Betroffenen helfen? Wo liegen hier die Defizite und wie können diese verhindert werden? Warum profitieren die einen von ihrer Hochbegabung, während sie bei den anderen gar nicht erst vermutet wird?

2. Voraussetzungen für eine unbeeinträchtigte Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

Für eine störungsfreie Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind folgende Punkte entscheidend:

Kann das Kind oder der Jugendliche seine ihm angeborenen Fähigkeiten voll nutzen, führt der jedem Kind angeborene Drang zum Lernen zu Anerkennung und Erfolg. Dadurch wird das Kind motiviert, weiter zu lernen, um neue Erfolge zu haben. Aus dieser Spirale geht ein sicheres Selbstvertrauen für die eigene Leistungsfähigkeit hervor. Ein solches Kind entwickelt keine Versagensängste, da es, wenn es etwas nicht kann, übt oder lernt. Ein Kind, dem diese Überzeugung jedoch aufgrund negativer Erfahrungen fehlt, beginnt im Laufe der Zeit immer mehr an sich und seinen Fähigkeiten zu zweifeln und gerät bei den geringsten Anforderungen schon in Stress. Es weiß und spürt, dass es das von ihm Geforderte nicht bewältigen kann.

Leistungsfähigkeit wird durch Versagensangst blockiert, da jeder Mensch seinen ganz persönlichen Anspruch an sich und seine Umwelt entwickelt.

Wie aber können die angeborenen und erworbenen Fähigkeiten auch optimal genutzt werden, damit sie nicht verkümmern und es nicht zu Fehlentwicklung und Aggressivität kommt? Warum versagen hochbegabte Kinder und Jugendliche in der Schule und welchen Einfluss nimmt das auf ihre psychische Entwicklung?

Mit diesen Fragen möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen.

3. Die Eltern und ihr Erziehungsstil

Eine noch so hohe Intelligenz reicht also nicht aus, um im Leben erfolgreich zu sein. Was aber ist es dann?

Kinder, die von psychisch instabilen, unsicheren und inkonsequenten Eltern erzogen werden, entwickeln sich oft zu egoistischen Tyrannen. Negative Erinnerungen an die eigene Kindheit veranlassen solche Eltern, bei den eigenen Kindern alles anders und besser machen zu wollen. Doch häufig erreichen sie mit ihrem verwöhnenden Erziehungsstil genau das Gegenteil. Wollen sich Eltern aus Büchern und Zeitschriften informieren, wie man „richtig“ erzieht, so werden sie meist noch mehr verunsichert, da es immer wieder neue „Theorien“ über die „richtige“ Kindererziehung gibt. Manchmal gleicht Erziehung mehr einem Experimentieren, weil den Eltern nicht klar ist, was Erziehung eigentlich bedeutet und wie sie erfolgreich sein kann.

Eine gute Erziehung lässt sich an der sozialen Kompetenz, der Zuverlässigkeit, der Leistungsbereitschaft, der Selbständigkeit und der Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen der zu Erziehenden messen.

Auch die verantwortlichen Berater für Bildungspolitik und Erziehungswissenschaften tragen zu keiner Klärung bei, sondern verunsichern die Eltern durch immer neue Ideen und Theorien von „Spezialisten“.

Eine gute Erziehungs- und Bildungspolitik wird immer am Kenntnisstand und am Sozialverhalten der Kinder und Jugendlichen gemessen. Dabei ist die eigentliche Ursache mangelnder Bildung nicht primär bei den Kindern und Jugendlichen zu suchen, sondern bei der Vermittlung von Bildung, der Vorbildfunktion der Erwachsenen und den Anforderungen, die an die Kinder gestellt werden.

4. Hochbegabung kann Probleme bereiten

a) Jan, 9 Jahre alt, unkonzentriert, überempfindlich, impulsiv, mit Schulproblemen

Jan ist 9 Jahre alt und besucht die 4. Klasse. Aufgrund seiner geistigen Entwicklung – er war den Gleichaltrigen weit voraus und langweilte sich im Kindergarten – wurde er mit fünf Jahren auf Empfehlung des Kindergartens eingeschult. Von der Schule ist Jan zunächst begeistert und gehört zu den Besten seiner Klasse. Allerdings werden die Hausaufgaben immer mehr zum Problem. Jan kann und will einfach nicht anfangen, die Hausaufgaben zu erledigen und schreibt sehr schlecht. Er ist mit sich sehr unzufrieden, weint schnell, schreit viel, kann sich nicht beruhigen und braucht stundenlang, bis die Aufgaben endlich fertig sind. Deshalb veranlasst die Mutter eine Überprüfung der Intelligenz, die ergibt, dass Jan ein hochbegabtes Kind ist. Mangelnde Intelligenz kann also nicht die Ursache für die zunehmenden Probleme sein, die Jan bei der Erledigung der Hausaufgaben hat. Trotzdem zweifelt sie, ob die vorzeitige Einschulung wirklich richtig war und bangt, ob er so das Gymnasium schaffen kann.

In der Schule selbst hat Jan keinerlei Probleme, seine strenge Lehrerin mag er sehr. Sie sieht auch über seine „krakelige“ Schrift hinweg, weil sie spürt, dass Jan sich zwar bemüht, es aber nicht besser kann. Sie bemerkt auch, dass Jan trotz seines großen Allgemeinwissens, seiner schnellen Auffassungsgabe und seiner rechnerischen Fähigkeiten leicht ablenkbar, zeitweilig auch sehr unkonzentriert und sehr empfindlich ist. Sie befürchtet, dass das im Gymnasium für Jan zum Problem werden könnte und empfiehlt der Mutter, Jan deshalb untersuchen zu lassen.

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Auf die Frage, was ihr Sorgen bereitet, berichtet die Mutter von Jan: Jan könne sich nur sehr schwer mit sich selbst beschäftigen. Früher habe er stundenlang mit Legosteinen gebaut und heute könne er lange fernsehen, aber er brauche immer ein Gegenüber, das sich mit ihm beschäftigt und mit dem er reden kann.

Auch könne er nicht längere Zeit ruhig sitzen und anderen zuhören. Dann werde er übermäßig nervös, pule an den Fingernägeln und klage schnell über Langeweile. Wenn er etwas Interessantes über sich zu erzählen habe, spreche er stets sehr schnell und ohne Pausen. Manchmal stammele er dann, da er schneller denke, als er sprechen kann. Wenn er sehr aufgeregt sei, bekäme er nervöse Zuckungen im Gesicht und im Schulterbereich.

Manchmal sei er schnell verunsichert. So habe er Angst im Dunkeln und wenn die Eltern mit dem Auto wegfahren. Das passe gar nicht zu seinem sonst eher bestimmenden Verhalten anderen Kindern gegenüber, wo er sich als Boss fühle.

Mit drei bis vier Jahren habe er auf dem Spielplatz lieber alleine gespielt. Er habe damals schon der Bestimmende sein wollen, habe sich aber gegenüber lebhaften und fremden Kindern nicht durchsetzen können. Bei Streitigkeiten sei er oft der Unterlegene gewesen, er habe sich nicht verteidigen können und sei weinend und gekränkt weggelaufen.

z.B.