Frank Wedekind

Erdgeist

Tragödie in vier Aufzügen

 

 

 

Frank Wedekind: Erdgeist. Tragödie in vier Aufzügen

 

Vollständige Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Gustave Courbet, Die Sehende, 1855

 

ISBN 978-3-8430-5736-3

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-4255-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-4256-7 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden 1892/95, Erstdruck: München (Langen) 1895. Uraufführung am 25.2.1898 in Leipzig.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Hahn, Berlin und Weimar: Aufbau, 1969.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Personen

Medizinalrat Dr. Goll.

 

Dr. Schön, Chefredakteur.

 

Alwa, sein Sohn.

 

Schwarz, Kunstmaler.

 

Prinz Escerny, Afrikareisender.

 

Schigolch.

 

Rodrigo, Artist.

 

Hugenberg, Gymnasiast.

 

Escherich, Reporter.

 

Lulu.

 

Gräfin Geschwitz, Malerin.

 

Ferdinand, Kutscher.

 

Henriette, Zimmermädchen.

 

Ein Bedienter.

 

Die Rolle Hugenberg wird von einem Mädchen gespielt.

 

Rechts und links vom Schauspieler.[234]

 

Prolog

Ein Tierbändiger tritt, nachdem der aufgezogene Vorhang einen Zelteingang hat sichtbar werden lassen, in zinnoberrotem Frack, weißer Krawatte, langen schwarzen Locken, weißen Beinkleidern und Stulpstiefeln, in der Linken eine Hetzpeitsche, in der Rechten einen geladenen Revolver, unter Zimbelklängen und Paukenschlägen aus dem Zelt.

 

Hereinspaziert in die Menagerie,

Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust'gen Frauen,

Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen

Die unbeseelte Kreatur zu schauen,

Gebändigt durch das menschliche Genie.

Hereinspaziert, die Vorstellung beginnt! –

Auf zwei Personen kommt umsonst ein Kind.

 

Hier kämpfen Tier und Mensch im engen Gitter,

Wo jener höhnend seine Peitsche schwingt

Und dieses, mit Gebrüll wie Ungewitter,

Dem Menschen mörderisch an die Kehle springt;

Wo bald der Kluge, bald der Starke siegt,

Bald Mensch, bald Tier geduckt am Estrich liegt;

Das Tier bäumt sich, der Mensch auf allen vieren!

Ein eisig kalter Herrscherblick –

Die Bestie beugt entartet das Genick

Und läßt sich fromm die Ferse drauf postieren.

 

Schlecht sind die Zeiten! – All die Herrn und Damen,

Die einst vor meinem Käfig sich geschart,

Beehren Possen, Ibsen, Opern, Dramen

Mit ihrer hochgeschätzten Gegenwart.

An Futter fehlt es meinen Pensionären,

So daß sie gegenseitig sich verzehren.

Wie gut hat's am Theater ein Akteur!

Des Fleischs auf seinen Rippen ist er sicher,

Sei auch der Hunger ein ganz fürchterlicher[235]

Und des Kollegen Magen noch so leer. –

Doch will man Großes in der Kunst erreichen,

Darf man Verdienst nicht mit dem Lohn vergleichen.

 

Was seht ihr in den Lust- und Trauerspielen?! –

Haustiere, die so wohlgesittet fühlen,

An blasser Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen

Und schwelgen in behaglichem Geplärr,

Wie jene andern – unten im Parterre:

Der eine Held kann keinen Schnaps vertragen,

Der andre zweifelt, ob er richtig liebt,

Den dritten hört ihr an der Welt verzagen,

Fünf Akte lang hört ihr ihn sich beklagen,

Und niemand, der den Gnadenstoß ihm gibt. –

Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier,

Das – meine Damen! – sehn Sie nur bei mir.

 

Sie sehen den Tiger, der gewohnheitsmäßig,

Was in den Sprung ihm läuft, hinunterschlingt;

Den Bären, der, von Anbeginn gefräßig,

Beim späten Nachtmahl tot zu Boden sinkt;

Sie sehn den kleinen amüsanten Affen

Aus Langeweile seine Kraft verpaffen;

Er hat Talent, doch fehlt ihm jede Größe,

Drum kokettiert er frech mit seiner Blöße;

Sie sehn in meinem Zelte, meiner Seel,

Sogar gleich hinterm Vorhang ein Kamel! –

Und sanft schmiegt das Getier sich mir zu Füßen,

Wenn

 

Er schießt ins Publikum.

 

donnernd mein Revolver knallt.

Rings bebt die Kreatur; ich bleibe kalt –

Der Mensch bleibt kalt! – Sie ehrfurchtsvoll zu grüßen.

 

Hereinspaziert! – Sie traun sich nicht herein? –

Wohlan, Sie mögen selber Richter sein!

Sie sehn auch das Gewürm aus allen Zonen:

Chamäleone, Schlangen, Krokodile,

Drachen und Molche, die in Klüften wohnen.

Gewiß, ich weiß, Sie lächeln in der Stille[236]

Und glauben mir nicht eine Silbe mehr –

 

Er lüftet den Türvorhang und ruft in das Zelt.

 

He, Aujust! Bring mir unsre Schlange her!

 

Ein schmerbäuchiger Arbeiter trägt die Darstellerin der Lulu in ihrem Pierrotkostüm aus dem Zelt und setzt sie vor dem Tierbändiger nieder.

 

Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften,

Zu locken, zu verführen, zu vergiften –

Zu morden, ohne daß es einer spürt.

 

Lulu am Kinn krauend.

 

Mein süßes Tier, sei ja nur nicht geziert!

Nicht albern, nicht gekünstelt, nicht verschroben,

Auch wenn die Kritiker dich weniger loben.

Du hast kein Recht, uns durch Miaun und Fauchen

Die Urgestalt des Weibes zu verstauchen,

Durch Faxenmachen uns und Fratzenschneiden

Des Lasters Kindereinfalt zu verleiden!

Du sollst – drum sprech ich heute sehr ausführlich –

Natürlich sprechen und nicht unnatürlich!

Denn erstes Grundgesetz seit frühster Zeit

In jeder Kunst war Selbstverständlichkeit!

 

Zum Publikum.

 

Es ist jetzt nichts Besondres dran zu sehen,

Doch warten Sie, was später wird geschehen:

 

Mit starkem Druck umringelt sie den Tiger;

Er heult und stöhnt! – Wer bleibt am Ende Sieger?! –

Hopp, Aujust! Marsch! Trag sie an ihren Platz –

 

Der Arbeiter nimmt Lulu quer auf die Arme; der Tierbändiger tätschelt ihr die Hüften.

 

Die süße Unschuld – meinen größten Schatz!

 

Der Arbeiter trägt Lulu ins Zelt zurück.

 

Und nun bleibt noch das Beste zu erwähnen:

Mein Schädel zwischen eines Raubtiers Zähnen.

Hereinspaziert! Das Schauspiel ist nicht neu,

Doch seine Freude hat man stets dabei.[237]

Ich wag es, ihm den Rachen aufzureißen,

Und dieses Raubtier wagt nicht zuzubeißen.

So schön es ist, so wild und buntgefleckt,

Vor meinem Schädel hat das Tier Respekt!

Getrost leg ich mein Haupt ihm in den Rachen;

Ein Witz – und meine beiden Schläfen krachen!

Dabei verzicht ich auf des Auges Blitz;

Mein Leben setz ich gegen einen Witz;

Die Peitsche werf ich fort und diese Waffen

Und geb mich harmlos, wie mich Gott geschaffen. –

Wißt ihr den Namen, den dies Raubtier führt? – –

Verehrtes Publikum – – Hereinspaziert!!

 

Der Tierbändiger tritt unter Zimbelklängen und Paukenschlägen in das Zelt zurück.[238]

 

Erster Aufzug

Geräumiges Atelier. – Rechts hinten Entreetür, rechts vorn Seitentür zum Schlafkabinett. In der Mitte ein Podium. Hinter dem Podium eine spanische Wand. Vor dem Podium ein Smyrnateppich. Links vorn zwei Staffeleien. Auf der hinteren das Brustbild eines jungen Mädchens. Gegen die vordere lehnt eine umgekehrte Leinwand. Vor den Staffeleien, etwas gegen die Mitte vorn, eine Ottomane. Darüber ein Tigerfell. Rechts an der Wand zwei Sessel. Im Hintergrund eine Trittleiter.

 

Erster Auftritt

Schwarz und Schön.

 

SCHÖN auf dem Fußende der Ottomane sitzend, mustert das Brustbild auf der hinteren Staffelei. Wissen Sie, daß ich die Dame von einer ganz neuen Seite kennenlerne?

SCHWARZ Pinsel und Palette in der Hand, steht hinter der Ottomane. Ich habe noch niemanden gemalt, bei dem der Gesichtsausdruck so ununterbrochen wechselte. – Es war mir kaum möglich, einen einzigen Zug dauernd festzuhalten.

SCHÖN auf das Bild deutend, ihn ansehend. Finden Sie das darin?

SCHWARZ. Ich habe das Erdenklichste getan, um durch meine Unterhaltung während der Sitzungen wenigstens etwas Ruhe in der Stimmung hervorzurufen.

SCHÖN. Dann verstehe ich den Unterschied.

SCHWARZ taucht den Pinsel ins Ölnäpfchen und überstreicht die Gesichtszüge.

SCHÖN. Glauben Sie, es wird dadurch ähnlicher?

SCHWARZ. Man kann nicht mehr tun, als es mit der Kunst so gewissenhaft wie möglich nehmen.[239]

SCHÖN. Sagen Sie mal ...

SCHWARZ zurücktretend. Die Farbe ist auch wieder etwas eingeschlagen.

SCHÖN ihn ansehend. Haben Sie jemals in Ihrem Leben ein Weib geliebt?

SCHWARZ geht auf die Staffelei zu, setzt eine Farbe auf und tritt auf der anderen Seite zurück. Der Stoff ist noch nicht genügend abgehoben. Man sieht noch nicht recht, daß ein lebender Körper darunter ist.

SCHÖN. Ich zweifle nicht daran, daß die Arbeit gut ist.

SCHWARZ. Wenn Sie hierhertreten wollen.

SCHÖN sich erhebend. Sie müssen ihr wahre Schauergeschichten erzählt haben.

SCHWARZ. So weit wie möglich zurück.

SCHÖN zurücktretend, stößt die an die vordere Staffelei gelehnte Leinwand um. Pardon ...

SCHWARZ den Rahmen aufhebend. O bitte ...

SCHÖN betroffen. Was ist das ...

SCHWARZ. Kennen Sie sie?

SCHÖN. Nein.

SCHWARZ setzt das Bild auf die Staffelei. Man sieht eine Dame als Pierrot gekleidet mit einem hohen Schäferstab in der Hand. Ein Kostümbild.

SCHÖN. Die ist Ihnen aber gelungen.

SCHWARZ. Sie kennen sie?

SCHÖN. Nein. Und in dem Kostüm?

SCHWARZ. Es fehlt noch die ganze Ausführung.

SCHÖN. Na ja.

SCHWARZ. Was wollen Sie. Während sie mir steht, habe ich das Vergnügen, ihren Mann zu unterhalten.

SCHÖN. Sagen Sie ...

SCHWARZ. Über Kunst natürlich, um mein Glück zu vervollständigen.

SCHÖN. Wie kommen Sie denn zu der reizenden Bekanntschaft?

SCHWARZ. Wie man dazu kommt. Ein steinalter, wackliger Knirps fällt mir hier herein, ob ich seine Frau malen könne. Nun natürlich, und wenn sie runzlig wie Mutter Erde ist. Andern Tags Punkt zehn fliegen die Türen auf, und der Schmerbauch treibt dies Engelskind vor sich her. Ich fühle jetzt noch, wie mir die Knie schwankten. Ein[240] stocksteifer, saftgrüner Lakai mit einem Paket unter dem Arm. Wo die Garderobe sei. Denken Sie sich meine Lage. Ich öffne die Tür da. Nach rechts deutend. Nur ein Glück, daß schon alles in Ordnung war. Das süße Geschöpf huscht hinein, und der Alte postiert sich als Schanzkorb davor. Zwei Minuten darauf tritt sie in diesem Pierrot heraus. Den Kopf schüttelnd. Ich habe nie so was gesehen.

 

Geht nach rechts und starrt an die Schlafzimmertür hin.

 

SCHÖN der ihm mit dem Blick gefolgt. Und der Schmerbauch steht Schildwache?

SCHWARZ sich umwendend. Der ganze Körper im Einklang mit dem unmöglichen Kostüm, als wäre er darin zur Welt gekommen. Ihre Art, die Ellbogen in die Taschen zu vergraben, die Füßchen vom Teppich zu heben – mir schießt oft das Blut zu Kopf ...

SCHÖN. Das sieht man dem Bild an.

SCHWARZ kopfschüttelnd. Unsereiner, wissen Sie ...

SCHÖN. Hier führt das Modell die Konversation.

SCHWARZ. Sie hat den Mund noch nicht aufgetan.

SCHÖN. Ist's möglich!

SCHWARZ. Erlauben Sie, daß ich Ihnen das Kostüm zeige.

 

Nach rechts ab.

 

SCHÖN allein, vor dem Pierrot. Eine Teufelsschönheit. Vor dem Brustbild. Hier ist mehr Fond. Nach vorn kommend. Er ist noch etwas jung für sein Alter.

SCHWARZ kommt mit einem weißen Atlaskostüm zurück. Was das für Stoff sein mag?

SCHÖN den Stoff befühlend. Atlas.

SCHWARZ. Und alles in einem Stück.

SCHÖN. Wie kommt man denn da hinein?

SCHWARZ. Das kann ich Ihnen nicht sagen.

SCHÖN das Kostüm bei den Beinen nehmend. Diese riesigen Hosenpfeifen!

SCHWARZ. Die linke rafft sie hinauf.

SCHÖN auf das Bild sehend. Bis übers Knie!

SCHWARZ. Sie macht das zum Entzücken.

SCHÖN. Und transparente Strümpfe?

SCHWARZ. Die wollen nämlich, gemalt sein.

SCHÖN. Oh, das können Sie.[241]

SCHWARZ. Dabei von einer Koketterie!

SCHÖN. Wie kommen Sie auf den entsetzlichen Verdacht?

SCHWARZ. Es gibt Dinge, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt.

 

Trägt das Kostüm in sein Schlafzimmer.

 

SCHÖN allein. Wenn man schläft ...

SCHWARZ kommt zurück, sieht nach der Uhr. Wenn Sie übrigens ihre Bekanntschaft machen wollen ...

SCHÖN. Nein.

SCHWARZ. Sie müssen im Augenblicke hier sein.

SCHÖN. Wie oft wird denn die Dame noch sitzen müssen?

SCHWARZ. Ich werde die Tantalusqual wohl noch ein Vierteljahr zu erdulden haben.

SCHÖN. Ich meine die andere.

SCHWARZ. Entschuldigen Sie. Dreimal höchstens. Ihn zur Tür geleitend. Wenn mir die Dame dann nur ihre Taille dalassen will.

SCHÖN. Mit Vergnügen. Lassen Sie sich bald wieder bei mir sehen. Stößt in der Tür auf Dr. Goll und Lulu. In Gottes Namen![242]

 

Zweiter Auftritt

Dr. Goll. Lulu. Die Vorigen.

 

SCHWARZ. Darf ich vorstellen ...

GOLL zu Schön. Was treiben denn Sie hier?

SCHÖN Lulu die Hand küssend. Frau Medizinalrat.

LULU. Sie wollen doch nicht schon gehen?

GOLL. Welcher Wind führt denn Sie hierher?

SCHÖN. Ich habe mir das Bild meiner Braut angesehen.

LULU nach vorn kommend. Ihre Braut ist hier?

GOLL. Sie lassen hier also auch arbeiten?

LULU vor dem Brustbild. Sieh da! Bezaubernd! Entzückend!

GOLL sich umsehend. Sie halten sie wohl hier irgendwo versteckt?

LULU. Das ist also das süße Wunderkind, das Sie zu einem Menschen gemacht ...[242]

SCHÖN. Sie sitzt meistens am Nachmittag.

GOLL. Und davon erzählen Sie einem nichts?

LULU sich umwendend. Ist sie denn wirklich so ernst?

SCHÖN. Wohl noch die Nachwirkung der Pensionszeit, gnädige Frau.

GOLL vor dem Brustbild. Man sieht, daß Sie eine tiefgehende Wandlung durchgemacht haben.

LULU. Nun dürfen Sie sie aber auch nicht mehr länger warten lassen.

SCHÖN. In vierzehn Tagen denke ich unsere Verlobung bekanntzumachen.

GOLL zu Lulu. Laß uns keine Zeit verlieren. Hopp!

LULU zu Schön. Denken Sie, wir fuhren im Trab über die neue Kaibrücke. Ich habe selber kutschiert.

 

Schön will sich verabschieden.