Charlotte Brontë

Jane Eyre

Eine Autobiografie

Charlotte Brontë

Jane Eyre

Eine Autobiografie

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
Übersetzung: Maria von Borch
EV: Reclam, Leipzig, 1918
3. Auflage, ISBN 978-3-954180-19-6

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Inhaltsverzeichnis

Au­to­rin und Werk

Ers­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

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Autorin und Werk

Char­lot­te Brontë (✳ 21.04.1816 in Thorn­ton, Yorks­hi­re; † 31.03.1855 in Ha­worth, Yorks­hi­re), ist die äl­tes­te der drei au­ßer­ge­wöhn­li­chen Schrift­stel­ler-Schwes­tern Emi­ly Jane, Anne und Char­lot­te. Sie ver­öf­fent­lich­te ihre Ro­ma­ne un­ter dem Pseud­onym Cur­rer Bell.

Char­lot­te Brontë wird als drit­tes Kind des iri­schen Pfar­rers Pa­trick Brontë und sei­ner Frau Ma­ria, geb. Bran­well, ge­bo­ren. Ge­mein­sam mit ih­ren drei jün­ge­ren Ge­schwis­tern Pa­trick Bran­well, Emi­ly Jane und Anne be­ginnt sie schon als Kind zu schrei­ben und ver­fasst zahl­rei­che win­zi­ge Heft­chen und Fan­ta­sie­ges­chich­ten.

Die Kin­der wer­den meist da­heim un­ter­rich­tet und be­su­chen die Schu­le nur kurz.

1835 tritt Char­lot­te eine Stel­le als Leh­re­rin an. 1842 be­sucht sie zu­sam­men mit ih­rer Schwes­ter Emi­ly das Brüs­se­ler »Pen­sion­nat de De­moi­sel­les« in der Ab­sicht dort ihr Fran­zö­sisch zu ver­bes­sern. Sie plant eine ei­ge­ne Mäd­chen­schu­le zu er­öff­nen, muss aber das Pro­jekt we­gen man­geln­der Nach­fra­ge auf­ge­ben.

Zu­sam­men mit ih­ren Schwes­tern gibt sie un­ter den (männ­li­chen) Pseud­ony­men El­lis (Emi­ly), Ac­ton (Anne) und Cur­rer (Char­lot­te) Bell einen Ge­dicht­band her­aus, der nicht sehr er­folg­reich ver­kauft wird.

Auch Char­lot­tes ers­ter Ro­man »The Pro­fes­sor« über ihre ei­ge­ne un­er­wi­der­te Lie­be zu ei­nem ver­hei­ra­te­ten Mann fin­det zu ih­ren Leb­zei­ten kei­nen Ver­le­ger.

1847 end­lich ist das Jahr der 3 Schwes­tern. Jede bringt einen Ro­man her­aus – und »die Bells« sind mit ei­nem Mal be­kannt. Wäh­rend Kri­tik und Pub­li­kum Char­lot­tes »Jane Eyre« fei­ern, rea­giert man auf Emi­lys »Die Sturm­hö­he« (»Wuthe­ring Heights«) mit ge­misch­ten Ge­füh­len, zu ge­wagt und mys­te­ri­ös wirkt die­se Ge­schich­te. An­nes Ro­man »Ag­nes Grey« gilt zu­nächst nur als leich­te und un­ter­halt­sa­me Lek­tü­re.

Man ver­mu­tet einen männ­li­chen Ur­he­ber hin­ter »Jane Eyre« und ist sehr über­rascht, als sich der Au­tor als Frau ent­puppt. Char­lot­te wird in die li­te­ra­ri­schen Krei­se Lon­d­ons ein­ge­führt und ge­niest eine kur­ze Zeit des Ruhms. Ihre Bü­cher er­schei­nen wei­ter­hin un­ter Pseud­onym.

1854 hei­ra­tet sie Ar­thur Bell Ni­cholls, den Hilfs­pfar­rer ih­res Va­ters. Am Kar­sams­tag 1855 stirbt sie – laut To­ten­schein an Tu­ber­ku­lo­se – ver­mut­lich je­doch an »Hy­pereme­sis gra­vi­da­rum« (schwan­ger­schafts­be­ding­te Stoff­wech­sel­stö­rung).

Al­len Ge­schwis­tern ist nur ein kur­z­es Le­ben be­schert. Der Bru­der Pa­trick Bran­well, ein ta­len­tier­ter Ma­ler und Dich­ter, stirbt ver­mut­lich an den Fol­gen des Al­ko­ho­lis­mus 1848 im Al­ter von 37 Jah­ren, Emi­ly Jane stirbt eben­falls 1848 mit 30 eben­so wie die Jüngs­te, Anne ein Jahr dar­auf, 1849, im Al­ter von 29 Jah­ren an den Fol­gen der Tu­ber­ku­lo­se.

Char­lot­te Brontës letz­ter Ro­man »Emma« bleibt un­voll­en­det und er­scheint 1860 po­stum zu­sam­men in ei­ner Aus­ga­be ih­res Erst­lings­werk »The Pro­fes­sor«.

Erster Teil

Erstes Kapitel

Es war ganz un­mög­lich, an die­sem Tage einen Spa­zier­gang zu ma­chen. Am Mor­gen wa­ren wir al­ler­dings wäh­rend ei­ner gan­zen Stun­de in den blät­ter­lo­sen, jun­gen An­pflan­zun­gen um­her­ge­wan­dert; aber seit dem Mit­ta­ges­sen – Mrs. Reed speis­te stets zu frü­her Stun­de, wenn kei­ne Gäs­te zu­ge­gen wa­ren – hat­te der kal­te Win­ter­wind so düs­te­re, schwe­re Wol­ken und einen so durch­drin­gen­den Re­gen her­auf­ge­weht, dass von wei­te­rer Be­we­gung in fri­scher Luft nicht mehr die Rede sein konn­te.

Ich war von Her­zen froh dar­über: lan­ge Spa­zier­gän­ge, be­son­ders an fros­ti­gen Nach­mit­tagen, wa­ren mir stets zu­wi­der: – ein Greu­el war es mir, in der rau­en Däm­mer­stun­de nach Hau­se zu kom­men, mit fast er­fro­re­nen Hän­den und Fü­ßen, – mit ei­nem Her­zen, das durch das Schel­ten Bes­sie’s, der Kin­der­wär­te­rin, bis zum Bre­chen schwer war, – ge­de­mü­tigt durch das Be­wusst­sein, phy­sisch so tief un­ter Eli­za, John und Ge­or­gi­na Reed zu ste­hen.

Die so­eben er­wähn­ten Eli­za, John und Ge­or­gi­na hat­ten sich in die­sem Au­gen­blick im Sa­lon um ihre Mama ver­sam­melt: die­se ruh­te auf ei­nem Sofa in der Nähe des Ka­mins und um­ge­ben von ih­ren Lieb­lin­gen, die zu­fäl­li­ger­wei­se in die­sem Mo­ment we­der zank­ten noch schri­en, sah sie voll­kom­men glück­lich aus. Mich hat­te sie da­von dis­pen­siert, mich der Grup­pe an­zu­schlie­ßen, in­dem sie sag­te, dass es sie tief un­glück­lich ma­che, ge­zwun­gen zu sein, mich fern zu hal­ten; dass sie mich aber von Vor­rech­ten aus­schlie­ßen müs­se, zu de­ren Ge­nuss nur zu­frie­de­ne, glück­li­che, klei­ne Kin­der be­rech­tigt sei­en, und dass sie mir erst ver­zei­hen wür­de, wenn sie so­wohl durch ei­ge­ne Wahr­neh­mung wie durch Bes­sie’s Wor­te zu der Über­zeu­gung ge­langt sein wür­de, dass ich in al­lem Ernst ver­su­che, mir an­zie­hen­de­re und freund­li­che­re Ma­nie­ren, einen kind­li­che­ren, ge­sel­li­ge­ren Cha­rak­ter – ein leich­te­res, of­fen­her­zi­ge­res, na­tür­li­che­res Be­neh­men an­zu­eig­nen.

»Was sagt denn Bes­sie, dass ich ge­tan habe?« frag­te ich.

»Jane, ich lie­be we­der Spitz­fin­dig­kei­ten noch Fra­gen; au­ßer­dem ist es gra­de­zu wi­der­lich, wenn ein Kind äl­te­re Leu­te in die­ser Wei­se zur Rede stellt. Au­gen­blick­lich set­zest du dich ir­gend­wo hin und schweigst, bis du freund­li­cher und lie­bens­wür­di­ger re­den kannst.«

An das Wohn­zim­mer stieß ein klei­nes Früh­stücks­zim­mer: ich schlüpf­te hin­ein. Hier stand ein großer Bü­cher­schrank. Bald hat­te ich mich ei­nes großen Ban­des be­mäch­tigt, nach­dem ich mich zu­erst vor­sich­tig ver­ge­wis­sert hat­te, dass er Bil­der ent­hal­te. Ich stieg auf den Sitz in der Fens­ter­ver­tie­fung, zog die Füße nach und kreuz­te die Bei­ne wie ein Tür­ke; dann zog ich die dun­kel­ro­ten Moi­ree-Vor­hän­ge fest zu­sam­men und saß so in ei­nem dop­pel­ten Ver­steck.

Schar­lach­ro­te Dra­pe­ri­en schlos­sen mir die Aus­sicht zur rech­ten Hand; links be­fan­den sich die großen, kla­ren Fens­ter­schei­ben, die mich vor dem düs­tern No­vem­ber­tag wohl schütz­ten, mich aber nicht von ihm trenn­ten. In kur­z­en Zwi­schen­räu­men, wenn ich die Blät­ter mei­nes Bu­ches wen­de­te, fiel mein Blick auf das Bild die­ses win­ter­li­chen Nach­mit­tags. In der Fer­ne war nichts als ein blas­ser, lee­rer Ne­bel, Wol­ken; im Vor­der­grun­de der feuch­te, freie Platz vor dem Hau­se, vom Win­de ent­laub­te Ge­sträu­che, und ein un­auf­hör­li­cher vom Sturm wild­ge­peitsch­ter Re­gen.

Ich kehr­te zu mei­nem Bu­che zu­rück – Be­wicks Ge­schich­te von Eng­lands ge­fie­der­ten Be­woh­nern; im All­ge­mei­nen küm­mer­te ich mich we­nig um den ge­druck­ten Text des Wer­kes, und doch wa­ren da ei­ni­ge ein­lei­ten­de Sei­ten, wel­che ich, ob­gleich nur ein Kind, nicht gänz­lich über­ge­hen konn­te. Es wa­ren jene, die von den Ver­ste­cken der See­vö­gel han­del­ten, von je­nen ein­sa­men Fel­sen und Klip­pen, wel­che nur sie al­lein be­woh­nen, von der Küs­te Nor­we­gens, die von ih­rer äu­ßers­ten süd­li­chen Spit­ze, dem Lin­des­näs bis zum Nord­kap mit In­seln be­sä­et ist.


Wo der nörd­li­che Ozean, in wil­dem Wir­bel
Um die nack­ten, öden In­seln tobt
Des ul­ti­ma Thu­le; und das at­lan­ti­sche Meer
Sich stür­misch zwi­schen die He­bri­den wälzt.

Auch konn­te ich nicht un­be­ach­tet las­sen, was dort stand von den düs­te­ren Küs­ten Lap­p­lands, Si­bi­ri­ens, Spitz­ber­gens, No­va­zem­blas, Is­lands, Grön­lands, mit dem wei­ten Be­reich der ark­ti­schen Zone und je­nen ein­sa­men Re­gio­nen des öden Raums – je­nem Re­ser­voir von Eis und Schnee, wo fest ge­fro­re­ne Fel­der – die An­häu­fung von Jahr­hun­der­ten von Win­tern – al­pi­ne Hö­hen auf Hö­hen er­fro­ren, den Nord­pol um­ge­ben und die ver­viel­fach­te Stren­ge der äu­ßers­ten Käl­te kon­zen­trie­ren. Von die­sen to­des­wei­ßen Re­gio­nen mach­te ich mir mei­nen ei­ge­nen Be­griff: schat­ten­haft, wie all jene nur halb ver­stan­de­nen Ge­dan­ken, die ei­nes Kin­des Hirn kreu­zen, aber einen selt­sam tie­fen Ein­druck hin­ter­las­send. Die Wor­te die­ser ein­lei­ten­den Sei­ten ver­ban­den sich mit den dar­auf fol­gen­den Vig­net­ten und ga­ben al­len eine Be­deu­tung: je­nem Fel­sen, der aus ei­nem Meer von Wel­len und Wo­gen­schaum em­por­rag­te; dem zer­trüm­mer­ten Boo­te, das an trau­rig wüs­ter Küs­te ge­stran­det; dem kal­ten, geis­ter­haf­ten Mon­de, der durch düs­te­re Wol­ken­mas­sen auf ein sin­ken­des Wrack her­abblickt.

Ich weiß nicht mehr, mit wel­chem Emp­fin­den ich auf den stil­len, ein­sa­men Fried­hof mit sei­nem be­schrie­be­nen Lei­chen­stein sah, auf je­nes Tor, die bei­den Bäu­me, den nied­ri­gen Ho­ri­zont, der durch eine zer­fal­le­ne Mau­er be­grenzt war, auf die schma­le Mon­des­si­chel, de­ren Auf­gang die Stun­de der Abend­flut be­zeich­ne­te.

Die bei­den Schif­fe, wel­che auf re­gungs­lo­ser See von ei­ner Wind­stil­le be­fal­len wer­den, hielt ich für Meer­ge­spens­ter.

Über den Un­hold, wel­cher das Bün­del des Die­bes auf des­sen Rücken fest band, eil­te ich flüch­tig hin­weg; er war ein Ge­gen­stand des Schre­ckens für mich.

Und ein glei­ches Ent­set­zen flö­ßte mir das schwar­ze, ge­hörn­te Et­was ein, das hoch auf ei­nem Fel­sen saß und in wei­ter Fer­ne eine Men­schen­mas­se be­ob­ach­te­te, die einen Gal­gen um­gab.

Je­des Bild er­zähl­te eine Ge­schich­te: oft war die­se für mei­nen un­ent­wi­ckel­ten Ver­stand ge­heim­nis­voll, mei­nem un­be­stimm­ten Emp­fin­den un­ver­ständ­lich, – stets aber flö­ßte sie mir das tiefs­te In­ter­es­se ein: das­sel­be In­ter­es­se, mit wel­chem ich den Er­zäh­lun­gen Bes­sie’s horch­te, wenn sie zu­wei­len an Win­ter­aben­den in gu­ter Lau­ne war; dann pfleg­te sie ih­ren Plätt­tisch an das Ka­min­feu­er der Kin­der­stu­be zu brin­gen, er­laub­te uns, un­se­re Stüh­le an den­sel­ben zu rücken, und wäh­rend sie dann Mrs. Reeds Spit­zen­vo­lants bü­gel­te und die Spit­zen ih­rer Nacht­hau­ben kräu­sel­te, er­götz­te sie un­se­re Ohren mit Er­zäh­lun­gen von Lie­bes­gram und Aben­teu­ern aus al­ten Mär­chen und noch äl­te­ren Bal­la­den, oder – wie ich erst viel spä­ter ent­deck­te – aus den Blät­tern von Pa­me­la, und Hen­ry, Graf von Mo­re­land.

Mit Be­wick auf mei­nen Kni­en war ich da­mals glück­lich: glück­lich we­nigs­tens auf mei­ne Art. Ich fürch­te­te nichts als eine Un­ter­bre­chung, eine Stö­rung – und die­se kam nur zu bald. Die Tür zum Früh­stücks­zim­mer wur­de ge­öff­net.

»Bah, Frau Träu­me­rin!« er­tön­te John Reeds Stim­me; dann hielt er inne; au­gen­schein­lich war er er­staunt, das Zim­mer leer zu fin­den.

»Wo zum Teu­fel ist sie denn?« fuhr er fort, »Liz­zy! Ge­or­gy!« rief er sei­nen Schwes­tern zu, »Joan ist nicht hier. Sagt doch Mama, dass sie in den Re­gen hin­aus ge­lau­fen ist – das böse Tier!«

»Wie gut, dass ich den Vor­hang zu­sam­men­ge­zo­gen habe«, dach­te ich; und dann wünsch­te ich in­brüns­tig, dass er mein Ver­steck nicht ent­de­cken möge; John Reed selbst wür­de es auch nie­mals ent­deckt ha­ben; er war lang­sam, so­wohl von Be­grif­fen wie in sei­nem Wahr­neh­mungs­ver­mö­gen; aber Eli­za steck­te den Kopf zur Tür hin­ein und sag­te so­fort:

»Sie ist ge­wiss wie­der in die Fens­ter­ver­tie­fung ge­kro­chen, sieh nur nach, Jack.«

Ich trat so­fort her­aus, denn ich zit­ter­te bei dem Ge­dan­ken, dass der er­wähn­te Jack mich her­vor­zer­ren wür­de.

»Da bin ich, was wünscht Ihr?« frag­te ich mit schlecht er­heu­chel­ter Gleich­gül­tig­keit.

»Sag: was wün­schen Sie, Mr. Reed«, lau­te­te sei­ne Ant­wort. »Ich will, dass du hier­her kommst«, und in­dem er in ei­nem Lehn­stuhl Platz nahm, gab er mir durch eine Ges­te zu ver­ste­hen, dass ich nä­her kom­men und vor ihn tre­ten sol­le.

John Reed war ein Schul­jun­ge von vier­zehn Jah­ren; vier Jah­re äl­ter als ich, denn ich war erst zehn Jahr alt; groß und stark für sein Al­ter, mit ei­ner un­rei­nen, un­ge­sun­den Haut­far­be; große Züge in ei­nem brei­ten Ge­sicht, schwer­fäl­li­ge Glied­ma­ßen und große Hän­de und Füße. Ge­wöhn­lich pfleg­te er sich bei Ti­sche so voll­zupfrop­fen, dass er gal­lig wur­de; das mach­te sei­ne Au­gen trü­be und sei­ne Wan­gen schlaff. Ei­gent­lich hät­te er jetzt in der Schu­le sein müs­sen, aber sei­ne Mama hat­te ihn für ein bis zwei Mo­na­te nach Hau­se ge­holt »sei­ner zar­ten Ge­sund­heit we­gen«. Mr. Mi­les, der Di­rek­tor der Schu­le ver­si­cher­te, dass es ihm au­ßer­or­dent­lich gut ge­hen wür­de, wenn man ihm nur we­ni­ger Ku­chen und Lecker­bis­sen von Hau­se schi­cken woll­te; aber das Herz der Mut­ter em­pör­te sich bei ei­ner so roh aus­ge­spro­che­nen Mei­nung und neig­te mehr zu der fei­ne­ren und zar­te­ren An­sicht, dass Johns blass­gel­be Far­be von Übe­r­an­stren­gung beim Ler­nen und viel­leicht auch von Heim­weh her­rüh­re. –

John heg­te we­nig Lie­be für sei­ne Mut­ter und sei­ne Schwes­tern, und eine star­ke An­ti­pa­thie ge­gen mich. Er quäl­te und be­straf­te mich; nicht zwei- oder drei­mal in der Wo­che, nicht ein- oder zwei­mal am Tage, son­dern fort­wäh­rend und un­auf­hör­lich; je­der Nerv in mir fürch­te­te ihn, und je­der Zoll­breit Fleisch auf mei­nen Kno­chen schau­der­te und zuck­te, wenn er in mei­ne Nähe kam. Es gab Au­gen­bli­cke, wo der Schre­cken, den er mir ein­flö­ßte, mich ganz be­sin­nungs­los mach­te; denn ich hat­te nie­man­den, der mich ge­gen sei­ne Dro­hun­gen und sei­ne Tät­lich­kei­ten ver­tei­dig­te; die Die­ner­schaft wag­te es nicht, ih­ren jun­gen Her­ren zu be­lei­di­gen, in­dem sie für mich ge­gen ihn Par­tei er­griff, und Mrs. Reed war in die­sem Punk­te blind und taub: sie sah nie­mals, wenn er mich schlug, sie hör­te nie­mals, wenn er mich be­schimpf­te, ob­gleich er bei­des gar oft in ih­rer Ge­gen­wart tat: häu­fi­ger zwar noch hin­ter ih­rem Rücken.

Aus Ge­wohn­heit ge­horch­te ich John auch die­ses Mal und nä­her­te mich sei­nem Stuhl: un­ge­fähr zwei bis drei Mi­nu­ten brach­te er da­mit zu, mir sei­ne Zun­ge so weit ent­ge­gen­zu­stre­cken, wie er es ohne Ge­fahr für sei­ne Zun­gen­bän­der be­werk­stel­li­gen konn­te; ich fühl­te, dass er mich jetzt gleich schla­gen wür­de, und ob­gleich ich eine töd­li­che Angst vor dem Schla­ge emp­fand, ver­moch­te ich doch über die ekel­er­re­gen­de und häss­li­che Er­schei­nung des Bur­schen, der den­sel­ben aus­tei­len wür­de, mei­ne Be­trach­tun­gen an­zu­stel­len. Ich weiß nicht, ob er die­se Ge­dan­ken auf mei­nem Ge­sich­te las, denn plötz­lich, ohne ein Wort zu sa­gen, schlug er hef­tig und bru­tal auf mich los. Ich tau­mel­te; dann ge­wann ich das Gleich­ge­wicht wie­der und trat ei­ni­ge Schrit­te von sei­nem Stuhl zu­rück.

»Das ist für die Frech­heit, dass du vor ei­ner Wei­le ge­wagt hast, Mama eine Ant­wort zu ge­ben«, sag­te er, »und dass du ge­wagt hast, dich hin­ter den Vor­hang zu ver­krie­chen, und für den Blick, den ich vor zwei Mi­nu­ten in dei­nen Au­gen ge­wahr­te, du Rat­ze, du!«

An Johns Be­schimp­fun­gen ge­wöhnt, fiel es mir nie­mals ein, ir­gend et­was auf die­sel­ben zu er­wi­dern; ich dach­te nur dar­an, wie ich den Schlag er­tra­gen soll­te, der un­fehl­bar auf die Schimpf­wor­te fol­gen wür­de.

»Was hast du da hin­ter dem Vor­hange ge­macht?« frag­te er wei­ter.

»Ich habe ge­le­sen.«

»Zei­ge mir das Buch.«

Ich ging an das Fens­ter zu­rück und hol­te es von dort.

»Du hast kein Recht, un­se­re Bü­cher zu neh­men; du bist eine Un­ter­ge­be­ne, hat Mama ge­sagt; du hast kein Geld; dein Va­ter hat dir keins hin­ter­las­sen; ei­gent­lich soll­test du bet­teln und hier nicht mit den Kin­dern ei­nes Gent­le­man, wie wir es sind, zu­sam­men le­ben, und die­sel­ben Mahl­zei­ten es­sen wie wir, und Klei­der tra­gen, die un­se­re Mama dir kau­fen muss. Nun, ich wer­de dich leh­ren, zwi­schen mei­nen Bü­chern um­her­zu­stö­bern, denn sie ge­hö­ren mir, und das gan­ze Haus ge­hört mir, oder wird mir we­nigs­tens in ei­ni­gen Jah­ren ge­hö­ren. Geh und stell dich an die Tür; nicht vor den Spie­gel oder die Fens­ter.«

Ich tat, wie mir ge­hei­ßen, ohne eine Ah­nung von sei­ner Ab­sicht zu ha­ben; als ich aber ge­wahr­te, dass er das Buch em­por­hob und mit dem­sel­ben ziel­te, sprang ich in­stink­tiv zur Sei­te und stieß einen Schre­ckens­schrei aus; je­doch nicht schnell ge­nug; das Buch wur­de ge­schleu­dert, es traf mich, und ich fiel, in­dem ich mit dem Kopf ge­gen die Tür schlug und mich ver­letz­te. Die Wun­de blu­te­te, der Schmerz war hef­tig; mein Ent­set­zen war über den Hö­he­punkt hin­aus­ge­gan­gen; an­de­re Emp­fin­dun­gen be­mäch­tig­ten sich mei­ner.

»Du bö­ser, grau­sa­mer Bube!« schrie ich. »Du bist wie ein Mör­der – du bist wie ein Skla­ven­trei­ber – du bist wie die rö­mi­schen Kai­ser!«

Ich hat­te Golds­mit­hs Ge­schich­te Roms ge­le­sen und mir mei­ne ei­ge­ne An­sicht über Nero, Ca­li­gu­la und an­de­re ge­bil­det. Im Stil­len hat­te ich Ver­glei­che ge­zo­gen, wel­che laut zu äu­ßern al­ler­dings nie­mals mei­ne Ab­sicht ge­we­sen.

»Was! Was!« schrie er. »Hat sie das zu mir ge­sagt? Habt ihr es ge­hört, Eli­za und Ge­or­gi­na? Das will ich der Mama er­zäh­len! – Aber erst noch …«

Er stürz­te auf mich zu: ich fühl­te, wie er mein Haar und mei­ne Schul­ter fass­te; er kämpf­te mit ei­nem ver­zwei­fel­ten Ge­schöp­fe. Ich sah wirk­lich in ihm einen Ty­ran­nen, – einen Mör­der. Dann fühl­te ich, wie ein­zel­ne Bluts­trop­fen von mei­nem Kop­fe auf den Hals her­ab­fie­len, und emp­fand einen ste­chen­den Schmerz: die­se Emp­fin­dun­gen sieg­ten für den Au­gen­blick über die Furcht und ich trat ihm in wahn­sin­ni­ger Wut ent­ge­gen. Was ich mit mei­nen Hän­den tat, kann ich jetzt nicht mehr sa­gen, aber er schrie fort­wäh­rend »Rat­ze! Rat­ze!« und brüll­te aus Lei­bes­kräf­ten. Hil­fe war ihm nahe: Eli­za und Ge­or­gi­na wa­ren ge­lau­fen, um Mrs. Reed zu ho­len, die nach oben ge­gan­gen war. Jetzt er­schi­en sie auf der Sze­ne, und ihr folg­ten Bes­sie und ihre Kam­mer­jung­fer Ab­bot. Man trenn­te uns: dann ver­nahm ich die Wor­te:

»Du lie­be Zeit! Du lie­be Zeit! Welch eine Fu­rie, so auf Mr. John los­zu­stür­zen!«

»Hat man je­mals ein so lei­den­schaft­li­ches Ge­schöpf ge­se­hen!« –

Dann füg­te Mrs. Reed hin­zu:

»Führt sie in das rote Zim­mer und schließt sie dort ein.« Vier Hän­de be­mäch­tig­ten sich mei­ner so­fort und man trug mich nach oben.

Zweites Kapitel

Auf dem gan­zen Wege leis­te­te ich Wi­der­stand; dies war et­was Neu­es und ein Um­stand, der viel dazu bei­trug, Bes­sie und Miss Ab­bot in der schlech­ten Mei­nung zu be­stär­ken, wel­che die­se oh­ne­hin schon von mir heg­ten. Tat­sa­che ist, dass ich voll­stän­dig au­ßer mir war, wie die Fran­zo­sen zu sa­gen pfle­gen; ich wuss­te sehr wohl, dass die Em­pö­rung die­ses einen Au­gen­blicks mir schon au­ßer­ge­wöhn­li­che Stra­fen zu­ge­zo­gen ha­ben muss­te, und wie vie­le an­de­re re­bel­li­sche Skla­ven war ich in mei­ner Verzweif­lung fest ent­schlos­sen, bis ans Äu­ßers­te zu ge­hen.

»Hal­ten Sie ihre Arme, Miss Ab­bot; sie ist wie eine wil­de Kat­ze.«

»Schä­men Sie sich! Schä­men Sie sich!« rief die Kam­mer­jung­fer. »Welch ein ab­scheu­li­ches Be­tra­gen, Miss Eyre, einen jun­gen Gent­le­man zu schla­gen! Den Sohn Ih­rer Wohl­tä­te­rin! Ihren jun­gen Herrn!«

»Herr! Wie ist er mein Herr? Bin ich denn eine Die­ne­rin?«

»Nein. Sie sind we­ni­ger als eine Die­ne­rin, denn Sie tun nichts, Sie ar­bei­ten nicht für Ihren Un­ter­halt. Da! Set­zen Sie sich und den­ken Sie über Ihre Schlech­tig­keit und Bos­heit nach!«

In­zwi­schen hat­ten sie mich in das von Mrs. Reed be­zeich­ne­te Ge­mach ge­bracht und mich auf einen Stuhl ge­wor­fen; mein ers­ter Im­puls war, wie eine Sprung­fe­der wie­der von dem­sel­ben em­por zu schnel­len; vier Hän­de hiel­ten mich je­doch au­gen­blick­lich wie­der wie mit ei­ser­nen Klam­mern.

»Wenn Sie nicht still sit­zen, wer­den wir Sie fest­bin­den«, sag­te Bes­sie. »Miss Ab­bot, bor­gen Sie mir Ihre Strumpf­bän­der; die mei­nen wür­de sie au­gen­blick­lich zer­rei­ßen.«

Miss Ab­bot wand­te sich ab, um ein star­kes Bein von den not­wen­di­gen Ban­den zu be­frei­en. Die­se Vor­be­rei­tun­gen, um mir Fes­seln an­zu­le­gen, und die neue Schan­de, die dies für mich be­deu­te­te, diente dazu, mei­ne Auf­re­gung ein we­nig zu min­dern.

»Neh­men Sie sie nicht ab«, schrie ich, »ich wer­de ganz still sit­zen.«

Um ih­nen für dies Ver­spre­chen eine Ga­ran­tie zu bie­ten, hielt ich mich mit bei­den Hän­den an mei­nem Sitz fest.

»Das möch­te ich Ih­nen auch ra­ten«, sag­te Bes­sie; und als sie sich über­zeugt hat­te, dass ich wirk­lich an­fing, mich zu be­ru­hi­gen, ließ sie mich los; dann stell­ten sie und Miss Ab­bot sich mit ge­kreuz­ten Ar­men vor mich und blick­ten fins­ter und zwei­felnd in mein Ge­sicht, als glaub­ten sie nicht an mei­nen ge­sun­den Ver­stand.

»Das hat sie bis jetzt noch nie­mals ge­tan«, sag­te end­lich Bes­sie zu Abi­gail ge­wen­det.

»Aber es hat schon lan­ge in ihr ge­steckt«, lau­te­te die Ant­wort. »Ich habe der gnä­di­gen Frau schon oft mei­ne Mei­nung über das Kind ge­sagt, und sie hat mir auch bei­ge­stimmt. Sie ist ein ver­steck­tes, klei­nes Ding: ich habe noch nie ein Mäd­chen in ih­rem Al­ter ge­se­hen, das so schlau wäre.«

Bes­sie ant­wor­te­te nicht; nach ei­ner Wei­le wand­te sie sich zu mir und sag­te:

»Fräu­lein, Sie soll­ten doch wis­sen, dass Sie Mrs. Reed ver­pflich­tet sind, sie er­hält Sie. Wenn sie Sie fort­schick­te, so müss­ten Sie ins Ar­men­haus ge­hen.«

Auf die­se Wor­te fand ich nichts zu er­wi­dern; sie wa­ren mir nicht mehr neu; so weit ich in mei­nem Le­ben zu­rück­den­ken konn­te, hat­te ich Win­ke des­sel­ben In­halts ge­hört. Die­ser Vor­wurf mei­ner Ab­hän­gig­keit war in mei­nen Ohren fast zum lee­ren, be­deu­tungs­lo­sen Sings­ang ge­wor­den, sehr schmerz­lich und be­drückend, aber nur halb ver­ständ­lich. Nun fiel auch Miss Ab­bot ein:

»Und Sie soll­ten auch nicht den­ken, dass Sie mit den Fräu­lein Reed und Mr. Reed auf glei­cher Stu­fe ste­hen, weil Mrs. Reed Ih­nen gü­tig er­laubt, mit ih­ren Kin­dern er­zo­gen zu wer­den. Die­se wer­den ein­mal ein großes Ver­mö­gen ha­ben, und Sie sind arm. Sie müs­sen de­mü­tig und be­schei­den sein und ver­su­chen, sich den an­de­ren an­ge­nehm zu ma­chen.«

»Was wir Ih­nen sa­gen, ist zu Ihrem Bes­ten«, füg­te Bes­sie hin­zu, ohne in har­tem Ton zu re­den, »Sie soll­ten ver­su­chen, sich nütz­lich und an­ge­nehm zu ma­chen, dann wür­den Sie hier viel­leicht eine Hei­mat fin­den; wenn Sie aber hef­tig und roh und un­ge­zo­gen wer­den, so wird Mrs. Reed Sie fort­schi­cken, da­von bin ich fest über­zeugt.«

»Au­ßer­dem«, sag­te Miss Ab­bot, »wird Gott Sie stra­fen. Er könn­te Sie mit­ten in Ihrem Trotz tot zu Bo­den fal­len las­sen, und wo­hin kämen Sie dann? Kom­men Sie, Bes­sie, wir wol­len sie al­lein las­sen: um kei­nen Preis der Welt möch­te ich ihr Herz ha­ben. Sa­gen Sie Ihr Ge­bet, Miss Eyre, wenn Sie al­lein sind; denn wenn Sie nicht be­reu­en, könn­te et­was Schreck­li­ches durch den Ka­min her­un­ter­kom­men und Sie ho­len.«

Sie gin­gen und schlos­sen die Tür hin­ter sich ab.

Das rote Zim­mer war ein Frem­den­zim­mer, in dem nur sel­ten je­mand schlief; ich könn­te bei­na­he sa­gen nie­mals oder nur dann, wenn ein zu­fäl­li­ger Zu­sam­men­fluss von Be­su­chern auf Ga­tes­head-Hall es not­wen­dig mach­te, alle Räum­lich­kei­ten des Hau­ses nutz­bar zu ma­chen. Und doch war es eins der schöns­ten und präch­tigs­ten Ge­mä­cher im Her­ren­hau­se. Wie ein Ta­ber­na­kel stand im Mit­tel­punkt des­sel­ben ein Bett von mas­si­ven Ma­ha­go­nipfei­lern ge­tra­gen und mit Vor­hän­gen von dun­kel­ro­tem Da­mast be­hängt; die bei­den großen Fens­ter, de­ren Rou­leaux im­mer her­ab­ge­las­sen wa­ren, wur­den durch Ge­hän­ge und Fal­ten­dra­pe­ri­en vom sel­ben Stof­fe halb ver­hüllt; der Tep­pich war rot; der Tisch am Fu­ßen­de des Bet­tes war mit ei­ner hoch­ro­ten De­cke be­legt; die Wän­de wa­ren mit ei­nem Stof­fe be­hängt, der auf licht­brau­nem Grun­de ein zar­tes rosa Mus­ter trug; die Gar­de­ro­be, der Toi­let­te­tisch, die Stüh­le wa­ren aus dunklem, po­lier­tem Ma­ha­go­ni an­ge­fer­tigt. Aus die­sen düs­te­ren Schat­ten er­ho­ben sich weiß und hoch und glän­zend die auf­ge­häuf­ten Ma­trat­zen und Kopf­kis­sen des Bet­tes, über die eine schnee­wei­ße De­cke ge­brei­tet war. Eben so un­heim­lich stach ein großer, ge­pols­ter­ter, eben­falls wei­ßer Lehn­stuhl her­vor, der am Kop­fen­de des Bet­tes stand und vor dem sich ein Fuß­sche­mel be­fand; da­mals er­schi­en er mir wie ein geis­ter­haf­ter Thron.

Das Zim­mer war dumpf, weil nur sel­ten ein Feu­er in dem­sel­ben an­ge­zün­det wur­de; es war still, weil es weit von der Kin­der­stu­be und den Kü­chen ent­fernt lag; un­heim­lich, weil ich wuss­te, dass fast nie­mals je­mand das­sel­be be­trat. Nur am Sonn­abend kam das Haus­mäd­chen hier­her, um den stil­len Staub ei­ner Wo­che von den Mö­beln und den Spie­geln zu wi­schen; und in lan­gen Zwi­schen­räu­men kam auch Mrs. Reed hier­her, um den In­halt ei­ner ge­wis­sen Schieb­la­de zu re­vi­die­ren, in wel­cher sich ver­schie­de­ne Ur­kun­den, ihre Ju­we­len­scha­tul­le und ein Mi­nia­tur­bild ih­res ver­stor­be­nen Gat­ten be­fand. In die­sen letz­ten Wor­ten liegt das Ge­heim­nis des ro­ten Zim­mers, der Zau­ber­bann, wes­halb es trotz sei­ner Pracht so ein­sam und ver­las­sen war.

Mr. Reed war seit neun Jah­ren tot; in die­sem Ge­ma­che hat­te er sei­nen letz­ten Atem­zug ge­tan; hier lag er auf­ge­bahrt; von hier hat­ten die Lei­chen­trä­ger ihn hin­aus­ge­tra­gen – und seit je­nem Tage hat­te ein Ge­fühl trau­ri­ger Wei­he je­den un­be­ru­fe­nen Be­su­cher von sei­ner Schwel­le fern ge­hal­ten.

Der Sitz, auf wel­chen Bes­sie und die bit­ter­bö­se Miss Ab­bot mich ge­bannt hat­ten, war eine nied­ri­ge Ot­to­ma­ne, wel­che nahe dem wei­ßen Mar­mor­ka­min stand; das Bett türm­te sich vor mir auf; zu mei­ner Rech­ten be­fand sich ein ho­her dunk­ler Gar­de­ro­ben­schrank, auf des­sen Ta­fel­werk sich die lei­sen, düs­te­ren Lich­ter bra­chen; zu mei­ner Lin­ken wa­ren die ver­häng­ten Fens­ter; ein großer Spie­gel zwi­schen den­sel­ben wie­der­hol­te die to­tes­s­til­le Ma­je­stät des Bet­tes und des Zim­mers. Ich war nicht ganz si­cher, ob sie die Tür zu­ge­schlos­sen hat­ten; und als ich wie­der Mut ge­nug hat­te, um mich zu be­we­gen, stand ich auf und ging um nach­zu­se­hen. Ach ja! Kei­ne Ker­ker­tür war je­mals si­che­rer ver­schlos­sen! Als ich wie­der an die Ot­to­ma­ne zu­rück­ging, muss­te ich an dem Spie­gel vor­über, mein ge­bann­ter Blick bohr­te sich un­will­kür­lich in die Tie­fe des­sel­ben ein. In ihm sah al­les noch küh­ler und hoh­ler und düs­te­rer aus als in Wirk­lich­keit, und die selt­sa­me, klei­ne Ge­stalt, die mir aus ihm ent­ge­gen­blick­te, mit weißem Ge­sicht und Ar­men, die grell aus der Dun­kel­heit her­vor­leuch­te­ten, mit Au­gen, die vor Furcht hin- und her­roll­ten, wo sonst al­les be­we­gungs­los war – die­se klei­ne Ge­stalt sah aus, wie ein wirk­li­ches Ge­s­penst; ich dach­te an eins je­ner zar­ten Phan­to­me, halb Elfe, halb Ko­bold, wie sie in Bes­sies Däm­mer­stun­den-Ge­schich­ten aus ein­sa­men, wil­den Schluch­ten und düs­te­ren Moo­ren her­vor­ka­men und sich dem Auge des nächt­li­chen Wan­de­rers zeig­ten. Ich kehr­te auf mei­nen Sitz zu­rück.

In die­sem Au­gen­blick be­mäch­tig­te der Aber­glau­be sich mei­ner, aber die Stun­de sei­nes voll­stän­di­gen Sie­ges über mich war noch nicht ge­kom­men: mein Blut war noch warm; die Wut des em­pör­ten Skla­ven er­hitz­te mich noch mit ih­rer gan­zen Bit­ter­keit; ich hat­te noch einen wil­den Strom von Ge­dan­ken an die Ver­gan­gen­heit zu bän­di­gen, be­vor ich mich ganz dem Jam­mer über die trost­lo­se Ge­gen­wart hin­ge­ben konn­te.

Wie der schmut­zi­ge Bo­den­satz aus ei­nem trü­ben Brun­nen, so stieg aus mei­nem be­weg­ten, auf­ge­reg­tem Ge­müt al­les an die Ober­flä­che mei­nes Emp­fin­dens: John Reeds wil­de Ty­ran­nei, die hoch­mü­ti­ge Gleich­gül­tig­keit sei­ner Schwes­tern, die Ab­nei­gung sei­ner Mut­ter, die Par­tei­lich­keit der Dienst­bo­ten! Wes­halb muss­te ich stets lei­den, stets mit ver­ächt­li­chen Bli­cken an­ge­se­hen wer­den, im­mer be­schul­digt, im­mer ver­ur­teilt wer­den? Wes­halb konn­te ich nie­mals et­was recht ma­chen? Wes­halb war es im­mer nutz­los, wenn ich ver­such­te, ir­gend ei­nes Men­schen Gunst zu er­rin­gen? Man hat­te Ach­tung vor Eli­za, die doch so ei­gen­sin­nig und selbst­süch­tig war. Je­der­mann hat­te Nach­sicht mit Ge­or­gi­na, die stets übel­ge­launt und trot­zig und frech war. Ihre Schön­heit, ihre ro­si­gen Wan­gen und gol­di­gen Lo­cken schie­nen je­den zu ent­zücken, der sie an­blick­te und ihr Ver­ge­bung für all ihre Män­gel und Feh­ler zu er­kau­fen. John wur­de nie­mals be­straft, nie­mand wi­der­sprach ihm je­mals, ob­gleich er den Tau­ben die Häl­se um­dreh­te, die jun­gen Hüh­ner um­brach­te, die Hun­de auf die Scha­fe hetz­te, den Wein­stock im Treib­hau­se sei­ner Trau­ben be­raub­te und von den sel­tens­ten Pflan­zen die Knos­pen ab­riss; er nann­te sei­ne Mut­ter so­gar »lie­be Alte«; nahm durch­aus kei­ne Rück­sicht auf ihre Wün­sche; zer­riss und be­schmutz­te ihre sei­de­nen Klei­der nicht sel­ten, – und doch war er »ihr ein­zi­ger Lieb­ling«. Ich wag­te nie­mals, einen Feh­ler zu be­ge­hen; ich be­müh­te mich stets, mei­ne Pf­licht zu tun, und mich nann­te man un­ar­tig und un­er­träg­lich, mür­risch und hin­ter­lis­tig, vom Mor­gen bis zum Mit­tag, vom Mit­tag bis zum Abend.

Mein Kopf schmerz­te noch und blu­te­te nach dem er­hal­te­nen Schla­ge und dem Fal­le, wel­chen ich ge­tan; nie­mand hat­te John einen Ver­weis er­teilt, weil er mich grund­los ge­schla­gen; aber weil ich mich ge­gen ihn auf­ge­lehnt hat­te, um sei­ner wei­te­ren un­ver­nünf­ti­gen, be­sin­nungs­lo­sen Hef­tig­keit zu ent­ge­hen, hat­ten alle mich mit den lau­tes­ten Schmä­hun­gen über­häuft.

»Un­ge­recht! – un­ge­recht!« sag­te mei­ne Ver­nunft, wel­cher die fort­wäh­ren­de, qual­vol­le Auf­rei­zung eine früh­zei­ti­ge, wenn auch vor­über­ge­hen­de Kraft ver­lie­hen hat­te; und die Ent­schlos­sen­heit, wel­che auch ge­weckt war, ließ mich al­ler­hand Mit­tel er­sin­nen, um eine Flucht aus die­sem schier un­er­träg­lich ge­wor­de­nen Dru­cke zu be­werk­stel­li­gen – ich dach­te dar­an, auf und da­von zu lau­fen, oder wenn dies nicht mög­lich, we­nigs­tens nie­mals wie­der Spei­se und Trank zu mir zu neh­men und auf die­se Wei­se zu Tode zu hun­gern.

Wie be­stürzt war mei­ne See­le an die­sem trau­ri­gen Nach­mit­tag! Wie er­regt war mein Ge­müt, wie furcht­bar em­pört mein Herz! Aber in wel­cher Düs­ter­heit, wel­cher Ver­blen­dung, wel­cher un­glaub­li­chen Un­wis­sen­heit wur­de die­ser See­len­kampf aus­ge­kämpft! Ich hat­te kei­ne Ant­wort auf die sich mir un­auf­hör­lich auf­drän­gen­de Fra­ge, wes­halb ich so viel lei­den muss­te. Jetzt nach Ver­lauf von – nein, ich will nicht sa­gen, von wie vie­len Jah­ren – habe ich die Ant­wort ge­fun­den!

Ich war ein Miss­ton in Ga­tes­head-Hall. Ich war ein Nichts an die­sem Orte; ich hat­te k­ei­ne Ge­mein­schaft mit Mrs. Reed oder ih­ren Kin­dern oder ih­ren be­zahl­ten Va­sal­len. Sie lieb­ten mich nicht, und in der Tat, ich lieb­te sie eben­so­we­nig. Es war auch nicht ihre Pf­licht, mit Lie­be auf ein Ge­schöpf zu bli­cken, wel­ches mit kei­ner ein­zi­gen See­le sym­pa­thi­sie­ren konn­te; ein he­te­ro­ge­nes Ge­schöpf, wel­ches ihr di­rek­tes Ge­gen­teil in Tem­pe­ra­ment, in Fä­hig­kei­ten und Nei­gun­gen war; ein nutz­lo­ses Ge­schöpf, wel­ches ih­rem In­ter­es­se nicht die­nen, zu ih­rem Ver­gnü­gen nichts bei­tra­gen konn­te; ein straf­ba­res Ge­schöpf, wel­ches die Kei­me der Em­pö­rung über die ihm wi­der­fah­ren­de Be­hand­lung in sich nähr­te, ein Ge­schöpf, das die tiefs­te Ver­ach­tung für ih­ren Ver­stand, ihr Ur­teils­ver­mö­gen nähr­te. Ich weiß wohl, dass, wenn ich ein san­gui­ni­sches, geist­rei­ches, her­ri­sches, schö­nes, wil­des Kind ge­we­sen wäre – wenn auch eben­so ab­hän­gig und freund­los – so wür­de Mrs. Reed mei­ne Ge­gen­wart in lie­bens­wür­di­ge­rer Wei­se er­tra­gen ha­ben; ihre Kin­der hät­ten für mich ein freund­li­che­res Ge­fühl der Ge­mein­sam­keit ge­hegt; die Dienst­bo­ten wä­ren we­ni­ger ge­neigt ge­we­sen, mich zum Sün­den­bock der Kin­der­stu­be zu ma­chen.

Das Ta­ges­licht be­gann aus dem ro­ten Zim­mer zu schwin­den; es war nach vier Uhr, und auf den be­wölk­ten Nach­mit­tag folg­te die trü­be Däm­me­rung. Ich hör­te, wie der Re­gen noch un­auf­hör­lich ge­gen das Fens­ter der Trep­pe schlug, wie der Wind in den Laub­gän­gen hin­ter dem Her­ren­hau­se heul­te; nach und nach wur­de ich so kalt wie Mar­mor, und dann be­gann mein Mut zu sin­ken. Die ge­wöhn­li­che Stim­mung des Ge­de­mü­tigt­seins, Zwei­fel an mir selbst, hilflo­se Trau­rig­keit be­mäch­tig­ten sich mei­ner und fie­len dämp­fend auf die Asche mei­ner da­hin­schwin­den­den Wut. Alle sag­ten ja, dass ich bos­haft sei – viel­leicht war es der Fall, denn hat­te ich nicht so­eben den Ge­dan­ken ge­hegt, mich zu Tode zu hun­gern? Das war doch ge­wiss ein Ver­bre­chen: denn war ich be­reit zu ster­ben? oder war das Ge­wöl­be un­ter der Kan­zel in der Kir­che von Ga­tes­head ein so ein­la­den­des Ende? In die­sem Ge­wöl­be lag Mr. Reed be­gra­ben, wie man mir ge­sagt hat­te; die­ser Ge­dan­ke führ­te mich dazu, sein An­den­ken her­auf zu be­schwö­ren; und mit wach­sen­dem Grau­en ver­weil­te ich bei dem­sel­ben. Ich konn­te mich sei­ner nicht er­in­nern; aber ich wuss­te, dass er mein On­kel ge­we­sen, – der ein­zi­ge Bru­der mei­ner Mut­ter – dass er mich in sein Haus auf­ge­nom­men, als ich ein ar­mes, el­tern­lo­ses Kind ge­we­sen; und dass er noch in sei­nen letz­ten Au­gen­bli­cken Mrs. Reed das Ver­spre­chen ab­ge­nom­men hat­te, mich wie ihr ei­ge­nes Kind zu er­zie­hen und zu ver­sor­gen. Mrs. Reed war höchst­wahr­schein­lich der Über­zeu­gung, dass sie die­ses Ver­spre­chen ge­hal­ten habe, und so weit ihre Na­tur ihr dies er­laub­te, hat­te sie es auch ge­tan; aber wie soll­te sie denn auch in Wirk­lich­keit für einen Ein­dring­ling Lie­be he­gen, der nicht zu ih­rer Fa­mi­lie ge­hör­te und nach dem Tode ih­res Gat­ten durch kei­ne Ban­de mehr an sie ge­ket­tet war? Es muss­te al­ler­dings är­ger­lich sein, sich durch ein un­ter sol­chen Um­stän­den ge­ge­be­nes Ver­spre­chen ge­nö­tigt zu se­hen, ei­nem frem­den Kin­de, das sie nicht lie­ben konn­te, die El­tern zu er­set­zen, und es er­tra­gen zu müs­sen, dass eine un­sym­pa­thi­sche Frem­de sich un­auf­hör­lich in ih­ren Fa­mi­li­en­kreis dräng­te.

Eine son­der­ba­re Idee be­mäch­tig­te sich mei­ner. Ich zwei­fel­te nicht – hat­te es nie­mals be­zwei­felt – dass Mr. Reed, wenn er am Le­ben ge­blie­ben, mich mit Güte be­han­delt ha­ben wür­de; und jetzt, als ich so da­saß und auf die dunklen Wän­de und das wei­ße Bett blick­te, zu­wei­len auch wie ge­bannt ein Auge auf den trü­be blin­ken­den Spie­gel warf – da be­gann ich mich an das zu er­in­nern, was ich von To­ten ge­hört hat­te, die im Gra­be kei­ne Ruhe fin­den konn­ten, weil man ihre letz­ten Wün­sche un­er­füllt ge­las­sen, und jetzt auf die Erde zu­rück­kehr­ten, um die Mein­ei­di­gen zu stra­fen und die Be­drück­ten zu rä­chen; ich dach­te, wie Mr. Reeds Geist, ge­quält durch das Un­recht, wel­ches man dem Kin­de sei­ner Schwes­ter zu­füg­te, sei­ne Ru­he­stät­te ver­ließ – ent­we­der in dem Ge­wöl­be der Kir­che oder in dem un­be­kann­ten Lan­de der Ab­ge­schie­de­nen – und in die­sem Zim­mer vor mir er­schei­nen kön­ne. Ich trock­ne­te mei­ne Trä­nen und un­ter­drück­te mein Schluch­zen; denn ich fürch­te­te, dass die­se lau­ten Äu­ße­run­gen mei­nes Grams eine über­na­tür­li­che Stim­me zu mei­nem Tros­te er­we­cken oder aus dem mich um­ge­ben­den Dun­kel ein Ant­litz mit ei­nem Hei­li­gen­schein her­vor­leuch­ten las­sen kön­ne, das sich mit wun­der­sa­mem Mit­leid über mich beug­te. Die­ser Ge­dan­ke, der in der Theo­rie viel­leicht ganz trost­reich, wür­de ent­setz­lich sein, wenn er zur Wirk­lich­keit wer­den könn­te, das fühl­te ich: mit al­ler Ge­walt ver­such­te ich, ihn zu un­ter­drücken – ich be­müh­te mich, ru­hig und ge­fasst zu sein. In­dem ich mir das Haar von Stirn und Au­gen strich, er­hob ich den Kopf und ver­such­te in dem dunklen Zim­mer um­her zu bli­cken: in die­sem Au­gen­blick sah ich den Wie­der­schein ei­nes Lich­tes an der Wand! – War es viel­leicht der Mon­dess­trahl, der durch eine Öff­nung in dem Vor­hang drang, frag­te ich mich? Nein, die Mon­dess­trah­len wa­ren ru­hig und dies Licht be­weg­te sich; wäh­rend ich noch hin­blick­te, glitt es zur De­cke hin­auf und er­zit­ter­te über mei­nem Kop­fe. Jetzt kann ich frei­lich be­grei­fen, dass die­ser Licht­strei­fen al­ler Wahr­schein­lich­keit nach der Schim­mer ei­ner La­ter­ne war, wel­che je­mand über den frei­en Platz vor dem Hau­se trug; aber da­mals, mit dem auf Schre­cken und Ent­set­zen vor­be­rei­te­ten Ge­müt, mit mei­nen vor Auf­re­gung be­ben­den Ner­ven, hielt ich den sich schnell be­we­gen­den Strahl für den He­rold ei­ner Er­schei­nung, die aus ei­ner an­de­ren Welt zu mir kam. Mein Herz poch­te laut, mein Kopf wur­de heiß; in mei­nen Ohren spür­te ich ein Brau­sen, das ich für das Rau­schen der Flü­gel hielt; ein Et­was schi­en sich mir zu nä­hern; ich fühl­te mich be­drückt, er­stickt; mein Wi­der­stands­ver­mö­gen gab nach; ich stürz­te auf die Tür zu und rüt­tel­te mit ver­zwei­fel­ter An­stren­gung am Schlos­se. Ei­len­de Schrit­te ka­men durch den äu­ße­ren Kor­ri­dor da­her; der Schlüs­sel wur­de im Schlos­se um­ge­dreht, Bes­sie und Miss Ab­bot tra­ten ein.

»Miss Eyre, sind Sie krank?« frag­te Bes­sie.

»Welch ein fürch­ter­li­cher Lärm! Ich bin ganz au­ßer mir!« rief Ab­bot aus.

»Nehmt mich mit hin­aus! Lasst mich in die Kin­der­stu­be ge­hen!« schrie ich un­un­ter­bro­chen.

»Wes­halb denn? Ist Ih­nen ir­gend et­was ge­sche­hen? Ha­ben Sie et­was ge­se­hen?« frag­te Bes­sie wie­der­um.

»O, ich sah ein Licht und ich mein­te, dass ein Geist kom­men wür­de.« Ich hat­te mich jetzt Bes­sies Hand be­mäch­tigt, und sie ent­wand sie mir nicht.

»Sie hat mit Ab­sicht so ge­schri­en«, er­klär­te Ab­bot mit ei­ni­gem Ab­scheu. »Und welch ein Ge­schrei! Wenn sie große Schmer­zen ge­habt hät­te, so könn­te man es noch ent­schul­di­gen, aber sie woll­te wei­ter nichts, als uns alle her­bei­lo­cken. Ich ken­ne ihre bö­sen Strei­che schon.«

»Was gibt es denn hier?« frag­te eine an­de­re Stim­me ge­bie­te­risch; und Mrs. Reed kam mit flat­tern­den Hau­ben­bän­dern und we­hen­dem Klei­de durch den Kor­ri­dor da­her. »Ab­bot und Bes­sie, ich glau­be, dass ich Be­fehl ge­ge­ben habe, Jane Eyre in dem ro­ten Zim­mer zu las­sen, bis ich selbst sie ho­len wür­de?«

»Miss Jane schrie so laut, Ma­da­me«, wand­te Bes­sie zö­gernd ein.

»Lasst sie los«, war die ein­zi­ge Ant­wort. »Lass Bes­sies Hand los, Kind: ver­lass dich dar­auf, auf die­se Wei­se wirst du nicht hin­aus ge­lan­gen. Ich ver­ab­scheue sol­che List, be­son­ders bei Kin­dern; es ist mei­ne Pf­licht, dir zu be­wei­sen, dass du mit der­ar­ti­gen Rän­ken und Sch­li­chen nicht weit kommst. Jetzt wirst du noch eine gan­ze Stun­de hier­blei­ben, und auch dann gebe ich dich nur frei, wenn du mir das Ver­spre­chen gibst, voll­kom­men ru­hig und un­ter­wür­fig zu sein.«

»O, Tan­te, hab Er­bar­men! Ver­gib mir doch! Ich kann, ich kann es nicht er­tra­gen. – Be­stra­fe mich doch auf an­de­re Wei­se! Ich kom­me um, wenn …«

»Sei still! Die­se Hef­tig­keit ist ganz wi­der­lich und em­pö­rend!« und ohne Zwei­fel heg­te sie auch Ab­scheu ge­gen mein Be­tra­gen. In ih­ren Au­gen war ich eine früh­rei­fe Schau­spie­le­rin; sie sah in der Tat auf mich wie auf eine Zu­sam­men­set­zung der hef­tigs­ten Lei­den­schaf­ten, ei­nes nied­ri­gen, ge­mei­nen Geis­tes und ge­fähr­li­cher Falsch­heit.

Als Bes­sie und Ab­bot sich zu­rück­ge­zo­gen hat­ten, warf Mrs. Reed, die mei­ner wil­den Angst und mei­nes lau­ten Schluch­zens wohl müde ge­wor­den sein moch­te, mich rasch in das Zim­mer zu­rück und schloss mich ohne wei­te­re Er­klä­run­gen und Wor­te wie­der ein. Ich hör­te noch, wie sie da­von rausch­te; und bald nach­dem sie ge­gan­gen war, muss ich in Krämp­fe ver­fal­len sein: Be­wusst­lo­sig­keit mach­te der Sze­ne ein Ende!

Drittes Kapitel

Dann er­in­ner­te ich mich an nichts mehr. Als ich er­wach­te, war es mit dem Ge­fühl ei­nes schreck­li­chen Alp­drückens, vor mir sah ich eine un­heim­li­che rote Glut, von der sich di­cke, schwar­ze Stan­gen ab­ho­ben. Ich hör­te Stim­men, die hohl an mein Ohr klan­gen, als wür­den sie durch das Rau­schen des Was­sers oder To­ben des Win­des über­tönt. Auf­re­gung, Un­ge­wiss­heit und ein al­les be­herr­schen­des Ge­fühl des Ent­set­zens hielt alle mei­ne Sin­ne ge­fan­gen. Es ver­gin­gen nur we­ni­ge Au­gen­bli­cke, und dann ge­wahr­te ich, dass je­mand mich be­rühr­te, mich auf­hob und mich in eine sit­zen­de Stel­lung brach­te, und zwar viel zärt­li­cher und sorg­sa­mer, als mich bis jetzt ir­gend­je­mand ge­stützt oder em­por­ge­ho­ben hat­te. Ich lehn­te mei­nen Kopf ge­gen einen Arm oder ein Pols­ter und fühl­te mich un­end­lich wohl.

Noch fünf Mi­nu­ten und die Wol­ken der Be­wusst­lo­sig­keit be­gan­nen zu schwin­den. Jetzt wuss­te ich sehr wohl, dass ich in mei­nem ei­ge­nen Bet­te lag, und dass die rote Glut nichts an­de­res war, als das Feu­er im Ka­min der Kin­der­stu­be. Es war Nacht, eine Ker­ze brann­te auf dem Ti­sche; Bes­sie stand am Fu­ßen­de mei­nes Bet­tes und hielt eine Wasch­schüs­sel in der Hand, ein Herr saß auf ei­nem Lehn­stuh­le ne­ben mir und beug­te sich über mich.

Ich emp­fand eine un­be­schreib­li­che Er­leich­te­rung, eine wohl­tu­en­de Über­zeu­gung der Si­cher­heit und des Be­schützt­seins, als ich sah, dass sich ein Frem­der im Zim­mer be­fand, ein Mensch, der nicht zum Haus­halt von Ga­tes­head, nicht zu den Ver­wand­ten von Mrs. Reed ge­hör­te. – Mich von Bes­sie ab­wen­dend – ob­gleich ihre Ge­gen­wart mir weit we­ni­ger un­an­ge­nehm war, als mir zum Bei­spiel Ab­bots Ge­sell­schaft ge­we­sen wäre – prüf­te ich die Ge­sichts­zü­ge des Herrn; ich kann­te ihn, es war Mr. Lloyd, ein Apo­the­ker, den Mrs. Reed zu­wei­len ru­fen ließ, wenn ihre Dienst­bo­ten krank wa­ren. Für sich selbst und ihre Kin­der nahm sie im­mer nur die Hil­fe des Arz­tes in An­spruch.

»Nun, wer bin ich?« frag­te er.

Ich sprach sei­nen Na­men aus und streck­te ihm zu glei­cher Zeit mei­ne Hand ent­ge­gen; er nahm sie, lä­chel­te und sag­te: »Ah, wir wer­den uns jetzt lang­sam er­ho­len.« Dann leg­te er mich nie­der, wand­te sich zu Bes­sie, emp­fahl ihr, sehr vor­sich­tig zu sein und mich wäh­rend der Nacht nicht zu stö­ren. Nach­dem er noch wei­te­re Wei­sun­gen er­teilt und ge­sagt hat­te, dass er am fol­gen­den Tage wie­der­kom­men wür­de, ging er fort; zu mei­ner größ­ten Be­trüb­nis; wäh­rend er auf dem Stuhl ne­ben mei­nem Kopf­kis­sen saß, fühl­te ich mich so be­schützt, so si­cher, und als die Tür sich hin­ter ihm schloss, wur­de das gan­ze Zim­mer dun­kel und mein Herz ver­zag­te von neu­em, es un­ter­lag der Last ei­nes un­be­schreib­li­chen Grams.

»Glau­ben Sie, dass Sie schla­fen kön­nen, Miss?« frag­te Bes­sie mich un­ge­wöhn­lich sanft.

Kaum wag­te ich, ihr zu ant­wor­ten, denn ich fürch­te­te, dass ihre nächs­ten Wor­te wie­der rau klin­gen wür­den. »Ich will es ver­su­chen«, sag­te ich lei­se.

»Möch­ten Sie nicht ir­gend et­was es­sen oder trin­ken?«

»Nein, ich dan­ke, Bes­sie.«

»Nun, dann wer­de ich auch schla­fen ge­hen, denn es ist schon nach Mit­ter­nacht; aber Sie kön­nen mich ru­fen, wenn Sie wäh­rend der Nacht ir­gend et­was brau­chen.«

Wel­che sel­te­ne Höf­lich­keit! Sie er­mu­tig­te mich, eine Fra­ge zu stel­len.

»Bes­sie, was ist denn mit mir ge­sche­hen? Bin ich sehr krank?«

»Ich ver­mu­te, dass Sie vor Schrei­en im ro­ten Zim­mer krank ge­wor­den sind; aber Sie wer­den ohne Zwei­fel bald wie­der ganz ge­sund sein.«

Bes­sie ging in das an­sto­ßen­de Zim­mer der Haus­mäd­chen. Ich hör­te, wie sie dort sag­te:

»Sa­rah, komm und schlaf bei mir in der Kin­der­stu­be, und wenn es mein Le­ben gäl­te, so könn­te ich die­se Nacht nicht mit dem ar­men Kin­de al­lein blei­ben; es könn­te ster­ben! Wie son­der­bar, dass Miss Jane einen sol­chen An­fall ha­ben muss­te! Ich möch­te doch wis­sen, ob sie ir­gend et­was ge­se­hen hat. Mrs. Reed war die­ses Mal aber auch zu hart ge­gen sie.«

Sa­rah kam mit ihr zu­rück; bei­de gin­gen zu Bett; sie flüs­ter­ten we­nigs­tens noch eine hal­be Stun­de mit­ein­an­der, be­vor sie ein­sch­lie­fen. Ich hör­te ei­ni­ge Bruch­stücke ih­rer Un­ter­hal­tung, und aus die­sen schloss ich auf den Haupt­ge­gen­stand ih­rer Dis­kus­si­on.

»Et­was ist an ihr vor­über­ge­schwebt, ganz in Weiß ge­klei­det, dann ist es ver­schwun­den.« – – »Ein großer, schwar­zer Hund hin­ter ihm.« – »Drei­mal hat es laut an der Zim­mer­tür ge­klopft.« – »Ein Licht auf dem Fried­ho­fe ge­ra­de über sei­nem Gra­be« – u.s.w., u.s.w.

End­lich schlie­fen bei­de ein. Feu­er und Licht er­lo­schen. In schau­ri­gem Wa­chen ging die Nacht für mich lang­sam hin; Ent­set­zen und Angst hiel­ten Ohren, Au­gen und Sin­ne wach. – Ent­set­zen und Angst, wie nur Kin­der es zu emp­fin­den im­stan­de sind.

Die­sem Zwi­schen­fall im ro­ten Zim­mer folg­te kei­ne lan­ge, erns­te, kör­per­li­che Krank­heit; nur eine hef­ti­ge Er­schüt­te­rung mei­ner Ner­ven, de­ren Wi­der­hall ich noch bis auf den heu­ti­gen Tag emp­fin­de. Ja, Mrs. Reed, Ih­nen ver­dan­ke ich gar man­chen qual­vol­len Schmerz der See­le. Aber ich soll­te Ih­nen ver­zei­hen, denn Sie wuss­ten nicht, was Sie ta­ten, wäh­rend Sie jede Fa­ser mei­nes Her­zens zer­ris­sen, glaub­ten Sie nur mei­ne bö­sen Nei­gun­gen und An­la­gen zu er­sti­cken.

Am nächs­ten Tage ge­gen Mit­tag war ich be­reits auf­ge­stan­den und an­ge­klei­det und saß in einen war­men Shawl gehüllt vor dem Ka­min­feu­er. Ich fühl­te mich kör­per­lich schwach und ge­bro­chen, aber mein schlimms­tes Übel war ein un­aus­sprech­li­cher Jam­mer der See­le, ein Jam­mer, der mir fort­wäh­rend stil­le Trä­nen ent­lock­te, kaum hat­te ich einen sal­zi­gen Trop­fen von mei­ner Wan­ge ge­trock­net, als auch schon ein an­de­rer folg­te. Und doch mein­te ich, dass ich au­gen­blick­lich glück­lich sein müss­te, denn kei­ner von den Reeds war da, alle wa­ren mit ih­rer Mama im großen Wa­gen spa­zie­ren ge­fah­ren; auch Ab­bot näh­te in ei­nem an­de­ren Zim­mer, und wäh­rend Bes­sie hin und her ging, Spiel­sa­chen fort­räum­te und Schieb­la­den ord­ne­te, rich­te­te sie dann und wann ein un­ge­wöhn­lich freund­li­ches Wort an mich. Die­se Lage der Din­ge wäre für mich ein Pa­ra­dies des Frie­dens ge­we­sen, für mich, die ich nur an ein Da­sein voll un­auf­hör­li­chen Ta­dels und grau­sa­me Skla­ve­rei ge­wöhnt war, – aber in der Tat wa­ren mei­ne Ner­ven jetzt in ei­nem sol­chen Zu­stan­de, dass kei­ne Ruhe sie mehr sänf­ti­gen, kein Ver­gnü­gen sie mehr freu­dig er­re­gen konn­te.

Bes­sie war un­ten in der Kü­che ge­we­sen und brach­te mir jetzt einen Ku­chen her­auf, der auf ei­nem ge­wis­sen, bunt ge­mal­ten Por­zel­lan­tel­ler lag, des­sen Pa­ra­dies­vo­gel, wel­cher sich auf ei­nem Kranz von Maiglöck­chen und Ro­sen­knos­pen schau­kel­te, stets eine en­thu­sias­ti­sche Be­wun­de­rung in mir wach ge­ru­fen hat­te. Gar oft hat­te ich in­nig ge­be­ten, die­sen Tel­ler in die Hand neh­men zu dür­fen, um ihn ge­nau­er be­trach­ten zu kön­nen, bis jetzt hat­te man mich aber stets ei­ner sol­chen Gunst für un­wür­dig ge­hal­ten. Jetzt stell­te man mir nun die­sen kost­ba­ren Tel­ler auf den Schoß und bat mich freund­lich, das Stück­chen aus­er­le­se­nen Ge­bäcks, wel­ches auf dem­sel­ben lag, zu es­sen. Eit­le Gunst! Sie kam zu spät, wie so man­che an­de­re, die so in­nig er­wünscht, und so lan­ge ver­sagt wor­den war! Ich konn­te den Ku­chen nicht es­sen, und das Ge­fie­der des Vo­gels, die Far­ben der Blu­men schie­nen mir selt­sam ver­blasst – ich schob so­wohl Tel­ler wie Ge­bäck von mir. Bes­sie frag­te mich, ob ich ein Buch ha­ben wol­le. Das Wort Buch wirk­te wie ein vor­über­ge­hen­des Reiz­mit­tel, und ich bat sie, mir »Gul­li­vers Rei­sen« aus der Biblio­thek zu ho­len. Die­ses Buch hat­te ich schon un­zäh­li­ge Male mit Ent­zücken ge­le­sen; ich hielt es für eine Er­zäh­lung von Tat­sa­chen und ent­deck­te in ihm eine Ader, die ein weit tiefe­res In­ter­es­se für mich hat­te, als das­je­ni­ge, wel­ches ich in Mär­chen ge­fun­den hat­te; denn nach­dem ich die El­fen ver­ge­bens un­ter den Blät­tern des Fin­ger­huts und der Glo­cken­blu­me, un­ter Pil­zen und al­tem, von Epheu um­rank­ten Ge­mäu­er ge­sucht, hat­te ich mein Ge­müt mit der trau­ri­gen Wahr­heit aus­ge­söhnt, dass sie alle Eng­land ver­las­sen hät­ten, um in ein un­be­kann­tes Land zu ge­hen, wo die Wäl­der noch stil­ler und wil­der und di­cker, die Men­schen noch spär­li­cher ge­sä­et sei­en. Li­li­put hin­ge­gen und Brob­di­g­nag wa­ren nach mei­nem Glau­ben so­li­de Be­stand­tei­le der Erd­ober­flä­che; ich zwei­fel­te gar nicht, dass, wenn ich ei­nes Ta­ges eine wei­te Rei­se ma­chen könn­te, ich mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen die klei­nen Fel­der und Häu­ser, die win­zi­gen Men­schen, die zier­li­chen Kühe, Scha­fe und Vö­gel des ei­nen Kö­nig­reichs se­hen wür­de, und eben­so die baum­ho­hen Korn­fel­der, die mäch­ti­gen Bul­len­bei­ßer, die Kat­zen-Un­ge­heu­er, die turm­ho­hen Män­ner und Frau­en des an­de­ren. Und doch, als ich den ge­lieb­ten Band jetzt in Hän­den hielt – als ich die Sei­ten um­blät­ter­te und in den wun­der­sa­men Bil­dern den Reiz such­te, wel­chen sie mir bis jetzt stets ge­währt hat­ten – da war al­les alt und trüb­se­lig; die Rie­sen wa­ren ha­ge­re Ko­bol­de; die Pig­mä­en bos­haf­te und scheuß­li­che Gno­men, Gul­li­ver ein trüb­se­li­ger Wan­de­rer in öden und ge­fähr­li­chen Re­gio­nen. Ich schloss das Buch, in dem ich nicht län­ger zu le­sen wag­te und leg­te es auf den Tisch ne­ben das un­be­rühr­te Stück Ku­chen.

Bes­sie war jetzt mit dem Ab­stau­ben und Auf­räu­men des Zim­mers zu Ende, und nach­dem sie ihre Hän­de ge­wa­schen hat­te, öff­ne­te sie eine ge­wis­se klei­ne Schieb­la­de, wel­che mit den schöns­ten, präch­tigs­ten Lap­pen von Sei­de und At­las an­ge­füllt war, und be­gann einen Hut für Ge­or­gi­nas neue Pup­pe zu ma­chen. Dann be­gann sie zu sin­gen; das Lied lau­te­te:


»Als wir durch Wald und Flur streif­ten.
Vor lan­ger, lan­ger Zeit.«

Wie oft hat­te ich dies Lied schon ge­hört, und im­mer mit dem größ­ten Ent­zücken; denn Bes­sie hat­te eine süße Stim­me – we­nigs­tens nach mei­nem Ge­schmack. Aber jetzt, ob­gleich ihre Stim­me noch im­mer lieb­lich klang, lag für mich eine un­be­schreib­li­che Trau­rig­keit in die­ser Me­lo­die. Zu­wei­len, wenn ihre Ar­beit sie ganz in An­spruch nahm, sang sie den Re­frain sehr lei­se, sehr lang­sam: »Vor lan­ger, lan­ger Zeit«; dann klang es wie die Schluss­ka­denz ei­nes Gra­b­lie­des. End­lich be­gann sie eine an­de­re Bal­la­de zu sin­gen, dies­mal eine wirk­lich trau­ri­ge.


Mein Kör­per ist müd und wund ist mein Fuß,
Weit ist der Weg, den ich wan­dern muss.
Bald wird es Nacht, und den Weg ich nicht fin­d’.
Den ich wan­dern muss, ar­mes Wai­sen­kind!

Wes­halb sand­ten sie mich so weit, so weit,
Durch Feld und Wald, auf die Ber­g’, wo es schneit?
Die Men­schen sind hart! Doch En­gel so lind.
Be­wa­chen mich ar­mes Wai­sen­kind.

Die Ster­ne, sie schei­nen her­ab so klar.
Die Luft ist mild! Es ist doch wahr:
Gott ist barm­her­zig, er steu­ert dem Wind,
Dass er nicht er­fas­se das Wai­sen­kind.

Und wenn ich nun strauch­le am Wal­des­rand
Oder ins Meer ver­sink, wo mich führt kei­ne Han­d’,
So weiß ich doch, dass den Va­ter ich fin­d’,
Er nimmt an sein Herz das Wai­sen­kind!

Das ist mei­ne Hoff­nung, die Kraft mir gibt.
Dass Gott da dro­ben sein Kind doch liebt.
Bei ihm dort oben die Hei­mat ich fin­d’.
Er liebt auch das arme Wai­sen­kind!

»Kom­men Sie, Miss Jane, wei­nen Sie nicht«, sag­te Bes­sie, als sie zu Ende war. Eben­so­gut hät­te sie dem Feu­er sa­gen kön­nen »bren­ne nicht!« aber wie hät­te sie denn auch eine Ah­nung von dem herz­zer­rei­ßen­den Schmerz ha­ben kön­nen, des­sen Beu­te ich war? – Im Lau­fe des Mor­gens kam Mr. Lloyd wie­der.

»Wie? Schon auf­ge­stan­den?« rief er, als er in die Kin­der­stu­be trat. »Nun, Wär­te­rin, wie geht es ihr denn ei­gent­lich?«

Bes­sie ent­geg­ne­te, dass es mir au­ßer­or­dent­lich gut gehe.

»Dann soll­te sie aber fröh­li­cher aus­se­hen. Kom­men Sie her, Miss Jane. Sie hei­ßen Jane, nicht wahr?«

»Ja, mein Herr, Jane Eyre!«

»Nun, Sie ha­ben ge­weint, Miss Jane Eyre, wol­len Sie mir nicht sa­gen, wes­halb? Ha­­