Georg Theunissen

Der Umgang mit Autismus in den USA

Schulische Praxis, Empowerment und gesellschaftliche Inklusion

Das Beispiel Kalifornien

Verlag W. Kohlhammer

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ISBN: 978-3-17-023466-6

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epub:  ISBN 978-3-17-025552-4

mobi:  ISBN 978-3-17-025553-1

Inhalt

  1. Einführung
  2. I   Leben, Wohnen und Arbeiten von Autisten im Gemeinwesen
  3. 1   Regional Center
  4. 1.1   Historisches
  5. 1.2   Deinstitutionalisierung und Community Living
  6. 1.3   Aktuelle Wohnkonzepte und Entwicklung
  7. 1.4   Frühe Hilfen und weitere Unterstützungsangebote
  8. 1.5   Resümee und kritische Reflexion
  9. 2   Prominente Dienstleister – eine Auswahl
  10. 2.1   Hillside Enterprises
  11. 2.2   Villa Esperanza Services
  12. 2.3   The Help Group
  13. 2.4   Tierra del Sol Foundation (TdSF)
  14. 2.5   PathPoint
  15. 2.6   Avenues Supported Living Services (ASLS)
  16. 2.7   Jay Nolan Community Services (JNCS)
  17. 3   Fokus: Kunst und Medien
  18. 3.1   Art Center der Exceptional Children’s Foundation (ECF)
  19. 3.2   First Street Gallery Art Center der Tierra del Sol Foundation (TdSF)
  20. 3.3   Exceptional Minds
  21. 3.4   Inclusion Films
  22. 3.5   Abschließende Bemerkungen
  23. 4   Self-Empowerment und Self-Advocacy
  24. 4.1   Ein Interview mit Howard McBroom
  25. 4.2   Kayla’s Story
  26. 4.3   Autistic Self Advocacy Network
  27. II   Schulsysteme und Bildung autistischer Schülerinnen und Schüler
  28. 5   US-amerikanische Schulgesetzgebung, schulische Inklusion und sonderpädagogische Förderung
  29. 5.1   Zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten
  30. 6   Unterricht autistischer Kinder und Jugendlicher in öffentlichen Schulen
  31. 6.1   Zur Vorschule und Grundschule (Pre- and Elementary School)
  32. 6.2   Zur Mittelschule (Middle School)
  33. 6.3   Zur höheren Schule (High School)
  34. 6.4   Resümee
  35. 7   Unterricht autistischer Kinder und Jugendlicher in nichtöffentlichen und unabhängig öffentlichen Schulen
  36. 7.1   The Help Group Schools
  37. 7.2   Tobinworld
  38. 7.3   Villa Esperanza Services
  39. 7.4   ECF Kayne Eras Center
  40. 7.5   CHIME Charter Schools
  41. 8   Die USA als Vorbild?! Häufig gestellte Fragen – ein Resümee und Gespräch mit dem Autor
  42. von Henriette Paetz
  43. Abkürzungen und Erläuterungen
  44. Literatur und Quellen

Einführung

»Ich träume davon, dass wir eines Tages in einer gereiften Gesellschaft wachsen können, in der niemand ›normal‹ oder ›anormal‹ ist, sondern in der jeder einfach ein Mensch sein kann, der alle anderen Menschen akzeptiert – bereit, gemeinsam mit ihnen weiterzuwachsen« (Tito R. Muhopadhyay 2005, 91).

Diese Worte muten visionär an, wenngleich sie mit der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen zu einem Programm erklärt worden sind, das mittlerweile von 128 Staaten (Stand 16.2.2013) ratifiziert worden ist. Im Zentrum der Behindertenrechtskonvention steht das Recht behinderter Menschen auf ein Leben in gesellschaftlicher Inklusion, das durch vier Zugänge (vgl. Theunissen 2012a) erschlossen werden kann:

1.  Durch personale Wertschätzung und Respekt vor der Person und ihrem So-Sein: Diesbezüglich impliziert die Behindertenrechtskonvention einen »Diversity-Ansatz«, der Behinderung als Bestandteil menschlicher Normalität, Vielfalt und Bereicherung betrachtet (Bielefeldt 2009, 6 ff.).

2.  Durch Interdependenzbeziehungen: Hierbei geht es sowohl um die unbehinderte Einbindung behinderter Menschen in das allgemeine Arbeitsleben mit seinen Kooperationsverhältnissen als auch um Einbindungen in persönliche Netzwerke und gesellschaftliche Sozialbeziehungen, die informelle gegenseitige Verpflichtungen beinhalten (Kronauer 2002, 44, 152).

3.  Durch Selbstbestimmung: Ein Leben in Inklusion würde einen gefängnisartigen Charakter annehmen, würde die Ermöglichung und Wahrung von Selbstbestimmung »in sozialen Bezügen« (Bielefeldt 2009, 11), einschließlich der Freiheit, persönliche Entscheidungen zu treffen, ignoriert.

4.  Durch Partizipation: Partizipation bedeutet mehr als eine bloße Teilnahme am Leben in der Gesellschaft, nämlich gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe durch Mitsprache und Mitbestimmung, »wo immer Menschen von Entscheidungen betroffen sind« (Galtung 2000, 109, 116). Dabei geht es um ein Bottom-up-Prinzip, das einer Top-down-Partizipation kontrapunktisch gegenübersteht (vgl. Theunissen 2012a).

Bemerkenswert ist, dass sich dieses Verständnis von Inklusion nicht mit dem Bild eines behinderten Menschen verträgt, der nur im Lichte von Defiziten, Mängeln oder eines Nicht-Könnens gesehen wird. Ausgehend von der Erkenntnis, »dass Behinderung aus der Interaktion zwischen Personen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren resultiert, die die volle und effektive gesellschaftliche Partizipation auf gleichberechtigter Basis mit anderen hindern« (BRK Präambel e), signalisiert die Behindertenrechtskonvention eine Abkehr von der Defizitorientierung und Hinwendung zum Empowerment behinderter Menschen (Bielefeldt 2009, 4).

Genau an dieser Stelle setzt die vorliegende Schrift an, welche sich mit dem Leben von Autisten in Kalifornien am Beispiel des Großraums Los Angeles befasst. Wie ist es zu diesem Thema gekommen? Ganz einfach: Zum einen ist die US-Westküste bekannt für fortschrittliche Entwicklungen, kreative Projekte, Erfindungen oder Innovationen, die sich nicht nur auf Gebiete der Computer-, Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der Unterhaltungsindustrie beziehen, sondern ebenso auf den Bereich der Sozialen Arbeit, der Sozial-, Human- oder Kommunikationswissenschaften. Zum anderen liebe ich die US-amerikanische Westküste, den Großraum Los Angeles mit seinen facettenreichen Stränden, die über 300 Museen und vielen Galerien, aber auch die innovative Architektur vieler Gebäude und ebenso die Natur, den Angeles National Forest, die Santa Monica Mountains oder den Topanga State Park, den herausragenden botanischen Garten »Huntington« in Pasadena, CA oder sonstige Sehenswürdigkeiten wie die viktorianischen Villen auf den Angelino Heights, das Griffith Observatory, die Getty Villa, den Farmers Market u. v. a. m. Hinzu kommt, dass ich das Klima, die Sonne an der US-amerikanischen Westküste schätze und das Leben im Raum Los Angeles – und dies im Unterschied zu New York – als relaxed, erholsam und stressfrei wahrnehme und es entsprechend genießen kann. All diese ästhetischen Erfahrungen hatte bereits gegen Ende der 1960er Jahre der britische Bluesmusiker John Mayall mit seinem »Blues from Laurel Canyon« stimmungsvoll eingefangen – und wenngleich sich die Zeiten verändert haben,1 ein Hauch dieser Atmosphäre ist für mich nach wie vor spürbar und erlebbar.

Mit dieser Erfahrung befinde ich mich zugleich in guter Gesellschaft, denn es scheint so, dass sich insbesondere aus dem Bereich der bildenden Kunst ähnliche Ansichten und Stimmen hervortun. Darüber haben in jüngster Zeit die art-Korrespondentin C. Bodin (2011) und die L. A.-Insiderin H. Drohojowska-Philp (2011) berichtet. Demnach findet Los Angeles bei einer zum Teil recht jungen, unangepassten Generation an Künstlerinnen und Künstlern2 (z. B. Melodie Mousset, Mark Grotjahn, Melanie Schiff oder Sterling Ruby (dazu Bodin 2011), Vincent Ramos, Henry Taylor, Cayetano Ferrer, Dan Finsel, Liz Glynn, Alex Olson oder Jill Spector (vgl. Made in L. A. 2012)) wachsenden Zuspruch, die im Verein mit etablierten, einflussreichen Künstlern und Lehrenden (z. B. Mike Kelley, Chris Burden, Paul McCarthy, Barbara Kruger), mit ansässigen Kunsthochschulen und Museen (z. B. Museum of Contemporary Art LA, Hammer Museum, Los Angeles County Museum, Getty Museum), mit Galeristen wie Larry Gagosian in Beverly Hills und mit Thomas Gaehtgens, dem Direktor des Getty Research Instituts, der reichsten Kulturstiftung der Welt, auf dem besten Wege sind, eine innovative Kunst- und Kulturlandschaft zu kreieren, welche Los Angeles als »eine echte Brutstätte für Talente« (zit. n. Drohojowska-Philp 2011, 62) und als das »neue Mekka der amerikanischen Kunst« (art 2011, 21) ausweist. Dies habe – so T. Gaehtgens (zit. n. art 2011, 38)

»mit der Lebenseinstellung in Kalifornien zu tun. Die Landschaft, das Meer, das Licht, die Hitze, das sind Elemente, die im Werk von Künstlern wie James Turrell, Robert Irwin oder Larry Bell eine wichtige Rolle spielen. Auch das Innovative fällt auf, die Begeisterung für neue Technologien, wenn etwa Leute wie Craig Kauffman oder John McCracken neue Kunststoffe für ihre Arbeiten nutzen. Andererseits setzt sich eine junge Kulturlandschaft wie Kalifornien aus vielen Ethnien zusammen.«

Dass ich gerade die Kunst herausgreife, mit der zur Zeit Los Angeles »sein Bild als Hauptstadt der Moderne« komplettiert (Mejias 2011), kommt nicht von ungefähr – fühle ich mich doch schon seit Jahrzehnten, spätestens seit meinem Studium der »heilpädagogischen Kunsterziehung« zu Beginn der 1970er Jahre, in ihren Bann gezogen; und das erklärt auch, warum ich in den vergangenen Jahren, in denen ich in Los Angeles meinen Urlaub verbracht habe, immer wieder Kunstlandschaften aufgesucht und rezipiert habe. Dabei galt mein Interesse aber nicht nur der zeitgenössischen, bildenden Kunst, sondern ebenso der sogenannten Außenseiter-Kunst (dazu Theunissen 2008), vor allem einer Kunst von selftaught artists, die keine künstlerisch-akademische Ausbildung durchlaufen haben und dennoch mit außergewöhnlichen, unkonventionellen Werken imponieren. Auch hierzu hat Los Angeles einiges zu bieten. Ein Meisterwerk sind unzweifelhaft die Watts Towers, eine aus Stahlrohrtürmen bestehende, mit Keramik- und Fliesenstücken, Glasscherben und Muscheln mosaikhaft verzierte Skulptur, an der Simon Rodia, ein Einwanderer und Arbeiter aus Italien, 33 Jahre lang, von 1921 bis 1954, in seiner Freizeit gearbeitet hat. Ferner gelten sogenannte Art Centers als »Brutstätten für Außenseiter-Kunst«, und wohlwissend, dass solche Einrichtungen in den USA im Bereich der Behindertenhilfe eine prominente Rolle spielen – so zum Beispiel das Pure Vision Art Studio in New York, das Creative Growth Art Center in Oakland, CA oder das kalifornische Southside Art Center in Sacramento, Auburn, Roseville und Elk Grove – fasste ich für das Jahr 2010 den Entschluss, im Rahmen meines Urlaubs Art Centers behinderter Menschen im Raum Los Angeles aufzusuchen. Diese Stippvisiten hatten sich gelohnt. Ich war begeistert von dem, was mir an authentischen Bildwerken präsentiert wurde, und ebenso überzeugend waren die Konzepte einer »offenen« Atelierkunst und Einbindung ins Gemeinwesen. Die freundlichen Begrüßungen, die Freude, der Stolz und die Offenheit, mit der mir einzelne Künstler und Künstlerinnen ihre Werke vorstellten sowie die anregenden Gespräche mit Rebecca Hamm aus Claremont, CA und einigen anderen Künstlerinnen und Künstlern, die für die Assistenz zuständig waren, beförderten letztlich meine Neugier, mehr über das Leben behinderter Menschen in Kalifornien und vor allem im Großraum Los Angeles zu erfahren. Daraufhin bin ich in den drei letzten Jahren dieser Frage gezielt und systematisch nachgegangen, unter anderem durch einen mehrmonatigen Aufenthalt in Los Angeles im Rahmen eines Forschungsfreisemesters, das mir freundlicherweise von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg genehmigt wurde.

Über wesentliche Ergebnisse dieser Forschungsarbeit im Hinblick auf Autisten berichtet nunmehr das vorliegende Buch. Zum grundlegenden Verständnis meiner Ausführungen ist es wichtig, zunächst einige Schlüsselbegriffe zu klären.

Dies betrifft den Terminus developmental disabilities, der in Kalifornien als Behinderungsbegriff sehr geläufig ist und sich neben Menschen mit einer organisch bedingten, sogenannten geistigen Behinderung (intellectual disability; früher mental retardation) oder komplexen (z. B. mit einer zusätzlichen physischen) Beeinträchtigung auf autistische Personen erstreckt (nach DSM IV: autistic disorder; pervasive developmental disorder, not otherwise specified). Nicht erfasst oder subsumiert wurden unter dem Label der developmental disabilities häufig sogenannte high functioning Autisten oder Asperger-Autisten (nach DSM IV: Asperger’s disorder). Dagegen richtet sich heute massive Kritik von Regional Centern (dazu später), nonprofit-Organisationen oder Elternvereinen (z. B. Foothill Autism Alliance; Exceptional Minds; Tierra del Sol Foundation), von Fachverbänden (z. B. Autism Society of Los Angeles) und vom Autistic Self Advocacy Network (ASAN), einer der wichtigsten Selbstvertretungsorganisation in den USA, die im Autism Rights Movement (ARM) des führende Rolle hat. Sie vertritt anstelle der verschiedenen klinischen Bilder des Autismus (frühkindlicher Autismus, low functioning autism, Asperger-Syndrom, high functioning autism, atypischer Autismus …) die Sicht eines autistischen Spektrums (autism spectrum). Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen ist es insbesondere ihrem politischen Einfluss zu verdanken, dass die American Psychiatric Association (APA) auf die fundierte Kritik reagiert hat, und mit der Revision ihres DSM IV, dem DSM 5, auf die bisherigen Einteilungen verschiedener Formen des Autismus verzichtet. Stattdessen sind unter dem neuen Begriff autism spectrum disorder, der die bisherigen Autismus-Diagnosen enthält, zentrale Merkmale des Autismus zusammengestellt worden, aus denen ein individualisiertes Bild einer »autistischen Störung« erfasst werden soll (dazu Theunissen 2012b; 2014). Diese Neuerung wird vor allem in Kalifornien von einer großen Gruppe an Eltern, Familien und Autisten (z. B. Aktivisten vom ASAN; Stephen Hinkle; Howard McBroom) begrüßt, erhoffen sie sich doch dadurch eine bessere Berücksichtigung (eligibility) und Unterstützung (supports) durch die Regional Center (vgl. auch Adams 2010).

Nach dem ASAN ist Autismus keine schwerwiegende, zu eliminierende Krank heit, sondern eine neurological variation in Form eines menschlichen Seins (neurodiversity), die bei etwa 1 % der Bevölkerung in Erscheinung tritt und als developmental disability klassifiziert wird. Dieser Wert ist soeben Ende März 2012 vom US-amerikanischen National Institute of Mental Health (vgl. CDC 2012) auf der Grundlage repräsentativer Erhebungen aus mehreren US-Bundesstaaten bestätigt worden: »What was once considered a rare disorder is now reported as affecting 1 in 88 children« (Insel 2012). Wie in den USA wird heute ebenso in vielen anderen Staaten Autismus wesentlich häufiger diagnostiziert als noch vor etwa 30 Jahren. Auch in Deutschland rechnen Experten mit etwa 1,16 % Menschen im Autismus-Spektrum, davon werden dem sogenannten Asperger-Syndrom oder hochfunktionellen Autismus zugeordnet (vgl. Bölte 2010, 211). Was die Hintergründe dieser weltweit zu beobachtenden Zunahme an Autismus-Diagnosen betrifft, so wird in den USA

1.  vor allem auf ein wachsendes gesellschaftliches Verständnis gegenüber behinderten Menschen,

2.  auf eine größere Sensibilität in Bezug auf Autismus, vor allem im Hinblick auf das sogenannte Asperger-Syndrom,

3.  auf veränderte Kriterien zur Diagnostizierung von Autismus,

4.  auf eine frühere Diagnostizierung im frühkindlichen Alter

5.  sowie auf verfeinerte, genauere Instrumente zur Erfassung von Verhaltensweisen im sogenannten Autismus-Spektrum verwiesen (Raymaker 2008, 3).

Zudem wurde in den USA der größte Zuwachs an Autismus-Diagnosen bei Kindern registriert, die bisher von sozialen Systemen (z. B. Schul- oder Gesundheitsbehörden) marginalisiert wurden (Kinder aus sozial schwachen Familien, African American, Hispanic; vgl. CDC 2012; Insel 2012). Die allgemeine Zunahme an Autismus-Diagnosen bedeutet freilich nicht, dass in den letzten Jahren die Zahl an Autisten in der Bevölkerung gestiegen ist, sondern dass viele – häufig als mental retarded (geistig behindert) oder seriously emotionally disturbed (schwer emotional gestört) fehldiagnostiziert – nicht adäquat erfasst waren, so dass mittlerweile in einigen Staaten die Dunkelziffer an autistischen Personen deutlich zurückgegangen sein dürfte. Dabei bleibt grundsätzlich festzuhalten: »The extent to which these increases reflect better case ascertainment as a result of increases in awareness and access to services or true increase in prevalence of ASD [autistic spectrum disorders, G. T.] symptoms is not known« (CDC 2012, 1 f.).

Bekanntlich gelten die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) mit Kanada und den skandinavischen Ländern als weltweit führend auf dem Gebiet der Behindertenarbeit. Empowerment und Inklusion, die beiden bedeutsamsten Wegweiser zeitgemäßer Behindertenarbeit, aber auch fortschrittliche Konzepte wie Deinstitutionalisierung und Community Living (Leben in der Gemeinde), Supported Living (Unterstütztes Wohnen) oder Supported Employment (Unterstützte Beschäftigung), stammen aus Nordamerika und spielen in der Behindertenhilfe in den USA schon seit geraumer Zeit eine prominente Rolle (Theunissen 2009; 2012a).

Welchen herausragenden Stellenwert dem Empowerment-Gedanken zukommt, wird daran sichtbar, dass von mehreren Gemeinden mit etwa 2,5 Millionen Einwohnern im Großraum Los Angeles das Jahr 2012 als The Year of Empowerment ausgerufen wurde. Durch zahlreiche Veranstaltungen zu Themen wie Umwelt, wirtschaftliche Entwicklung, soziale Unruhen, Kunst und Kultur, Entwicklung des Gemeinwesens, öffentliche Sicherheit und Gerechtigkeit, Gesundheit, humane Dienste, Dienste für Senioren, Erziehung und Behinderung sollen Bürger dazu angestiftet werden, sich als collective voice in ihren Gemeinden gesellschaftspolitisch zu engagieren und für mehr Lebensqualität einzusetzen (vgl. Empowerment Congress 2012). Anfänge dieser kommunalen Empowerment-Initiative reichen zurück ins Jahr 1992, als der Aufbau einer »dynamischen Partnerschaft« im Gemeinwesen zwischen nachbarschaftlichen Gruppen, Bewohnern eines Stadtteils, freiwillig engagierten Bürgern, Non-profit-Organisationen, Geschäftsleuten, religiösen Einrichtungen und der kommunalen Politik und Verwaltung auf den Weg gebracht wurde.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der mich neben meinen eingangs genannten Motiven veranlasst hat, in erster Linie den Großraum Los Angeles im Hinblick auf das Leben von Autisten zu untersuchen, bezieht sich auf das System der Behindertenhilfe in Kalifornien, welches mit seinen Regional Center in den USA einzigartig ist. Wie wir noch sehen werden, kommt ihnen eine Schlüsselfunktion zu.

Was meine Untersuchung betrifft, so bin ich mehrgleisig vorgegangen:

•  durch eine allgemeine literaturbezogene Recherche und Erfassung von Online-Informationen in Bezug auf Behindertenarbeit im Raum Los Angeles,

•  durch Erstellung einer Liste an Behörden, Einrichtungen und Organisationen, denen eine leadership (führende Rolle) zukommt,

•  durch Gespräche und Leitfadeninterviews, Hospitationen und Beobachtungen »vor Ort« unter Berücksichtigung spezieller Fragestellungen, die sich auf unterschiedliche Bereiche wie frühe Hilfen, familienunterstützende Dienste, Familienarbeit, allgemeine Schule, Sonderschule, nachschulische Bildung3, Erwachsenenarbeit, Beschäftigung auf dem Ersten Arbeitsmarkt, Behindertenwerkstätten, Unterstütztes Wohnen, Leben in einer Wohngruppe, bürgerschaftliches Engagement, Freizeitgestaltung, Selbstvertretung, Wohnen und Leben im Alter erstreckt,

•  durch ergänzende Recherchen und Aufsuchen weiterer Gesprächspartner bzw. Organisationen, von denen ich noch interessante Informationen erwarten konnte.

Vor diesem Hintergrund gliedert sich mein Buch in zwei Hauptteile: Es beginnt mit der Darstellung der Regional Center, der die Beschreibung der Konzepte und Arbeit prominenter Dienstleister (provider) folgt, die für die konkrete Praxis vor Ort (z. B. in Bezug auf Arbeitsangebote, Erwachsenenbildung, gesellschaftliche Integration und Inklusion, Wohnen) zuständig sind. Abgerundet wird der erste Teil der Schrift mit einem Kapitel über die Selbstvertretung von Autisten. Alles in allem lässt sich aus dem ersten Teil das Fazit ziehen, dass das dargestellte System der Behindertenarbeit für die hiesige Situation anregend ist, aber nicht auf unsere Verhältnisse unvermittelt übertragen werden darf. So kommt zum Beispiel den Regional Center im kalifornischen System der Behindertenhilfe eine Schlüsselfunktion zu, welche für eine Bottom-up-Praxis wegbereitend ist, die dem Empowerment von Personen mit developmental disabilities (einschl. Autismus) dient. Hierzulande dominiert hingegen eine Top-down-Praxis, indem Eltern, Verbände, Träger der Behindertenhilfe oder Professionelle auf das Leben mit Autismus maßgeblich Einfluss nehmen. Das betrifft insbesondere die Bereiche des Wohnens und Arbeitens, die uns vor Augen führen, dass mit unterschiedlichen Formen eines Unterstützten Wohnens (supported living) und einer Unterstützten Beschäftigung (supported employment)4 quasi kontrapunktisch zum (hiesigen) institutionsbezogenen Denken, Planen und Handeln inklusive Angebote im Gemeinwesen für alle Personen – unabhängig der Art oder Schwere des Autismus – geschaffen werden können. Wichtige Anregungen beinhalten darüber hinaus Wege, die im Hinblick auf ein bürgerschaftliches Engagement behinderter (autistischer) und nichtbehinderter Menschen beschritten werden. Solche Wege, die ein inklusives Gemeinwesen und eine inklusive Kultur mit Leben füllen, setzen ein gewisses Maß an Akzeptanz, Wertschätzung und Toleranz gegenüber Menschen im Autismus-Spektrum voraus, welches hierzulande größtenteils erst ansatzweise beobachtet werden kann.

Im zweiten Hauptteil wird ein Blick auf das System Schule geworfen, bei dem die Frage der schulischen Bildung und Inklusion autistischer Schüler und Schülerinnen im Vordergrund steht. Diese lässt sich im Hinblick auf Fragen zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten (behavior problems) in Schule und Unterricht nicht losgelöst betrachten. Dieser zweite Teil zeigt auf, dass mit dem US-amerikanischen Erziehungs- und Bildungssystem (vgl. Public Law 108–446) Voraussetzungen für eine schulische Inklusion geschaffen wurden, die keinen Ausschluss von Kindern und Jugendlichen aufgrund einer Behinderung (Autismus) vorsieht. Damit ist dieses System einer Einheits- oder Inklusionsschule dem unsrigen, gegliederten Schulsystem mit segregierenden Sondereinrichtungen formal überlegen.5 Vorzüge des US-amerikanischen Systems ergeben sich zudem dort, wo eine aktive Mitwirkung von Eltern und Jugendlichen an der Planung eines individuellen (sonderpädagogischen) Unterstützungsbedarfs vorgesehen ist. Allerdings bestehen im US-amerikanischen Erziehungs- und Bildungswesen Unterschiede zwischen einer schulischen und unterrichtlichen Inklusion, weshalb die Adaption des Modells der »Schule für alle« an die hiesigen Verhältnisse einer differenzierten Betrachtung bedarf. Das betrifft ebenso Situationen, in denen ein qualitativ hochwertiger Unterricht in einer US-amerikanischen »Schule für alle« nicht gesichert erscheint sowie die schulischen Interessen, Möglichkeiten und Mittel begrenzt zu sein scheinen, um schwere Verhaltensprobleme zu bewältigen.

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass sich der Staat Kalifornien eine führende Rolle im Hinblick auf Dienstleistungen, Forschung, Wissen und Best Practice für Menschen im Autismus-Spektrum attestiert:

»California leads in services for ASD […] No other state has such an extensive infrastructure of community based programs and services across multiple systems of care available to individuals with ASD and their families. Many dedicated and skilled individuals work within these systems to provide high quality services« (RCLBR 2007, 8); und an anderer Stelle heißt es: »California leads in science, knowledge, and best practices on ASD. California is one of the leaders in the nation in the development of groundbreaking science, knowledge, and best practices on ASD« (ebd., 9). Tatsächlich gibt es sowohl im Großraum Los Angeles als auch in anderen Landkreisen Kaliforniens zahlreiche und renommierte, zumeist an Universitäten angegliederte Institute (z. B. Tarjan Center, the Center for Autism Research & Treatment, the Semel Institute and Resnick Neuropsychiatric Hospital at the University of California, Los Angeles; the Boone Fetter Clinic, Diagnostic, Clinical & Research Center for Autism at Childrens’s Hospital Los Angeles; the Medical Investigation of Neurodevelopmental Disorders Institute at the University of California, Davis; the Autism Research Program at the University of California, San Diego; the Pervasive Developmental Disorders Clinic at the University of California, San Francisco; the Koegel Autism Research Center at the University of California, Santa Barbara), die sich explizit der klinischen Autismusforschung und/oder der Untersuchung wirksamer (evidence-based) Therapien oder Interventionen verschrieben haben. Das betrifft nicht etwa nur an der Universität of California Los Angeles (UCLA) erprobte Verfahren in Anlehnung an I. O. Lovaas‹ Applied Behavior Analysis (ABA), die in der Los Angeles Area dominieren, sondern ebenso die Pivotal Response Treatment (PRT) oder andere pädagogisch-therapeutische Interventionsmodelle (z. B. natural interventions; positive behavior strategies & supports), die vor allem von R. u. L. Koegel und Team an der University of California, Santa Barbara entwickelt und evaluiert werden. Diese, über ABA hinausgehenden, nicht selten ressourcen- oder stärkenorientierten, familien- und gemeindebezogenen Interventionen gewinnen als wegbereitende Instrumente und Programme für gesellschaftliche Inklusion, Partizipation und Empowerment in Kalifornien zusehends an Bedeutung und finden nach meinen Beobachtungen gleichfalls im Großraum von Los Angeles immer mehr Zuspruch. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung, die durch meine Ausführungen gestützt wird, scheinen sich Kalifornien und insbesondere Los Angeles in der Tat gut zu positionieren, wenn es um Dienstleistungen für Personen aus dem Autismus-Spektrum und ihren Familien geht.

Bedanken möchte ich mich bei allen, die das Buchprojekt unterstützt haben, insbesondere bei Henriette Paetz für Übersetzungs- und Zuarbeiten sowie Diane Anand, Mary Bauman, Yudi Bennett, Rebecca Burkhardt, Pamela Clark, Rose Chacana, Karla Estrada, Nancy Franklin, Juan Godinez, Casey Gregg, Ray Hairapatian, Rebecca Hamm, Amy Hanreddy, Stephen Hinkle, Addison Hobbs, Harry Van Loon, Howard McBroom, Rosemarie Martinez, Sylvia Martinez, Steve Miller, Brenda Miranda, Jessica Morrow, Debbie Moss, Ari Ne’eman, Emily Owens, Jacki Pemental, Edward Perez, Gail Peters, Jorge Preciado, Gabriela Rojo, Scott Shepard, Eileen Skone-Rees, Maggie Smith, Jeff und Cindy Strully, Allen Terrell, David Thompson, Judith Weber, Bob Williams und Laura Zeff für anregende Gespräche. Ferner bedanke ich mich bei Hanna Rosahl-Theunissen für ihr Verständnis für meine längeren Aufenthalte in Los Angeles und Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag für die gute Zusammenarbeit.

1  Für manche zeichnet sich mit der massiven Zuwanderung von Mexikanern (hispanics), der Lateinamerikanisierung, der Expansion einer sozio-ökonomisch schwachen und größtenteils konservativ geprägten, aber auch sozial benachteiligten sogenannten »Parallelgesellschaft« und den spezifischen strukturellen Problemen ein sozialer Prozess ab, durch den sich das ambivalente Gesicht von Los Angeles (Reichtum und Veredelung vs. Armut und Verschmutzung) verschärfen und die Megacity zu einem schwer steuerbaren Moloch entgleiten würde.

2  Der Einfachheit und Lesbarkeit halber wird häufig die männliche Schreibweise (z. B. Autist, Pädagoge …) bevorzugt, Personen weiblichen Geschlechts sind dabei stets mitgedacht.

3  Um von vornherein Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich anmerken, dass im angloamerikanischen Sprachraum der Begriff education für Bildung (einschließlich Erziehung, Förderung, Unterricht) steht.

4  Befragungen und Schätzungen zufolge befinden sich heute etwa 20 % aller Erwachsenen mit developmental disabilities (einschließlich Autismus) aus dem Großraum Los Angeles in unterstützten (Einzel-)Wohnformen wie supported living oder independent living. 55–60 % aller Erwachsenen mit developmental disabilities leben in ihren Herkunftsfamilien. 10–20 % aller Erwachsenen im Autismus-Spektrum scheinen weithin selbstständig ohne Unterstützung zu leben (diese Angabe, die sich mit Befunden aus Großbritannien weithin deckt (dazu Barnard et al. 2001, 6), beruht nur auf Vermutungen einiger Gesprächspartner und ist nicht belegt; hinter dieser Angabe verbirgt sich auch eine Dunkelziffer an Personen in Armut und Benachteiligung, die als homeless gelten).
   Was Kalifornien betrifft, so befanden sich hier 2003 »more than 87 % percent of residents with ID/DD receiving residential services […] in locations with fewer than 16 individuals« (Waldman & Perlman 2006, 237) und 2006 etwa 87 % dieser Personen in Wohnformen bis zu sechs Plätzen und 10 % in Einrichtungen über 16 Plätzen (Prouty et al. 2007).
   USA-weit leben heute über 70 % aller Menschen mit intellectual disabilities/developmental disabilities, die nicht in ihrem Herkunftsmilieu wohnen, im supported living, independent living, in smaller group homes (1–3 Plätze) oder in larger group homes (4–6 Plätze; dazu auch Theunissen 2009, 375 f.; 2012a, 144).
   Auch in Deutschland wohnen über 50 % aller Erwachsenen mit Autismus im elterlichen Zuhause; nach Befragungen leben etwa 35 % in Heimen, ungefähr 1 % im sogenannten betreuten Einzelwohnen, 2 % im sogenannten betreuten Gruppenwohnen und 8 % selbstständig (Baumgartner, Dalferth & Vogel 2009, 112 ff.). Folglich dominiert hierzulande eindeutig eine Institutionalisierung autistischer Personen.
   Etwa 15 % aller Erwachsenen mit developmental disabilities (einschließlich Autismus) arbeiten in Kalifornien (USA-weit sind es derzeit etwa 30 %, davon 9,5 % im group supported employment) im Rahmen einer Unterstützten Beschäftigung (supported employment), und etwa 14,5 % (USA-weit etwa 24 %) sind in Behindertenwerkstätten (sheltered workshops; adult day centers) tätig (Butterworth et al. 2011, 10ff., 94). Diejenigen, die keiner bezahlten Tätigkeit nachgehen (65–68 %), erhalten, soweit sie über die Regional Center erfasst sind (insgesamt erhalten etwa 25 % aller Autisten keine Unterstützung durch die Regional Center), im Los Angeles County größtenteils gemeindebezogene Angebote einschließlich der Möglichkeit zu bürgerschaftlichem Engagement (USA-weit sind es ca. 43 % an Personen mit ID/DD, die alternativ zu einer Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt oder in einer speziellen Einrichtung »non-work services« erhalten (ebd., 12)). Leider liegen mir keine genauen Zahlen über Arbeitsverhältnisse von autistischen Personen vor. Im Großraum von Los Angeles scheinen 20–30 % aller Autisten im Erwachsenenalter auf dem ersten Arbeitsmarkt und etwa 20 % in beschützten Arbeitsstätten tätig zu sein. Insgesamt arbeitet in Kalifornien ein geringer Prozentsatz an autistischen Erwachsenen (ca. 2,5 %) ohne oder nur mit minimaler Unterstützung auf dem ersten Arbeitsmarkt.
   Demgegenüber sind in Deutschland bis zu 65 % der Erwachsenen aus dem Autismus-Spektrum in Werkstätten für behinderte Menschen und etwa 5 % auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt; etwa 30 % sind ohne Arbeit (Baumgartner, Dalferth & Vogel 2009, 14 f.). Auch in dem Zusammenhang dominiert hierzulande eindeutig die Institutionalisierung autistischer Personen. Jedoch ist im Unterschied zu Kalifornien bzw. den USA (dazu Butterworth et al. 2011, 22) der Anteil an Personen aus dem autistischen Spektrum, die keiner bezahlten Beschäftigung nachgehen, wesentlich geringer.

5  Etwa 86 % aller autistischen Schülerinnen und Schüler besuchen in Kalifornien eine allgemeine Schule. Dort werden ca. 43 % der Betroffenen zu über 80 % ihres Schultages in speziellen Klassen unterrichtet; 29 % partizipieren über 80 % ihres Schultages am gemeinsamen Unterricht mit nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen. Ungefähr 10 % werden in öffentlichen oder privaten Sonderschulen unterrichtet (vgl. RCLBR 2007, 44).
   Für Deutschland gibt es leider keine verlässlichen Angaben. Es darf angenommen werden, dass die meisten Schüler mit einem sogenannten frühkindlichen Autismus oder atypischen Autismus und geistiger Behinderung in einer Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung unterrichtet werden (dazu Trost 2010, 158; auch Baumgartner, Dalferth & Vogel 2009, 16). Es scheinen sich aber auch in anderen Förderschulen (K, L, E/V) nicht wenige autistische Schüler zu befinden (Trost 2010, 158). Etwa 1/3 aller Schüler aus dem Autismus-Spektrum, vor allem jene mit dem sogenannten Asperger-Syndrom (> 50 %), werden Befragungen und Schätzungen zufolge in allgemeinen Schulen unterrichtet (ebd., 159 f.). Unberücksichtigt bleibt bei allen Angaben sowohl in Bezug auf Kalifornien als auch Deutschland eine Dunkelziffer an autistischen Schülerinnen und Schülern (v. a. sogenannte HF-Autisten) in allgemeinen Schulen (RCLBR 2007, 44).

I   Leben, Wohnen und Arbeiten von Autisten im Gemeinwesen

1          Regional Center

Im Unterschied zu allen anderen US-Staaten gibt es in Kalifornien sogenannte Regional Center, deren prominente Aufgabe darin besteht, alle Dienstleistungen und Unterstützungsformen für Menschen mit developmental disabilities zu koordinieren. Dieses System der Regional Center wird von nicht wenigen Fachleuten als vorbildlich und nachahmenswert für die gesamten USA eingeschätzt.

1.1       Historisches

Bis vor wenigen Jahrzehnten war es in den USA, ja weltweit Gepflogenheit, Menschen mit developmental disabilities in großen Institutionen zu hospitalisieren. So gab es zum Beispiel in Kalifornien 1966 sieben staatliche Institutionen, in denen 13 200 Personen unter menschenunwürdigen Bedingungen ein tristes Leben fristen mussten (FDLRC 2006). Diese Situation stand seit den späten 1950er Jahren im Kreuzfeuer der Kritik. Ähnlich wie in Deutschland, wo es seinerzeit zur Gründung der Elternvereinigung Lebenshilfe gekommen war, hatte sich damals in Kalifornien eine Gruppe an Eltern behinderter Kinder und Professionellen (überwiegend Hochschullehrer) formiert, die die Zustände in den Institutionen nicht länger hinnehmen wollten und sich für die Verbesserung der Lage behinderter Menschen politisch engagierten:

»Around the state, groups such as the Exceptional Children’s Foundation in Los Angeles, San Francisco Aid to Retarded Children, and others were providing support for families and programming for persons with mental retardation by operating private schools, activity centers, sheltered workshops and residential services. In response to parent requests, church groups and other charities also began offering similar programs« (FDLRC o. J. b, 2).

Der elterliche Protest, der zu selbstorganisierten Empowerment-Gruppen und Vereinigungen führte, fand in Kalifornien politisches Gehör, was dazu führte, dass unter der Regie von Frank D. Lanterman, einem einflussreichen Landespolitiker, mit der Gründung von zwei sogenannten Regional Centern in San Francisco und Los Angeles ein Pilotprojekt zur Verbesserung der Lage behinderter Menschen auf den Weg gebracht wurde. Diesbezüglich ließen sich die Reformer von der Überzeugung leiten, dass statt einem medizinisch-psychiatrischen Leitmodell (dazu Theunissen 2012a) ein sozialpädagogisches Priorität haben sollte: »The great majority of the population of our hospitals require non-medical services – training in self-help and social adjustments […] schools, social services, […] vocational rehabilitation […] very much the same services that are furnished without question to the rest of our society« (FDLRC o. J. b, 3).

Zentrale Aufgaben der beiden Regional Center bestanden darin, Bedürfnisse von Menschen mit developmental disabilities zu erschließen und entsprechende Dienstleistungssysteme zu entwickeln, ihren Aufbau zu fördern und zu unterstützen sowie die Maßnahmen zu koordinieren und zu evaluieren. Dabei ergab sich die Präferenz für ein gemeindebezogenes (community-based) Unterstützungssystem, die mit dem sogenannten Normalisierungsprinzip Hand in Hand ging, welches in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre durch seine Repräsentanten N. Bank-Mikkelson und B. Nirje in Kalifornien bekannt gemacht wurde (FDLRC o. J. b, 3 f.). Angesichts der positiven Entwicklung und Ergebnisse (positive outcomes) wurde daraufhin von F. D. Lanterman ein Gesetzentwurf in die kalifornische Landesversammlung eingebracht, der vorsah, flächendeckend 21 Regional Center (jeweils für eine Region mit ca. 1,5 Millionen Einwohnern)6 zu implementieren. 1969 wurde der entsprechende politische Beschluss gefasst, dem bis heute in seiner aktuellen Formulierung als Lanterman Developmental Disabilities Services Act eine prominente Bedeutung zukommt. Mit den Regional Centern wurde zugleich der Weg für eine Deinstitutionalisierung, langfristige Verkleinerung und Schließung der staatlichen Großeinrichtungen geebnet, die seit 1978 als state developmental centers bezeichnet werden.

1.2       Deinstitutionalisierung und Community Living

Beflügelt durch die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren gründete einige Jahre später eine von Ed Roberts angeführte Gruppe körper- und sinnesbehinderter Menschen ein erstes Zentrum für Independent Living in Berkeley, CA (Theunissen 2009, 98 ff.). Heute gibt es in den USA etwa 500 solcher Zentren. 1973 kam es zur Gründung erster People-First-Gruppen in Kalifornien, die Menschen mit intellectual & developmental disabilities repräsentieren und sich zum Teil gemeinsam mit dem Independent Living Movement für ein »empowerment-model and supported living« (FDLRC 2006, 10) engagieren.

Vor diesem Hintergrund sowie auf der Grundlage weiterer Gesetze (z. B. im Hinblick auf frühe Erziehung und schulische Bildung behinderter Kinder; Beschäftigung behinderter Menschen auf dem Ersten Arbeitsmarkt) waren die Regional Center bestrebt, möglichst rasch in ihren Regionen ein wunsch- und zeitgemäßes Dienstleistungssystem aufzubauen und Prozesse der Deinstitutionalisierung zu unterstützen. Wurden sie hierzu vonseiten des zuständigen Departments of Developmental Services (DDS) der Regierung Kaliforniens mit dem Sitz in Sacramento, das seit 1978 als selbstständige Abteilung (unabhängig vom Department of Public Health) geführt wird, zunächst in ausreichendem Maße finanziell unterstützt, kam es später angesichts des staatlichen Haushaltsdefizits häufig zu Finanzierungsproblemen, durch die einige Vorhaben auf dem Gebiet der Deinstitutionalisierung und des Community Livings (Leben in der Gemeinde) ausgesetzt bzw. zeitlich verschoben werden mussten. So wohnten 1985 noch etwa 7000 Menschen mit developmental disabilities in acht staatlichen Großeinrichtungen. Zeitgleich wurden von den Regional Centern nahezu 80 000 Personen mit developmental disabilities bedient. Das dafür bereitgestellte Jahresbudget betrug knapp 320 Millionen US-Dollar.

Auch die nachfolgenden Jahre verliefen eher schleppend, wenngleich bei den Regional Centern weniger als bei anderen sozialen Hilfesystemen gekürzt wurde. So war bis zum Jahr 2010 das Budget für etwa 240.000 Klienten der Regional Center auf etwa 3,4 Milliarden US-Dollar »gedeckelt« worden.

Heute, im Jahr 2012, leben noch etwa 1200 Menschen mit developmental disabilities in staatlichen Institutionen, und die Anzahl an Personen, für die die Regional Center Unterstützungsleistungen organisieren, liegt bei etwa 250 000.7 Davon seien (nach mündlichen Angaben einiger Regional Center und einem Jahresbericht, vgl. WRC 2012, 2) etwa 35 % Autisten8, in dem Jahresbericht 2008 des State Council on Developmental Disabilities (SCDD 2008, 6) ist sogar von 60 % die Rede, im Jahr 2007 waren es 19,1 % und 1997 nur 7,1 % (DDS 2008, 15).

Ein aktuelles Problem stellt eine erneute Kürzung des Budgets durch den Staat Kalifornien dar (vgl. ASLA 2012). Gab es darüber hinaus in den letzten Jahren einen kontinuierlichen Anstieg an Spenden, so ist seit der jüngsten Banken- und Wirtschaftskrise das Spendenaufkommen um etwa 12 % rückläufig. Die finanziellen Einbußen haben dazu geführt, dass der Staat Kalifornien die Aufnahme (Statement of Eligibility) in das System der Regional Center leicht erschwert9 und die Kostenübernahme einiger Angebote (Transport; Freizeitaktivitäten und -veranstaltungen; musik-, kunst-, beschäftigungs- und physiotherapeutische Maßnahmen; sogenannte Außenseitermethoden) gestrichen oder gekürzt hat, um »Kernaufgaben« (community living u. ä.) sicherstellen zu können.

Ferner ist heute ein Unterstützungsmanager (service coordinator; case manager; caseworker) eines Regional Centers nicht mehr wie einige Jahre zuvor für maximal 66 Klienten, sondern für etwa 100 Personen mit developmental disabilites zuständig (ASLA 2012, 6; Howle 2010, 3; FDLRC mündliche Mitteilung 2012). Das birgt die Gefahr, dass für Personzentrierte Planungen (person-centered planning)10 nicht mehr ein notwendiges Maß an Zeit, Geduld und (kreativer) Investition aufgebracht werden kann, was ein »zielstrebiges Vorgehen« (straight procedure) und eine »bürokratische Vereinnahmung« (bureaucratically simplification and handling) zur Folge hat (so O’ Brien 2011). Dies kann ich nach meinen Beobachtungen weithin bestätigen. Zudem werden in zunehmendem Maße im Rahmen der Programmplanungen vonseiten der Regional Center (Unterstützungsmanager) Finanzierungsprobleme mit ins Spiel gebracht und kostengünstige Unterstützungsformen vorgeschlagen, die sich nicht mit den Wünschen der Person decken müssen und daher die Zusammenarbeit mit den Betroffenen oder ihren Familien erschweren. Dabei sollten gerade angesichts der vor wenigen Jahren konstatierten Unzufriedenheit von Eltern autistischer Kinder mit den Serviceleistungen, therapeutischen Angeboten und Programmen das Beziehungsverhältnis zwischen Dienstleistungssystem und Klienten sowie die Kooperationsformen nachhaltig verbessert werden (RCLBR 2007, 12).11 Zurecht warnt somit Meissner (2011, 383) vor einer inflationären Verwendung des Begriffs der »Personzentrierung« (person-centered), der in der Gefahr steht, sowohl von Regional Centern als auch von Dienstleistern für eigene Zwecke instrumentalisiert, ja missbraucht zu werden. Viele Unterstützungsmanager fühlen sich zudem überlastet, weshalb heute nicht wenige schon nach zwei Jahren ihren Job wechseln. Ferner ist es in Anbetracht hoher Arbeitslosigkeit in Kalifornien (12–14 %) schwieriger geworden, Menschen mit developmental disabilities auf dem Ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, was vor allem durch bürgerschaftliches Engagement (volunteering) behinderter Menschen (dazu später) aufgefangen werden soll.

1.3       Aktuelle Wohnkonzepte und Entwicklung

Nichtsdestotrotz ist soeben in Kalifornien noch einmal rechtlich kodifiziert worden (SCCCA 2009), dass in absehbarer Zeit alle Wohneinrichtungen (developmental centers) mit einer Gesamtgröße über 16 Plätze verkleinert werden sollen bzw. institutionalisierten behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde ermöglicht werden soll. Vor diesem Hintergrund wurden kürzlich vom North Los Angeles County Regional Center drei Projekte ausgeschrieben, die ein gemeindeintegriertes Wohnen in residential facilities (Wohneinrichtungen mit vier oder maximal fünf Plätzen) für bislang institutionalisierte Menschen mit schweren Behinderungen (profound & severe developmental disabilities, autism) und Verhaltensauffälligkeiten (severe behavioral challenges) sowie für (ältere) behinderte und pflegebedürftige Personen mit gesundheitlichen Problemen vorsehen. Bemerkenswert ist dabei die Orientierung an den Grundzügen zeitgemäßer Behindertenarbeit, die behinderten Menschen eine Stimme verleiht (Berücksichtigung von Wünschen) und keine Umhospitalisierung in neue gemeindenahe Institutionen (z. B. gruppengegliederte Wohnheime; große Wohngruppen > sechs Plätze) akzeptiert. Derzeit werden für Erwachsene mit developmental disabilities im Großraum Los Angeles folgende Wohnmöglichkeiten jenseits des Lebens in der Herkunftsfamilie oder in einer Pflegefamilie12 favorisiert:

1.  Wohngruppen (Wohnhaus) mit maximal sechs Personen, die sehr hohen Unterstützungsbedarf benötigen (Level 4H)13

2.  Wohngruppen (Wohnhaus) mit maximal sechs Personen, die hohen Unterstützungsbedarf benötigen (Level 4)

3.  Wohngruppen (Wohnhaus) mit maximal sechs Personen, die mäßigen Unterstützungsbedarf benötigen (Level 3)

4.  Wohngruppen (Wohnhaus) mit maximal sechs Personen, die geringen Unterstützungsbedarf benötigen (Level 2)

5.  Wohngruppen (Wohnhaus) mit maximal sechs Personen, die unterschiedlichen Unterstützungsbedarf haben können (z. B. Level 3–4H)

6.  Unterstütztes Wohnen (supported living) in einem Studio (Einraumwohnung), Apartment (i. d. R. Zwei- oder Drei-Raum-Wohnung) oder in einer Eigentumswohnung (condo) mit bedarfsbezogener Unterstützung, ggf. mit einem 24-Stunden-Dienst

7.  Unterstütztes Wohnen (supported living) mit bedarfsbezogener Unterstützung und einem (nichtbehinderten) Mitbewohner (roommate)

8.  Paar-Wohnen (supported living; independent living) mit bedarfsbezogener Unterstützung

9.  Unabhängiges Wohnen (independent living) in einem Studio oder Apartment mit sehr geringer Unterstützung

10. Unabhängiges Wohnen (independent living) in einem Studio oder Apartment einer Wohnanlage für 16–20 behinderte Menschen, die auf verschiedene Serviceangebote zurückgreifen können (sog. Focus- oder Service-Wohnen).

Im Prinzip sollten diese Angebote eine Option für alle Erwachsenen mit developmental disabilities sein – unabhängig der Schwere oder Art der Behinderung oder des Alters der Person; darüber hinaus werden allerdings für stark pflege- oder behandlungsbedürftige Menschen auch spezialisierte Wohnformen (intermediate care facilities; nursing homes oder congregate facilities) in Betracht gezogen und angeboten. Diese Einrichtungen werden, selbst wenn sie als eine Wohngruppe organisiert sind, kritisch gesehen (vgl. Meissner 2011, 384 f.), weil sie eine institutional care im Sinne eines institutionsbezogenen Denkens und Handelns repräsentieren, das mit der Deinstitutionalisierung und dem Community Living überwunden werden sollte.

Offiziell dokumentierten Angaben zufolge (DDS 2008, 10 f.) wohnten im Jahr 2007 52 % (1997: 46 %) aller von den kalifornischen Behörden (Department of Developmental Services; Regional Center) erfassten Erwachsenen mit developmental disabilities (N = 113 078) im familialen Zuhause, 20,1 % (1997: 24,3 %) in häuslichen Wohngruppen oder auch Pflegefamilien (z. B. community care facilities (from 2 to 12 people), group homes (from 2 to 6 people), adult foster care homes), 17,2 % (1997: 15,3 %) im supported oder independent living, 7,4 % (1997: 9,1 %) in spezialisierten Pflegewohngruppen oder Pflegeheimen (z. B. skilled nursing facilities; intermediate care facilities), 2,3 % (1997: 4,9 %) in staatlichen Institutionen (developmental center) und 0,9 % (1997: 0,4 %) in klinischen Settings (z. B. psychiatrischen Krankenhäusern, Rehabilitationszentren). Im Jahr 2012 dürfte (nach mündlichen Informationen bzw. Schätzungen verschiedener Gesprächspartner) der Anteil der noch im elterlichen Zuhause lebenden behinderten Erwachsenen (mit etwa 60 %) und der im supported oder independent living wohnenden Personen (mit 20 %) höher sein; zugleich sei (wie schon erwähnt) die Zahl der staatlich institutionalisierten Personen und auch die der in Pflegesettings oder Wohngruppen (z. B. community care facilities, group homes) lebenden behinderten Menschen weiter zurückgegangen. Nach dem Jahresbericht des Westside Regional Centers (WRC 2012, 2) lebten 2011 in Kalifornien fast 75 % aller Erwachsenen mit developmental disabilities in häuslichen Wohnformen: independent living, supported living, Adult Family Home Agency homes, and consumers’ family homes). Was das Wohnen von Kindern und Jugendlichen betrifft, so leben derzeit nahezu 99 % aller Heranwachsenden mit developmental disabilities in ihren Familien (WRC 2012; vgl. auch DDS 2008, 10 f.). Der derzeitige Anteil autistischer Kinder und Jugendlicher an der Gesamtzahl aller von den Regional Centern unterstützten Heranwachsenden mit developmental disabilities liegt nach mündlichen Schätzungen bei mindestens 35 %. 2007 lag der Anteil bei knapp 30 % (vgl. DDS 2008, 29).

Wie fortschrittlich die Behindertenarbeit in Kalifornien eingeschätzt werden kann, signalisieren die folgenden Leitaspekte (FDLRC o. Jb., 5 f.):