Pete Smith

wurde 1960 als Sohn einer Spanierin und eines Engländers in Soest geboren. An der Universität Münster studierte er Germanistik, Philosophie und Publizistik. Er schreibt Kinder- und Jugendbücher, Essays, Kurzgeschichten und Romane, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Der Autor lebt in Frankfurt am Main.

ISBN 978-3-748-10455-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Neuauflage Edition Gegenwind, Frankfurt am Main 2019

Reihe Belletristik/Jugendbuch

Eine frühere Fassung des Romans ist unter dem Titel „So voller Wut“ im

Ueberreuter Verlag, Wien, als TB im Fischer Verlag, Frankfurt am Main,

und als Schulbuchausgabe bei Schroedel, Braunschweig, erschienen.

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,Verbreitung

und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,einschließlich einer Verwertung

in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung,

einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, aus

drücklich vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Eunike Dorothea

© 2019 Pete Smith, Frankfurt am Main

www.pete-smith.de

www.edition-gegenwind.de

http://ronin.diarylife.de

Mood: disgusted

Music: The Prodigy

Ich bin. ICH. Ein Mensch. Kein Schoßhund, der dem Stöckchen seines Herrchens hinterherjagt, kein Wellensittich, den man in einen Käfig sperrt und nur unter Aufsicht fliegen lässt.

ICH BIN EIN MENSCH!

Ein Individuum, das selbst bestimmt. Wer es ist und was es sein wird.

Im Spiegel sehe ich einen Ronin auf dem Weg zu sich selbst. Wartend ziehe ich meine Kreise. Wie lange schon? Wie lange noch?

Um mich herum lungern nur noch Assis. Hohlköpfe, die ihr Hirn tagaus, tagein mit Werbebotschaften vollstopfen, anziehen, was gerade hip ist, quatschen, was die anderen quatschen, bloß um nicht anzuecken oder aufzufallen, Tropfen im Ozean der Konformität.

Wie erbärmlich ihr doch seid! Nur in euren Cliquen fühlt ihr euch stark, findet ihr den Mut, um euch herzumachen über die, die eine eigene Meinung haben, einen eigenen Stil, ein unverwechselbares Profil.

ICH VERACHTE EUCH!

Worauf ich warte? Ich weiß es nicht. In letzter Zeit frage ich mich immer öfter, was ich hier überhaupt noch soll. Worin der Sinn liegt, ein Leben zu leben wie dieses. Jeder Tag gleicht dem anderen: schlafen, aufwachen, funktionieren.

Überleben.

Nur wozu, wenn das Leben kein Erlebnis mehr bereithält? Was macht das für einen Sinn, eine Existenz fortzuführen, die jeden Sinn entbehrt?

Ich sollte Schluss machen. Die Berufenen opfern sich. Die Berufenen geben ihr Leben her, um andere zu erlösen. Die Berufenen setzen mit ihrem Opfer ein Zeichen.

Gegen die Dummheit!

Gegen die Ignoranz!

Gegen die Politiker-Lüge, dass alles irgendwann besser wird – wenn man nur lang genug wartet.

Wie ich das satt habe! Ich will nicht mehr warten.

Ich will leben.

Wenigstens ein letztes Mal noch ...

Inhaltsverzeichnis

Montag, 30. März, 7.55 Uhr

Jamal springt aus der Straßenbahn, setzt zum Spurt an, rennt einige Schritte, stoppt dann aber wieder ab und schlendert gemächlich weiter. Er ist eh zu spät, da kommt es auf ein paar weitere Minuten nicht mehr an.

Wie an jedem Morgen folgt er den Schienen, über die schon lange keine Straßenbahn mehr fährt. Es ist heiß. Wann gab es im März schon einmal solch eine Hitze? Jamal kann sich nicht erinnern. Vorboten der Apokalypse, denkt er. Behält Jasmin am Ende mit ihren düsteren Weltuntergangsszenarien recht?

Von der Hartmann-Ibach-Straße biegt er links in den Prüfling, wechselt die Straßenseite, zweigt kurz darauf nach rechts ab, schlängelt sich durch das Gassengewirr Alt-Bornheims und taucht wenig später auf der oberen Berger Straße wieder auf. Er kommt gern hierher, wenngleich er sich nicht mehr vorstellen könnte, hier zu leben. Dazu sind ihm die Straßen zu schmal, stehen ihm die Häuser zu eng beieinander. Jamal liebt die Weite. Vor allem liebt er den Blick über die Stadt. Den Hochhäusern der Vorstadt kann er daher mehr abgewinnen als die meisten seiner Freunde. Zurück ins Zentrum will er nicht.

Als er sich dem Heinrich-Böll-Gymnasium nähert, spürt er sofort, dass etwas nicht stimmt. Der Hof ist leer. Auch vor der Pausenhalle lungert niemand herum. Bevor er den Schulhof betritt, sieht er sich noch einmal um. Auf den Zufahrtsstraßen ist niemand unterwegs. Er geht auf das mächtige Eingangsportal zu. Die Scheiben darüber spiegeln den lichtblauen Himmel. Hinter einem der Fenster erkennt er ein Gesicht. Die kleine Leonie. Sie wohnt im selben Hochhaus wie er, zwei Stockwerke höher. Jetzt presst sie ihre Nase ans Glas und winkt ihm zu. Jamal winkt zurück.

Auf der Freitreppe bleibt er stehen. Dreht sich noch einmal um. Wieso ist ihm mulmig zumute? Ein letztes Mal lässt Jamal seine Blicke schweifen. Er stutzt, als er im Schatten der Mauer ein Polizeiauto entdeckt. Was ist hier los?

Kaum hat er die schwere Flügeltür aufgedrückt, steigt ihm der vertraute Muff in die Nase. In der Vorhalle ist es kühl. Vor der Treppe steht eine Gruppe von Lehrern, in eine hitzige Diskussion vertieft. Als sie ihn bemerken, verstummen sie. Direktor Vorkötter kommt auf ihn zu. Hinter ihm löst sich der Hausmeister aus der Gruppe.

„Du bist spät dran.“ Vorkötter sagt das ohne Vorwurf.

„Die S-Bahn ist ausgefallen“, lügt Jamal.

„Hat man dich informiert?“

„Worüber?“

„Also nicht.“

Vorkötter und Hausmeister Klausen wechseln einen raschen Blick. Die beiden Lehrer an der Treppe nicken sich noch einmal zu und gehen in verschiedenen Richtungen davon. Der Direktor holt Luft und bläst sie langsam wieder aus.

„Nun ja, es hat eine Morddrohung gegeben“, beginnt er. „Wahrscheinlich bloß ein makabrer Scherz, aber ... Würdest du bitte deinen Rucksack öffnen? Am besten, du machst ihn leer.“

Jamal sieht ihn verdutzt an. Der Hausmeister nickt zur Bekräftigung. Da es beide offensichtlich ernst meinen, schnallt Jamal seinen Rucksack ab, stellt ihn auf den Boden und holt nacheinander seine Bücher, Hefte und Schreibutensilien heraus. Dann legt er die in Folie eingewickelten Brote daneben und kippt den Rucksack um. Krümel regnen auf den Granitboden, worauf ihn der Hausmeister missbilligend ansieht.

„War das alles?“, fragt ihn der Direktor. Unter der Last der Verantwortung ist sein Rücken noch krummer als sonst.

Achselzuckend fummelt Jamal sein Smartphone, den Schlüsselbund und das Portemonnaie aus seinen Jeans. Endlich findet er auch seine Sprache wieder.

„Eine Morddrohung?“

„Jemand hat einen Amoklauf angekündigt“, erklärt Vor kötter. „In einem der Frankfurter Gymnasien. Bis die Angelegenheit aufgeklärt ist, müssen wir sie wohl ernst nehmen. Herr Klausen?“

Der Hausmeister macht einen Schritt auf Jamal zu. Seine verzerrten Züge spiegeln das Unbehagen, das er empfindet.

„Ich muss das jetzt tun“, entschuldigt er sich und beginnt, ihn abzutasten.

Jamal hebt automatisch seine Arme. Wie bei der Flughafenkontrolle, denkt er, während sich der Hausmeister bückt, um auch seine Beine zu befühlen. Durch Klausens lichtes, blondes Haar blickt Jamal auf eine stark gerötete Kopfhaut. Es ist, als ob ihm der Hausmeister ein Geheimnis verriete.

Klausen tritt zurück und leckt sich über die Lippen. „Nichts“, sagt er zum Direktor gewandt. Es klingt wie eine Entschuldigung.

„Jedem unserer Schüler steht es heute frei, den Tag daheim zu verbringen“, verkündet Vorkötter, während Jamal Bücher, Butterbrote und Hefte wieder in seiner Tasche verstaut. „Dadurch würde dir, abgesehen vom Unterrichtsausfall, keinerlei Nachteil entstehen. Natürlich wollen wir keine Panik schüren, müssen aber nach Rücksprache mit der Polizei gewisse Vorsichtsmaßnahmen einhalten. Bis auf weiteres bleiben die Schüler in ihren Klassen. Handys gehören während des Unterrichts wie immer ausgeschaltet, in den Pausen jedoch, ausnahmsweise auch in den kleinen, sind Telefonate mit euren Eltern erlaubt. Zur weiteren Information wurde eine Hotline eingerichtet, deren Nummer euch von euren Lehrern mitgeteilt wird. Noch Fragen?“

Jamal schüttelt den Kopf. Weder der Direktor noch der Hausmeister sehen so aus, als ob sie auf eine seiner Fragen eine Antwort hätten.

Vorkötter hat sich bereits abgewandt, dreht sich aber noch einmal nach Jamal um. „Können dich deine Eltern nach der Schule abholen?“

„Wieso?“

„Ja oder nein?“

„Eher nicht.“

„Nun gut, dann weiß ich zumindest Bescheid.“

Jamal läuft die abgewetzten Steinstufen hoch, schwenkt nach links und schlendert bis zum Ende des Gangs. Vor seinem Klassenzimmer hält er noch einmal inne. Von drinnen hört er Bittners Stimme. Jamals Herz schlägt schneller als sonst. Was soll das alles? Wissen Vorkötter und Klausen mehr, als sie sagen?

Jamal klopft, wartet einen Moment und tritt ein. Bittner steht am Smartboard und blickt ihn erschrocken an.

„Die S-Bahn“, erklärt Jamal.

„Ja?“

„Ist ausgefallen.“

Irgendwer lacht höhnisch. Jamal schlendert zu seinem Platz in der letzten Reihe und setzt sich neben Beck. Der grinst ihn an. Jamal packt seine Sachen aus und tut so, als ob er sich auf den Unterricht konzentriere. Dabei braucht es eine Weile, bis ihn Bittners Stimme tatsächlich erreicht und Jamal im monotonen Singsang seines Lehrers trigonometrische Strukturen identifiziert.

„… Kreisbogen mit Radius r und Winkel Alpha hat die Länge b gleich Alpha geteilt durch 360 Grad mal zwei Pi r ...“

Beck stößt ihn an. „Keinen Sprengstoffgürtel unter deiner Kutte?“

Jamal verdreht die Augen.

„Wenn ich meinen Wohnungsschlüssel dabei hätte …“

„Was dann?“

„Läge ich längst wieder im Bett.“

Jamal klappt sein Heft auf und schreibt ab, was Bittner ans Board pinnt. Beck geht ihm auf die Nerven. In letzter Zeit hat er den Eindruck, dass ihm Beck geradezu nachrennt. Er versucht sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweifen immer wieder ab. Jemand hat einen Amoklauf angekündigt. Vorkötter wirkte nicht gerade besorgt. Eher so, als sei er sauer. Und ein bisschen beleidigt. Natürlich wollen wir keine Panik schüren. Und wozu dann die Hotline?

Jamals Blicke schweifen umher. Alexander hat sich zu Birgit gebeugt und flüstert ihr etwas ins Ohr. Fabian kritzelt übers Pult gebeugt Bittners Formeln in sein Heft. Luka markiert den Angsthasen, Milos lacht. Basti beobachtet die beiden von der Seite, den Kopf in die Hand gestützt, demonstrativ gelangweilt. Quentin meldet sich schon eine Weile und beginnt nun, mit den Fingern zu schnipsen. Floyd, so scheint es, spielt mit Kafka Schiffeversenken. Marlon starrt aus dem Fenster.

Majas Samtblick trifft ihn in dem Moment, da er ihre Nachbarin Karen ins Auge fasst. Jamal lächelt sie kurz an und sieht dann weg. Karens Profil mit ihrer vernarbten Wange, ihren raspelkurzen Haaren und ihrer spitzen Nase bleibt ihm noch eine Sekunde vor Augen und verblasst dann ins Nichts. Warum die meisten aus seiner Klasse sie nicht mögen, versteht Jamal nicht. Er findet sie nett.

Als es zur Pause läutet, bleiben alle auf ihren Plätzen sitzen. Hitzige Gespräche setzen ein. Ausnahmezustand. Bittner klopft mit seinem Schlüssel aufs Pult.

„Alle mal herhören!“

Mit zusammengekniffenen Augen starrt er auf den Zettel in seiner Hand und schreibt einige Zahlen ans Board, offensichtlich eine Telefonnummer, die er dreimal umkringelt.

„Die Polizei hat eine Hotline eingerichtet, bei der sich Eltern über den Stand der Ermittlungen informieren können!“, ruft er in die Klasse. „Dort erfahrt ihr auch, wie man sich angesichts der aktuellen Bedrohungslage angemessen verhält. Schreibt euch die Nummer also auf und teilt sie euren Eltern mit.“ Bittner packt seine Tasche und stakst zur Tür. „Wir machen fünf Minuten Pause. Ich bitte euch, auf euren Plätzen sitzen zubleiben. Am besten, ihr nutzt die Zeit, um daheim anzurufen.“

Jamal lehnt sich zurück. Die meisten seiner Mitschüler kramen ihre Smartphones hervor. Andere gehen zum Fenster und blicken hinaus.

Beck beugt sich zu ihm. „Aktuelle Bedrohungslage – klingt sexy, nicht?“

Jamal sieht ihn an. „Weißt du, was das Ganze soll?“

Becks Augen blitzen. „Irgend so ein Spinner, keine Ahnung, im Radio meinte einer, dass die Mail ans Kultusministerium geschickt wurde, wenn du mich fragst, wollte der bloß mal kurz ...“

Jamal nickt, hört aber nicht weiter hin. Gerade hält Luka Milos den Zeigefinger an die Schläfe und drückt ab. Milos kippt zur Seite. Maja tippt sich an die Stirn.

Montag, 30. März, 13.15 Uhr

Jamal streckt sich. Gerade hat die Schulglocke das Ende des heutigen Unterrichts eingeläutet. Unschlüssig stehen die Schüler herum.

Selbst die allwissende Brückner blickt ziemlich ratlos drein. „Am besten“, schlägt sie vor, „sammeln wir uns erst einmal im Hof und warten auf Anweisungen.“

Neun Jugendliche folgen ihrer Erdkundelehrerin nach unten. Kaum mehr als ein Drittel der Klasse. Einige Mitschüler sind ihrer vermeintlichen Angst wegen gar nicht erst zum Unterricht erschienen, andere in der ersten großen Pause von ihren Eltern abgeholt worden, wieder andere haben sich die kollektive Aufregung zunutze gemacht, um ihre Osterferien von sich aus um einen Tag zu verlängern. Mit seinen knapp sechshundert Schülern ist das Heinrich-Böll-Gymnasium schon an normalen Tagen eine eher beschauliche Schule. So still wie heute, glaubt Jamal, war es noch nie.

Sie sind gerade am unteren Treppenabsatz angelangt, als es plötzlich knallt. Eine ohrenbetäubende Detonation, die dröhnend durchs Treppenhaus hallt. Einige Schüler stürzen in Panik die letzten Stufen hinunter. Schreie aus allen Richtungen. Marie kommt an der Tür zu Fall, Alexander stolpert über sie hinweg, andere drängen hinterher.

Der Knall kam von rechts. Jamal hat sich instinktiv zur anderen Seite weggeduckt. Jetzt kommt er wieder hoch. Neben sich hört er ein leises Kichern. Beck hält ein zerfetztes Papier in der Hand.

„Hey hey hey!“, ruft er nach unten und hebt beschwichtigend die Arme. „War doch bloß ’ne Tüte.“

„Du bescheuerter Idiot!“, schreit Tabea und stürmt auf ihn los.

Frau Brückner erwischt einen Zipfel ihrer Jacke und kann sie gerade noch zurückhalten. Weiß vor Wut und Bestürzung funkeln beide Beck an.

„Hast du sie nicht mehr alle?“, herrscht ihn die Lehrerin an.

Hinter sich hört Jamal Schritte. Herr Henke, der stellvertretende Schulleiter, taucht auf dem oberen Treppenabsatz auf.

„Was ist passiert?“

„Ein Witzbold“, antwortet Frau Brückner, ohne Beck zu verraten.

Herr Henke, wie immer in Anzug, Hemd und Krawatte, starrt sie ungläubig an. Schweiß steht ihm von der Stirn. Seine Lippen beben.

„Ein Witzbold?“

Er kommt die Treppe herunter, baut sich vor den Schülern auf und sieht sie der Reihe nach an.

„Wer war das?“

Niemand sagt etwas. Die meisten starren betreten zu Boden. Beck blickt wie hypnotisiert auf seine Uhr.

„Ihr seid doch nicht ganz bei Trost!“ Herr Henke wischt sich mit seinem Taschentuch über die Stirn. „Glaubt ihr, das ist ein Jux? Polizei, Rettungsdienst, Feuerwehr! Dass die alle in Alarmbereitschaft sind. Was denkt ihr denn, was das Ganze hier soll?“

Als das Schweigen übermächtig wird, wendet sich der stellvertretende Schulleiter kopfschüttelnd ab und schreitet wortlos die Treppe hoch, bevor er im Flur zum Lehrerzimmer verschwindet.

Schweigsam verlassen sie das Gebäude. Der Schulhof ist verwaist, doch unter dem Dach der Pausenhalle warten einige Schüler mit ihren Lehrern. Offenbar sind sie die letzten. Jamal sieht sich um. Das Polizeiauto ist fort. Ein Bus nähert sich und hält am Tor. Vorkötter kommt um die Ecke. Frau Brückner eilt auf ihn zu. Die beiden wechseln einige Worte. Der Direktor gestikuliert mal in die eine, mal in die andere Richtung. Als Jamals Erdkundelehrerin zurückkommt, wirkt sie ebenso ratlos wie zuvor.

„Wir sollen noch warten“, sagt sie. „Worauf genau, kann ich euch leider auch nicht sagen. Offenbar weiß niemand so recht Bescheid. Lasst uns zur Pausenhalle gehen, dort ist es zumindest etwas schattiger als hier.“

Jamal fingert einen Haargummi aus seiner Hosentasche und bindet seine Mähne zum Zopf. Normalerweise macht ihm die Hitze nicht viel aus. Aber heute klebt sie wie Zellophan auf seiner Haut.

Während er den anderen zur Pausenhalle folgt, hält er Ausschau nach Jasmin. Vielleicht hat sie es sich ja doch noch anders überlegt. Aufgrund der Anweisungen konnten sie sich den ganzen Vormittag nicht sehen. Normalerweise treffen sie sich während der großen Pause auf halber Strecke zwischen ihrem und seinem Gymnasium im Hof der Platanen. Vorhin haben sie kurz miteinander telefoniert. Ihre Antworten waren merkwürdig einsilbig.

Nein, sie könnten sich nicht sehen, da sie nach der vierten Stunde von ihren Eltern abgeholt werde.

Nein, am Nachmittag auch nicht, da müsse sie lernen.

Und ob sie abends Zeit habe, wisse sie auch noch nicht.

Ihre Stimme klang fremd. Dünn und splittrig. Als ob ihr die Angst im Nacken säße. Jamals Blicke huschen über die Köpfe der Schüler hinweg. Doch natürlich hat es sich Jasmin nicht anders überlegt. Statt in ihre dunklen Augen blickt er in Gesichter, die vor Erregung regelrecht zu glühen scheinen. Er schnappt Wortfetzen auf, die seinen Eindruck bestätigen. Von Bedrohung keine Spur! Der angekündigte Amok erscheint den meisten eher wie ein Spiel. Eine grell aufgezogene Show, die am Abend bestimmt im Fernsehen ausgestrahlt wird. Vielleicht spielt dann ja einer von ihnen mit. Selbst die Nebenrollen sind begehrt. Man könnte eines der Opfer sein. Oder die Freundin eines Opfers. Und wenn man Glück hat, wird man gecastet und darf beim nächsten Mal der Täter sein.

Jamal zieht sich in die hinterste Ecke der Pausenhalle zurück. Nach einer viertel Stunde taucht Vorkötter auf und verkündet, dass sie nun nach Hause gehen dürfen. Ratlos sehen sie sich an. Beck macht einen Witz, über den niemand lacht. Dann ziehen die ersten ab. Ein Film, denkt Jamal, bevor er sich selbst auf den Weg macht. Ein mieser Film. Am Schultor blickt er sich noch einmal um. Gerade schwingt das Portal auf. Frau Tabani tritt ins Licht, gefolgt von Hausmeister Klausen. Während die Schulsekretärin zum Parkplatz geht, bückt sich der Hausmeister und pickt irgendetwas vom Boden. Jamal wendet sich ab. Auf dem Weg zur Haltestelle denkt er an Jasmin, die ihm noch immer keine Nachricht geschickt hat. Was ist bloß mit ihr? Hat sie womöglich einen anderen?

Montag, 30. März, 21.40 Uhr

Jamal liegt im Bett. Er fiebert. Vorhin hat er das Fenster aufgerissen, aber von draußen weht nur der an- und abschwellende Strom der nahen Autobahn herein.

Der Fernseher ist stummgeschaltet. Bilder flimmern über den Monitor, die den Tag zu einer frühlingshaften Idylle verklären. Ein Weinberg im Gegenlicht, knospende Sträucher, Menschentrauben vor einem Café. Kein Wort über den angekündigten Amoklauf an einem Frankfurter Gymnasium, der selbst den Nachrichten nicht einmal eine Meldung wert ist.

Jamals Idylle scheint der Vergangenheit anzugehören. Wie in einem Fiebertraum trudeln seine Gedanken durch sein Hirn und geraten immer wieder in einen Sog aus Beklemmung, Verwirrung und Ohnmacht. Jasmin hat ihr Handy allem Anschein nach ausgeschaltet. Den ganzen Tag über hat sie ihn weder zurückgerufen noch ihm eine Nachricht geschickt. Aus lauter Verzweiflung hat er es mehrmals auf dem Festnetz probiert, aber nur ihre Mutter erreicht.

Beim ersten Mal war Frau Pollack wie immer – liebenswürdig, überdreht und bei bester Laune. Nein, gerade im Moment könne er Jasmin leider, leider nicht sprechen, sie habe sich hingelegt, direkt nach der Schule, ihr gehe es nicht gut, wahrscheinlich die Hitze oder, nun ja, er wisse schon ... Ob er es nicht später noch mal versuchen könne? Ein Schlaf wirke ja manchmal Wunder.

Beim zweiten Mal schlich sich ein Unterton in ihr abermaliges Bedauern, nicht gereizt, aber geschäftig, ein Wortschwall gegen jede weitere Belästigung: Nein, Jasmin sei für niemanden zu sprechen, auch mit ihm wolle sie momentan nicht reden, keine Ahnung, warum, sie als Mutter halte sich da lieber raus, das kenne man ja, am Ende sei man noch selbst die Dumme, egal ob Hitze oder Hormone … Wenn er fortan doch so nett sein wolle, es auf ihrem Handy zu probieren, da merke er ja gleich, ob sie nun gesprächswillig sei oder nicht.

Jamal wird nicht mehr anrufen, hat er beschlossen. Er und Jasmin kennen sich nun seit fast einem Jahr. Dass er sie mehr liebt als sie ihn, macht ihm nichts aus, damit hat er sich abgefunden. Er bedrängt sie nicht und rennt ihr nicht hinterher. Er lässt ihr die Freiheit, die sie sich sonst, das weiß er, einfach nehmen würde. Vielleicht ist es genau diese Haltung, die sie an ihm mag.

Normalerweise sehen sie sich fast jeden Tag, wenn auch meist nur recht kurz, weil Jasmin ehrgeizig ist und weder ihre Hobbys noch die Schule noch ihre Freundschaften vernachlässigt. Sie lernt intensiv, spielt Bass und Feldhockey, hat seit Jahren einen eigenen Instagram-Kanal und trifft sich regelmäßig mit ihren Mädels, um tanzen zu gehen oder sich irgendwelche Serien anzuschauen. Ihre Unabhängigkeit fasziniert ihn. An manchen Tagen strahlt sie ein geradezu schamloses Selbstbewusstsein aus, das es für Leute, die sie nicht kennen, schwer macht zu beurteilen, ob sie überheblich oder einfach nur übermütig ist.

Ängstlich hat er Jasmin jedenfalls noch nie erlebt.

Und auf keinen Fall so verstört und verletzlich wie heute.

Aus dem Zimmer seiner Schwester Lalita dringt Musik an sein Ohr. Irgendein Mädchenblues. Er greift nach der Fernbedienung und schaltet den Ton an. Zappt durch die Programme. Überall nur Talkshows und C-Promi-Gelaber. Hellhörig wird er erst, als er den Begriff Drohmail aufschnappt. Er dreht den Ton lauter.

„... mussten wir mit dem Schlimmsten rechnen“, sagt ein Mann in die Kamera, dessen grau meliertes, welliges Haar nach hinten gegelt ist. Eine Einblendung am unteren Rand des Bildes weist ihn als Sprecher der Polizeibehörde Frankfurt am Main aus. „Eltern und Schüler waren natürlich aufs Höchste verunsichert, aber die Frankfurter Polizei hat auf die Bedrohung mit Umsicht reagiert und die in Betracht kommenden Gebäude unauffällig, aber wirkungsvoll gesichert.“

Das Bild wechselt. Ein verwaister Schulhof. Die Kamera zoomt auf das Gebäude im Hintergrund. „Wie hier im Frankfurter Stadtteil Bockenheim“, hört man die Stimme des Sprechers, „blieben viele Schüler ihren Gymnasien an diesem Montagmorgen fern. Einige ließen sich durch die Drohmail jedoch nicht abschrecken. Ebenso wenig wie die meisten Lehrer.“

Im Bild erscheint ein Weißbart, der grimmig in die Kamera sieht. „Natürlich war ich heute wachsam“, erklärt er und reißt dabei seine Augen auf, „aber der, der das angekündigt hat, ist doch ein Spinner! Ich trete dem entgegen, indem ich wie immer unterrichte. Wir leben schließlich in Frankfurt, nicht wahr, und nicht in Kabul oder Bagdad.“