Zum besseren Verständnis verweise ich auf die Begriffserklärungen auf Seite → ff. Einige Namen sind aus Datenschutzgründen geändert.
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Gelangweilt streifte ich eines schönen Sonntags durch das Gelände der Fernmeldeschule, wo ich meinen A-Lehrgang absolvierte. Mein Weg führte mich zu der hohen Kante, von der man so einen herrlichen Ausblick über Flensburg, die Flensburger Förde und den Marinestützpunkt hatte. Eher zufällig fiel mir dabei an der Pommernbrücke ein Schiff auf, wie ich es noch nie in meiner bisherigen Marinezeit gesehen hatte. Vom Typ her ein Minensucher, wie die Ausrüstung des Achterdecks erkennen ließ, aber mit einem sehr seetüchtig erscheinenden, hochgezogenen Bug, der sich als hohe Back bis zur Mitte des Rumpfes hinzog, bevor er mit einem ausgeprägten Deckssprung ins Achterdeck überging. Ein Schiff mit einem ansehnlichen Steuerhaus und einem veritablen Schornstein hinter dem Brückendeck. Fast schon ein kleiner, seefester Dampfer, der zu dieser Stunde so dekorativ von der Spätnachmittagsonne angestrahlt wurde!
Von Neugier getrieben, ging ich hinunter auf die Pier, um mir den Gegenstand meines Interesses aus der Nähe anzusehen. Es war, wie ich hörte, ein Küstenminensuchboot der Klasse 320, das den Weg aus der Nordsee in die idyllische Flensburger Förde genommen hatte. Und wie ich weiter hörte, eines der insgesamt 18 Exemplare dieses Bootstyps in der Bundesmarine, die in Cuxhaven und Wilhelmshaven stationiert waren. Der Einsatz in der Ostsee war wohl eher selten, denn das mag der Grund gewesen sein, dass ich diesen Bootstyp bisher noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
Der Lehrgang an der Fernmeldeschule war fast zu Ende, die Versetzung zu einem neuen Kommando stand bevor. Gerne wäre ich wieder zur See gefahren, denn deshalb hatte ich mich damals für 4 Jahre zur Marine verpflichtet. Aber ein Landkommando war ebenso möglich, die Entscheidung darüber würde jedoch höheren Orts getroffen werden. Hier Einfluss zu nehmen, war mir nicht möglich.
Meine Fähnrichszeit zu Anfang des Jahres 1968 hatte ich in Olpenitz beim 5. Minensuchgeschwader auf dem Schnellen Minensuchboot STEINBOCK absolviert. Trotz des strengen Winters und trotz der Einöde im wenig bevölkerten Schwansen an der Ostseeküste im nördlichen Schleswig-Holstein hatte ich Freude an dieser Verwendung gehabt. Aber nun als Oberfähnrich zur See und im Anblick dieses KM-Bootes hätte ich mich jetzt, wenn man mich wählen ließe, für den Dienst auf diesem Bootstyp auf der rauen Nordsee entschieden.
Wenig später, nur Tage danach, hatte ich meine Versetzung in der Hand: Cuxhaven, 6. Minensuchgeschwader, Küstenminensuchboot KOBLENZ. Ich war sprachlos – was für ein glücklicher Zufall!
Nach langer und umständlicher Zugfahrt erreichte ich den Bahnhof von Cuxhaven. Als ich auf dem Bahnsteig stand, stieg mir bereits ein würziger Hauch der sommerlich warmen Seeluft in die Nase. Es roch salzig, ein wenig nach Fisch und mehr noch nach dem frischen Wasser der nahen Nordsee, die die Stadt zum wichtigen Hafen hatte werden lassen und deren weite Strände Cuxhaven auch zum Seebad machten.
Auf dem Vorplatz entdeckte ich eine Gruppe blau gekleideter Mariner, ich ging auf sie zu und sprach sie an. Volltreffer! Obermaat Krusche, der sich als Schmadding der KOBLENZ vorstellte, hatte mich mit einigen seiner Leute aus dem Seemännischen Abschnitt bereits erwartet, ein Unimog stand bereit. Fröhlich, aber für mein Gefühl ein wenig zu ausgelassen, wurde mein Gepäck, das im Wesentlichen aus dem marinetypischen „Zinksarg“ und der Marinetasche bestand, aufgeladen. Die „Lords“ jumpten hinterher auf die Ladefläche, Krusche und ich stiegen ein ins Führerhaus, und los ging es … zum Minensucherhafen im Süden der Stadt.
Das Fahrzeug quälte sich durch die engen, gewundenen Straßen dieses fast 50 Tausend Seelen zählenden Ortes, der auf dem linken Elbeufer gelegen ist, ganz am Ende des Festlandes, eben bevor Deutschland jenseits der Deiche zwischen Watten und Sänden in den Fluten der Nordsee versinkt. Wir verließen die Innenstadt, endlich ging es schneller voran. Wir kamen an Hafenbecken vorbei, ich sah Schiffe in kleinerer Ausführung, einen Tonnenhof, in der Ferne schien eine Werft zu sein, und gelegentlich war ein kurzer Blick frei auf die Elbe, die auf mich bei der Höhe der gegenwärtigen Flut den Eindruck der freien, weiten See machte.
Unvermittelt erfüllte das Führerhaus ein fürchterlicher Gestank. „Mach bloß die Fenster zu“, sagte Krusche zum Fahrer, und zu mir gewandt erklärte er: „Wir fahren gerade durch das Fischviertel, der Gestank ist hier erbärmlich“. In der Tat, trotz geschlossener Scheiben stieg ein unangenehm stechender Geruch in meine noch nordseeunerfahrene Nase. War das vielleicht der Grund für den delikaten Fischgeruch, den ich schon auf dem Bahnsteig genossen hatte?
Der Unimog durchfuhr jetzt eine Straße, die beiderseits von 2-stöckigen, rot geklinkerten Blocks bebaut war, Flachdach-Architektur mit Fischhallen zu ebener Erde, deren weit geöffnete, grün gestrichene Tore mir den Blick ermöglichten auf die hier tätigen Menschen, die, in weiße Kittel gekleidet, den eben angelandeten Fisch sortierten und verarbeiteten. „Männer, Frauen, fast alles Portugiesen, die riechen den Gestank schon nicht mehr. Unten arbeiten sie, in den Wohnungen darüber hausen sie. Für mich wäre das nichts!“, sagte Krusche zur Erklärung. Der Unimog umkurvte mehrere mit toten „Außenbordskameraden“ beladene Anhänger, die uns im Weg standen, wich einigen Gabelstapel-Fahrzeugen aus, die ganz ungeniert von allen Seiten die Straße querten und von waschechten Cuxhavenern gefahren wurden, denn der Fischfang gab damals noch in großem Umfang Arbeit.
Am Ende der Straße bog der Unimog nach rechts ab, passierte, den bestialischen Gestank zurück lassend, die Schleusenbrücke über den Neuen Fischereihafen. Vorbei an dessen endlos langem, aber völlig leerem Hafenbecken und vorbei an den zur Linken liegenden Rückfronten der schon zum Amerika-Hafen gehörenden Gebäude, führte uns der Weg weiter nach Süden. An einer Bebauungslücke dieser sonst so geschlossenen Häuserfront hielten wir an. Es war die Wache. Der Schlagbaum ging hoch, der Stützpunkt der Bundesmarine im Minensucher-Hafen, im südlichen Teil des Amerika-Hafens, war erreicht.
Die Formalien waren schnell erledigt. Einige Kurven noch, dann sah ich schon die Boote des 6. Minensuchgeschwaders vor mir an der Pier liegen.
Der Wagen hielt vor dem unscheinbaren Gebäude an, einer grauen Baracke aus dem letzten Krieg, in dem der Stab des 6. Minensuchgeschwaders untergebracht war. Ich ging hinein und meldete mich beim S1, dem Personaloffizier OLt.z.S. Geissler, der mich gleich „zum Chef“ weiter schickte. Auch dort meldete ich mich formgerecht „zur Stelle“. Fregattenkapitän Lipps nahm meine Meldung entgegen, hieß mich im Geschwader willkommen und eröffnete mir dann im angenehmen Plauderton, dass ich mein hoffentlich glückliches Oberfähnrichsdasein ab sofort und in Einübung auf die Planstelle eines 2. Wachoffiziers auf der KOBLENZ zu fristen habe, was mir allerdings bereits bekannt war.
Als ich die Baracke verließ, ging mein Blick automatisch hinüber zu den 8 Booten des Geschwaders, die mit dem Bug zum Land zu beiden Seiten der Pier festgemacht hatten. Diese hohe, offensichtlich in langen Jahren der Benutzung etwas ramponierte Anlegebrücke ließ durch ihre mächtige Konstruktion die Kraft und Stärke der nahen Nordsee erahnen, die tief hinunterreichenden Bohlen zeugten von Ebbe und Flut, von Sturm und Wellengang. Ein Bild, so ganz anders, als ich es an der Ostsee erlebt hatte.
„Erich-Koellner-Brücke“ stand auf dem Schild seitlich der Auffahrt, auf der die Geschwaderwache Posten bezogen hatte. Der Offizier der Wache nahm mich in Empfang und wies mich ein. Die KOBLENZ – bezeichnet mit der militärischen Nummer M 1071 – lag unübersehbar gleich vorn links, dennoch wurde ich vorschriftsmäßig von dem „Läufer der Wache“ an Bord geleitet.
Der Weg führte mich über die Stelling auf das Backbord-Seitendeck des Achterdecks, dann links entlang. Durch ein massives, offenstehendes, ovales Schott betrat ich den Quergang im Inneren des Schiffes und sofort stieg mir ein Geruch in die Nase, der mir nach langer Seefahrtszeit so vertraut war und der in seiner allgemeinen Ausprägung auf allen Schiffen der Deutschen Bundesmarine gleich ist, aber in der speziellen dann doch seine markanten und identifizierbaren Unterschiede hat: eine Mischung aus Dieselkraftstoff, kaltem Zigarettenrauch und Kombüsenausdünstungen „nach Art des Hauses“.
Einige Meter den Quergang entlang, dann war ich auf dem Mittelgang, der mittschiffs durch das Vorschiff nach vorn führte. Gleich die erste Tür links war der Eingang zur IWO-Kammer. Ich klopfte an, und als ich nach der Aufforderung „Herein!“ eingetreten war, meldete ich mich bei Leutnant zur See Strunk, der als IIWO vertretungsweise die IWO-Geschäfte der KOBLENZ führte. „Der Kommandant ist an Bord“ sagte Strunk, nachdem er mich begrüßt hatte, „wir sollten ihn informieren“. Zusammen stiegen wir den Niedergang hoch, der an Steuerbordseite vom Quergang nach oben führte, und machten dem „Alten“ in dessen ansprechender Kammer die Aufwartung. Meine Meldung lautete: „Oberfähnrich zur See Blatt, ich melde mich zum Dienst!“
Leutnant z.S. Strunk hatte, obwohl nominell IIWO, schon seit einiger Zeit die Aufgaben des IWOs und damit auch dessen Kammer übernommen. So wurde mir von ihm, gleich nebenan, die IIWO-Kammer zugewiesen, wo ich von nun an mit dem dort logierenden Fähnrich zur See Raeder für die nähere Zukunft „Tisch und Bett“ zu teilen hatte.
Raeder stellte sich schon gleich als sympathischer, netter und zuvorkommender Kammerkamerad heraus, dessen Vater zu dieser Zeit noch aktiver Kapitän zur See der Bundesmarine war, der jedoch selbst kaum militärische Laufbahnambitionen zu haben schien. Klaglos nahm er es hin, nun als „IV WO“ eingestuft zu werden, denn mir als höherem Dienstgrad stand nun die – allerdings ziemlich wertlose – Dienststellung „III WO“ zu.
Die Kammer machte einen engen, aber doch wohnlichen Eindruck, sie war überwiegend in edel lackiertem Mahagoni gehalten, bis auf die sichtbaren, weiß gestrichenen Spanten der Bordwand gegenüber der Tür. Vom Eingang her links befand sich der Lüfter, der lautstark kalte bis warme Luft in den Raum blies, dahinter war das in einer Kommode verborgene Waschbecken, dann folgten die spindähnlichen Schränke. Der mittige Tisch war umstellt von dem L-förmigen Sofa, dessen langer Teil an der Bordwand eingebaut war und dessen kurzer Teil an der rechten Querwand direkt bis an einen kleinen Schreibtisch in der Ecke heran reichte. Die Wand rechts, zum Mittelgang hin gelegen, war von zwei übereinander liegenden Kojen besetzt, die alkovenartig in den Raum gebaut waren. Ein stabiler Schreibtischstuhl davor komplettierte die Einrichtung.
Mit der Kammer war ich bestens einverstanden. Ich nahm die freie obere Koje in Beschlag und fing an, meine Sachen in den großzügig bemessenen Schrank einzuräumen. Mein vorläufiger Eindruck zu dieser Wohnsituation fiel so aus: So gut wie hier war ich bisher noch nirgends bei der Marine untergebracht gewesen! Mein Mitbewohner würde mich kaum stören – und das Wichtigste war doch: Ich war an Bord eines Küstenminensuchers gelandet, wie ich es erhofft hatte.
Anschließend ließ ich mir vom Fähnrich das Boot zeigen und erklären:
Die Unterteilung des Vorschiffs eines KM-Bootes, in dem bis auf den Kommandanten die ganze Besatzung logierte, war einfach und übersichtlich. Auf der Backbordseite des Mittelgangs lagen von mittschiffs nach vorn: die beiden WO-Kammern, die Bootsmannskammer für den Sperrmeister Weber, der für die Minenräumabteilung zuständig war, und den Motorenmeister Zenker, sowie die Wachtmeisterei, wo das MG, die Handwaffen und deren Munition, aber auch Akten und Geheimsachen verwahrt wurden. Davor, in einer Verbreiterung des Mittelgangs, waren die geländergeschützten, fast immer offenen Bodenluken eingelassen, durch die es hinunter ging zum 6-Mann-Deck der Heizer und zum 15-Mann-Deck der restlichen Mannschaftsdienstgrade. Auf der Steuerbordseite des Mittelgangs, gegenüber der IWO-Kammer war die ABC-Schleuse eingebaut, die gasdicht nach außen und innen mit einem Schott hermetisch geschlossen werden konnte, zur Zeit aber im Wesentlichen als Sanitär-Raum für die Offiziere und Bootsleute diente. Davor, der IIWO-Kammer gegenüber, lag die Offiziers-Messe, um deren zentralen Tisch sich ebenfalls ein L-förmigen Sofa und einige Stühle gruppierten, während die Wände überwiegend mit Schränken besetzt waren. Die tägliche Essenseinnahme, Besprechungen aller Art und Gelegenheiten nachdienstlicher Entspannung waren Sinn und Zweck dieses Raumes, der aber bei „Klar Schiff zum Gefecht“ als zentraler Sanitäts-Raum eingeplant war. In der Ecke zur Bordwand stand der große Kühlschrank. Sich an dessen Inhalt zu vergreifen, war neben den Messebenutzern nur den Bootsleuten vorbehalten.
Bugwärts vor der O-Messe lag die PUO-Messe – ein Raum für die Portepee-Unteroffiziere, wie die Bootsleute und Feldwebel auch heute noch genannt werden, seit sie im 19. Jahrhundert diesen ursprünglich nur für Offiziere vorgesehenen Fangriemen am Säbel getragen hatten. Hauptsächlich jedoch war die PUO-Messe die Kammer des Schiffstechnischen Meisters Stabsbootsmann Utecht, der als Leiter des Hauptabschnitts „Maschine“ in diesem nobel getäfelten und wohnlich eingerichteten Raum residierte, aber zur Essenszeit diesen mit den anderen Bootsleuten zu teilen hatte.
Vor der PUO-Messe lag nur noch die die Bootsmannskammer, wo der E-Meister Kraibich und der offiziell als Decksmeister, inoffiziell als „Seemännische N.1“ oder als „Schmadding“ bezeichnete Obermaat Krusche recht komfortabel logieren konnten.
Vorne endete der Mittelgang, der die „Hauptstraße“ und „Lebensader“ des ganzen Bootes zu sein schien, an den Sanitärräumen der Mannschaften und der „Unteroffiziere ohne Portepee“. Direkt im spitz zulaufenden Bugbereich war nur noch die Vorpik, wo Tampen aller Art, Farben, Pinsel und Reinigungsgeräte gelagert wurden.
Eine genauere Besichtigung dieser Nebenräume schenkten wir uns. Aber es reizte mich, einen Blick in das 15-Mann-Deck zu werfen. Ich war jedoch angenehm überrascht: Verglichen mit den Verhältnissen auf einem Schnellen Minensuchboot, wie ich sie während der Fähnrichszeit auf dem „Steinbock“ kennen gelernt hatte, schien der Platz gut ausreichend dimensioniert zu sein, zumal die 3-stöckigen Kojenverschläge platzsparend jeweils an den Bordwänden angebracht waren. Auch wenn die obere Koje nur in einem Kletterakt zu erreichen war, so hatte doch jeder Matrose seine eigene, gemütliche Schlafstelle. Fast so wie in der IIWO-Kammer, wo allerdings nur zwei Kojen übereinander eingebaut waren.
Mittschiffs, wo der Mittelgang rechtwinklig an den Quergang stieß, war die ebenfalls geländergeschützte Bodenluke zum Unteroffiziersdeck eingelassen. Der schmale Niedergang führte hinunter zum Logis, in dem 12 Obermaate, Maate und „unteroffiziersdiensttuende Hauptgefreite“ ganz ähnlich wie im 15-Mann-Deck untergebracht waren. Achterlich vom Quergang befanden sich nur noch die Räumlichkeiten der Kombüse.
Weiter an Steuerbord, direkt neben dem Außenschott, führte uns die schmale Treppe nach oben in den Decksaufbau zum zentralen Plottraum, um den nach achtern die Kommandantenkammer, nach vorn links der Funkraum, mittig der Durchgang zum Steuerstand und vorn rechts der offene Navigationsplatz angeordnet waren.
Eigentlich war der Plottraum gekennzeichnet durch den zentralen Plott-Tisch zur Darstellung von Gefechtslagen und durch die voluminöse Sonar-Anlage zur U-Boot-Jagd. Dennoch schien das wichtigste Gerät hier der Fernseher zu sein, der an der Decke zwischen allerlei Leitungen so angebracht war, dass trotz der Enge der Räumlichkeit für mehrere Zuschauer die Möglichkeit gegeben war, dessen Schwarz-Weiß-Bild betrachten zu können. Es war klar: Nur frühes Erscheinen nach Dienstschluss würde hier einen Platz ohne Sichtbehinderung garantieren können.
Der Blickfang im Navigationsbereich war eindeutig der große Kartentisch mit den Schubladen voller Seekarten. Diese, sowie die Bücher nautischen Inhalts in den Regalen, das kompakte Decca-Anzeige-Gerät für die elektronische Navigation auf den speziellen Hyperbel-Karten und der Sichtfunkpeiler – all das waren Gegenstände, um deren Inhalt und Funktion ich mich in der Einarbeitung auf die Planstelle eines „Bootsoperationsoffiziers“ und 2. Wachoffiziers ganz besonders zu kümmern hatte. Die dekorativ angebrachte, chromglänzende Navigationsuhr unterstrich das maritime Ambiente dieses Ortes.
In die Kommandantenkammer hatte ich bereits bei meiner Meldung einen Blick werfen können: Viele Bulleyes sorgten hier für Tageslicht in diesem attraktiv möblierten Raum, der zu dem unerhörten Komfort der Tageshelligkeit auch einen eigenen Zugang hatte zu dem kleinen Querdeck zwischen Brückenaufbau und Schornstein. Hier, wo sich die beiden Seitendecks des Vorschiffs vereinigten, war ein windgeschützter Aufenthalt während der Fahrt möglich, ebenso wie ein prüfender Kontroll-Blick auf das Achterdeck, von hier war über die Treppen nach oben der schnelle Zugang über das Peildeck zur Brücke, sowie nach unten zum Achterdeck und zum Maschinenleitstand gegeben. Alles in Allem: Die Kammer des „Alten“ war ein heller und lichter Raum mit eigener Terrasse! Welch ein Luxus, der seinesgleichen in der bundesdeutschen Flotte suchte!
Über den Durchgang nach vorn gelangten der Fähnrich und ich zum einige Stufen höher gelegenen Steuerstand. Dieser quer zur Schiffslängsrichtung liegende Raum war in 5 Arbeitsbereiche eingeteilt: Ganz links war der Standort des Navigationspersonals mit dem Kartentisch für die Navigationsarbeit während der Fahrt. Die dort angebrachte Schalttafel ermöglichte die Bedienung aller Positionslichter und Navigationssignale. Eine Echolotanzeige mit graphischer Darstellung auf Papierrollen war ebenfalls vorhanden.
Halblinks imponierte das auffällige Schaltpult für den „Posten Maschinentelegraf“, der die Fahrtstufenhebel für die beiden Wellen zu bedienen hatte und ebenso die Hebel zur Steigungseinstellung der Propellerblätter an beiden Schiffsschrauben – von „Steigung null“ bis auf „Steigung voraus 10“ oder „Steigung zurück 8“. Der Vorteil dieser Verstellpropellertechnik lag auf der Hand: Die beiden 2000 PS starken Antriebsmotoren brauchten weder umgesteuert noch deren Wellen ausgekuppelt zu werden, eine Steigungsänderung der Propellerblätter würde genügen, um eine Vorwärtswirkung, eine Rückwärtswirkung oder eine Null-Wirkung zu erzeugen.
Genau in der Mitte des Steuerstandes hatte der „Posten Rudergänger“ seinen Sitzplatz, direkt hinter dem nicht allzu großen Steuerrad und mit guter Sicht auf den Kreiselkompass, auf den Magnetkompass sowie durch das Bulleye über den Bug nach voraus. Von hier wurde das Schiff gesteuert über zwei Ruder, die von den beiden Propellern angestrahlt wurden, sodass eine effektive Ruderwirkung gewährleistet war. Halbrechts war das große Decca-Radargerät eingebaut, und ganz rechts hatte der Signäler seinen Platz, an dem das UHF-Sprechfunkgerät zur Kommunikation im Fernbereich bis 40 Seemeilen und das Unterwassertelefon zur Kommunikation im Nahbereich von Boot zu Boot zur Verfügung standen.
Insgesamt 9 Bulleyes erhellten den Steuerstand ganz ordentlich und ließen einen ausreichenden Ausblick nach vorn und zu den Seiten zu. Diese Sichtmöglichkeit war von großer Wichtigkeit einerseits für den Rudergänger, der u.a. in der Kiellinie „den Vordermann voraus zu nehmen“ hatte, und andererseits bei der Fahrt im ABC-Verschlusszustand, da dann alle Luken hermetisch geschlossen waren und das Boot von hier aus geführt wurde.
Das ovale Schott an der Rückseite des Steuerstandes führte über wenige Stufen hinauf auf die Brücke der KOBLENZ.
Hier, unter freien Himmel, nur mäßig geschützt von einer soliden Windschutzscheibe nach vorn und zu beiden Seiten, war der Platz des Kommandanten im Gefecht, hier war der Arbeitsplatz des fahrenden Wachoffiziers und seiner Ausgucks, von hier wurde das Boot in Fahrt befehligt und die Fahranweisungen an den Steuerstand gegeben. Auf diesem Platz, durch einen Lattenrost soweit erhöht, dass der Blick über die Windschutzscheibe gut möglich war, würde auch ich schon in wenigen Tagen bei Wind und Wetter meinen Job als WO zu machen haben.
Zu beiden Seiten des Brückenbereichs war jeweils eine ungeschützte Nock angebracht, ein klappbarer Ausleger zur Verbreiterung der Brücke – ein luftiger und, zumindest bei gutem Wetter und wenig Seegang wegen der Anlehnmöglichkeit, ein recht bequemer Ort für den fahrenden Wachoffizier – mit ungestörter Sicht nach vorn auf den Bug und darüber hinaus, zur Seite und auf das Achterdeck, sowie auf den freien Seeraum dahinter.
Das Brückendeck setzte sich nach achtern als Peildeck fort, dessen Fläche zu einem großen Teil von der erhöht stehenden, relingumfassten Kanonenfernsteuerung eingenommen wurde. Dieser Apparat erinnerte entfernt an das Vorderteil eines Motorrollers, der Sitz war ganz ähnlich, ebenso die Windschutzscheibe, hinter der die Zieloptik positioniert war. Anstelle eines Lenkers war jedoch ein Steuerknüppel eingebaut, der das Gerät horizontal drehte sowie die Zieloptik vertikal bewegte. Angekoppelt an die Kanone, würde diese alle Bewegungen mitmachen.
Zu beiden Seiten des Peildecks waren erhöhte Signalstände in die Reling eingebaut, von denen aus die Morsescheinwerfer bedient wurden, und davor die Kompasstöchter des Kreiselkompasses. Die dort bei Seefahrt aufgesetzten, für die terrestrische Navigation absolut unabdingbaren Peildiopter gaben diesem Teil des Decks den Namen.
Am achteren Ende des Peildecks erhob sich mittschiffs die etwa 4 Meter hohe, vierbeinige Metallgitterkonstruktion, welche die Radarantenne trug und den hohen Mast, von dessen Rah die Leinen zum Setzen der Signalflaggen auf den Mastgarten hinunter gespannt waren. Dahinter, am Ende des Peildecks und teilweise an die Reling gebaut, befand sich das Flaggenstell – jeweils ein breiter, flacher Holzkasten mit allen Flaggen des Internationalen Signalbuchs. Beidseits davon führten Niedergänge hinunter zum Querdeck und von dort weiter zum Achterdeck.
Von diesem Standort am Ende des Peildecks hatte ich einen guten Überblick am Schornstein vorbei nach achtern auf die Arbeitsplattform des Sperrabschnitts, die vollgestellt war mit der übergroßen Kabeltrommel für das Magnetschleifengerät, mit der schweren Winsch für das Scherdrachenräumgerät und mit vielen anderen Gerätschaften wie gelben Schwimmern, weißen Scher- und Tiefendrachen, roten Bojenkörpern, grauen Geräuschbojen und dazu 5 Kränen, die zum Aussetzen und Einnehmen all dieser Gerätschaften bestimmt waren. Einen ersten Rundgang konnte ich mir dort ersparen, denn das Achterdeck eines jeden Minensuchers war überall ähnlich aufgeteilt, und das war mir bekannt seit meiner Zeit auf dem SM-Boot STEINBOCK.
Der abschließende Rundblick galt dem 900 Meter langen und 500 Meter breiten Amerika-Hafen. Dessen nördlicher Teil, „Lenzkai“ genannt, gehörte zum zivilen Handelshafen, die Stichpiers, die an der Westseite in die Wasserfläche hineinragten, waren bereits militärisches Gebiet, wie das Grau der dort liegenden Transport- und Hilfsschiffe unschwer erkennen ließ. Von Norden und von Süden gleichermaßen gut gegen die Elbe geschützt, schien diese Hafenanlage, die über die mittig gelegene, 250 Meter breite Einfahrt gut erreichbar war, ein sicherer Platz bei fast allen Wetterlagen zu sein.
„Das ist die Magnetpier“, sagte Raeder, auf die südliche massive Mole weisend. Auch er hatte die Geschichten aus der Vergangenheit gehört, als mehrmals die Fregatten des 2. Geleitgeschwaders, die bis vor kurzem in Cuxhaven stationiert waren, wie von einem Magneten angezogen unliebsame Bekanntschaft mit diesem Bollwerk gemacht hatten. Über die Grenzen des Hafens hinweg ging der Blick auf die bei diesem Sommerwetter so blau schimmernde Elbe, die sich wegen des gerade herrschenden Hochwasserstandes der Tide bis zum Horizont erstreckte. Nur ganz rechts schien ein schwacher, dunkler Streifen die Küste von Schleswig-Holstein erahnen zu lassen, während im Süden und Westen, jenseits des Stützpunkts, die grünen Deiche Niedersachsens jegliche Sicht ins Land verhinderten.
Während die Magnetpier letztlich nur ein gut befestigter, betonarmierter Deich war, der im Süden die Abgrenzung zur Elbe bildete, war das im Norden anders. Hier war ein mächtiger Kai der Schutzwall zur Elbe, der außen als Tiefwasseranleger für die HAPAG-Überseedampfer und ähnlich große Schiffe genutzt wurde und innen für kleinere Fahrzeuge, sowie für zwei riesige Schwimmkräne. STEUBENHÖFT wird dieser ganze, den Amerika-Hafen im Norden begrenzende Landekopf mit all den Kaianlagen nach Süden, Norden und Osten genannt, dessen auffälligster Punkt der hohe, in rotem Klinker erbaute Uhrenturm des dortigen Bahnhofs war. Die massive Bebauung des STEUBENHÖFTS, die Schiffe am Lenzkai, die hohen Hafenkräne waren ein interessanter Anblick, doch sie versperrten die Sicht auf die Silhouette der weit nördlich davon gelegenen Stadt Cuxhaven.
Wir gingen den Weg zurück, auf dem wir gekommen waren, und passierten das schräg nach vorn geneigte, ovale Brückenluk. Durch den Steuerstand erreichten wir den Plottraum, stiegen jedoch nicht den Niedergang zum Quergang hinab, sondern traten durch das große Außenschott ins Freie zur Inspizierung der Back, die bei allen Minensuchern der Flotte ähnlich ausgerüstet war: Zwischen der Ankereinrichtung am Bug und dem weiter mittschiffs gelegenen Brückenaufbau, geschützt von einem kniehohen Wellenbrecher, war die auf vielen Schiffs- und Bootstypen der Marine verwendete Kanone positioniert. Zwar durch eine feste Plane wetterfest bedeckt, war dieses Geschütz mir seit langem in allen Einzelheiten bekannt: Eine Bofors L 70 – Kaliber 40 mm – aus schwedischer Herstellung. An einer Waffe dieses Typs hatte ich damals vor Kalifornien auf dem Schulschiff DEUTSCHLAND die Schießausbildung genossen.
Die Flotte der Bundesmarine war derzeit eingeteilt in „Schiffe“ und „Boote“. Der Unterschied war weder von Form und Größe, sondern von der Führungsform bestimmt: Das „Schiff“ der Marine hatte einen 1. Offizier, genannt IO, welcher der direkte Disziplinarvorgesetzte der Besatzung war, während der Kommandant bereits die nächsthöhere Disziplinarinstanz war. Das „Boot“ der Marine dagegen hatte keinen 1. Offizier, sondern einen 1. Wachoffizier, genannt IWO. Dieser führte zwar auch die Geschäfte des Inneren Dienstes, war aber nicht der direkte Disziplinarvorgesetzte, denn das war der Kommandant! Die nächsthöhere Disziplinarinstanz wurde hier von dem Kommandeur des Geschwaders ausgefüllt. Die KOBLENZ war demnach ein Boot, auch wenn es wirklich schon wie ein richtiges kleines Schiff aussah, mit dem mächtigen Schornstein und allem, was dazu gehört.
Im Jargon der Marine und in Abgrenzung zu den „Dickschiffen“ wurden die „Boote“ der Flotte auch „Kleinboote“ genannt – so auch die KOBLENZ, trotz einer Länge von immerhin ca. 48 Metern, einer Breite von 8,30 Metern und einer Verdrängung von 488 Tonnen. Die beiden 2000 PS starken Hauptmaschinen, die jeweils über eine Welle einen Verstellpropeller antrieben, sorgten für eine Fahrtgeschwindigkeit von über 18 Knoten. Der hohe Bug und die langgezogene Back gaben dem Boot die gute Seetüchtigkeit, die auch im rauen Wasser der Nordsee notwendig ist. Die 41-köpfige Besatzung, zu der ich nun gehörte, war gut untergebracht, weit besser als auf den Schnellbooten oder den Schnellen Minensuchbooten der Flotte. Allerdings fehlte auf der KOBLENZ der gemäß „Stärke- und Ausrüstungsnachweisliste“ erforderliche IWO – und wir Fähnriche waren in dieser Liste gar nicht vorgesehen.
Alles in allem, mein Eindruck war eindeutig: Der Minensuchboottyp der „Lindau-Klasse“ schien sehr gelungen zu sein, und ich freute mich auf die Fahrenszeit auf dem Küstenminensuchboot KOBLENZ.
Sofort nach dem Dienstausscheiden – und keinen Moment später – verließen Kommandant und IIWO ebenso das Boot, wie sämtliche Bootsleute und die Mehrzahl der Unteroffiziere, die alle in Cuxhaven ortsverheiratet waren, das Boot leerte sich. Nur Minuten später wurde vom Backschafter in der O-Messe für Raeder und mich zum Abendessen aufgebackt: Tee, Brot, Butter, verschiedene Sorten an nass-kalter Schnittwurst – ein marineweit bekanntes und einheitliches Abendessen, das wir mit zurückhaltender Sympathie zu uns nahmen. Anschließend machten Raeder und ich den Stellungswechsel in unsere viel gemütlichere Kammer. Es sollte ein beschaulicher Abend werden bei einem guten Schluck Ballantines, dem üblichen Getränk an Bord, falls nicht Bier gereicht wurde.
Um 2000 Uhr unterbrachen wir unsere Abendgestaltung und versuchten, einen Fernsehplatz im Plottraum zu ergattern. Leider aussichtslos, denn das Gedränge der interessierten Mannschaftsdienstgrade war zu groß. Der stattdessen angedachte Weg in die Stadt erschien uns für diesen Werktag dann doch zu weit, so saßen wir bald wieder in der Kammer. Ich hatte noch viele Fragen, die ausreichend Gelegenheit gaben, ein lehrreiches Gespräch zu führen. Ganz nebenbei kamen wir noch einmal auf das Thema „ABC-Schleuse“ zurück, die ich in der genauen Funktion bisher so nicht kennen gelernt hatte. Raeder erklärt mir das so: „Vor einigen Jahren ist diese Schutzausrüstung einer „atomar-biologisch-chemisch sicheren Zitadelle“ nachträglich in das Boot eingebaut worden. Damit soll dem Schiff die Möglichkeit gegeben werden, atomar, biologisch oder chemisch verseuchte Gebiete zu durchfahren. Dazu werden alle Außenschotts geschlossen, im Boot wird ein Überdruck hergestellt, damit absolut nichts durch eventuelle Undichtigkeiten von außen in diese „Zitadelle“ eindringen kann. Die ABC-Schleuse jedoch ermöglicht es, Leute in Schutzanzügen auf das Oberdeck zu schicken oder von dort wieder zurück zu holen. Das äußere Schleusenschott befindet sich neben dem Steuerbord-Quergang-Schott, in der Schleuse kann die Kontaminierung abgeduscht werden und durch das innere Schleusenschott erreicht man den Mittelgang. Während des ABC- Verschlusszustandes wird das Boot von dem Steuerstand aus gefahren, sogar die achtern liegenden Maschinenräume sind vom U-Deck durch ein Wandschott zu erreichen.“
Man hatte offensichtlich an alles gedacht, und hoffentlich wird es nie dazu kommen, die Funktion der ABC-Schleuse mal in der Realität ausprobieren zu müssen! Auch in der Marine war jedem klar, dass im Falle eines Atomkrieges ohnehin alles vorbei sein würde. Aus diesem Grunde musste übrigens schon vor einiger Zeit der Generalinspekteur Trettner zurücktreten, der doch tatsächlich die Absicht hatte, an der „Zonengrenze“ zur DDR Atom-Minen zu installieren.
Das lange Gespräch bis weit nach Mitternacht, der Whisky, der die Zungen ölte, hatten uns müde gemacht. Ich kraxelte in die Koje im 1. Stock, während Raeder eine Etage unter mir in Schlaf-Position ging. Mein erster Tag an Bord der KOBLENZ lag hinter mir – und viele sollten folgen.
Erfreulicherweise und anders als damals beim 5. Minensuchgeschwader in Olpenitz begann der Dienst am nächsten Morgen für uns Fähnriche mit dem Wecken erst um 0730 Uhr, derweil die Mannschaften schon seit einiger Zeit auf dem Mittelgang lautstark „auf und nieder“ tobten. Immerhin hatten die bereits auf dem Achterdeck die Kartoffeln geschält, als wir zum Waschvorgang am viel zu kleinen Waschbecken schritten, das nur eine schnelle, eingeschränkte Form der Bordhygiene weit oberhalb der Gürtellinie zuließ. Dann, gereinigt und erfrischt, stiegen wir in das hochmoderne, herrlich knitterfreie Nyltest-Hemd, das Nonplusultra des gepflegten Herren.
Nur Minuten später saßen wir voll uniformiert in der Messe und gönnten uns den ersten Kaffee des Tages. Da kam der Kommandant, begleitet vom IIWO, herein gestürmt – völlig aufgelöst! Noch im Stehen berichtete er: „Die Russen sind einmarschiert … in die Tschechoslowakei!“
Und so war es auch: Seit Mitternacht rollte die Invasion von Warschauer-Pakt-Truppen. Zwanzig sowjetische, polnische, ungarische und bulgarische Divisionen mit insgesamt einer halben Million Soldaten hatten die Grenzen überquert, um das Land zu besetzen und den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ des Ministerpräsidenten Alexander Dubcek zu beseitigen. Bei dem vereinzelten Widerstand hatte es bisher mehr als 20 Tote gegeben. Noch war nicht klar, ob die Truppen an der Grenze zu Bayern Halt machen würden, aber bisher hatte die NATO nicht reagiert. Noch war kein Befehl gekommen, doch es war zu jeder Zeit damit zu rechnen. Ein mulmiges Gefühl stieg in mir auf. Wird es etwa Krieg geben? Auf jeden Fall war das jetzt der Spannungsfall, der bisher immer die Ausgangslage für jedes Manöver der Bundeswehr gewesen war.
Flaggenparade. Der IIWO ging hoch auf die Brücke, wir Fähnriche folgten ihm. Um 0755 begann diese Zeremonie, wie überall in der Bundeswehr, damit pünktlich um 0800 Uhr alle Kasernen und Schiffe ordnungsgemäß beflaggt sein würden: Ein langer Pfiff mit der WO-Trillerpfeife, dann der Befehl über die Oberdeckslautsprecher: „Zur Flaggenparade!“ Ein Hoheitsakt begann, der auf allen Booten und Schiffen gleichzeitig durchgeführt wurde und so den ganzen Hafen konzertant erfüllte. Die Bootsmannsmaatenpfeifen schrillten, die Offiziere legten grüßend die Hand an die Mütze, die anderen Dienstgrade, aber auch zufällig anwesende Zivilisten verharrten im „Stillgestanden“, in gemessener Langsamkeit wurden die Flaggen an Bug und Heck, aber auch die Fahnen vor den Dienststellen an Land vorgeheißt. Ein Doppelpfiff beendete die Flaggenparade.
Das nächste Mal sollte diese Aufgabe von uns Fähnrichen durchgeführt werden. Kein Problem, auf dem STEINBOCK hatte ich das oft genug mitgemacht, und eigentlich sollte es auch reichen, die vom Wachboot des Geschwaders ausgehenden Befehle auszuführen. Dennoch war offensichtlich – die für viele Gelegenheiten so unentbehrliche Trillerpfeife gehörte in die Jackentasche eines jeden WO, auch ich sollte sie mir zulegen – und zwar bald!
Sofort danach fand die Morgenmusterung auf dem Achterdeck statt, der Kommandant wollte diesmal selbst sprechen. Der IIWO stand mit dem Rücken zum Heck, die Besatzung war im offenen Karree angetreten. Der UvD meldete die Vollzähligkeit. Danach begann der IIWO mit seinem Vortrag und verkündete die Tagesbefehle, bis es hieß: „Besatzung stillgestanden! Zur Meldung an Kommandant: Augen rechts!“ Der Kommandant schritt ins Karree, übernahm vom IIWO die Musterung und sagte: „Rührt Euch!“ Dann, nachdem er die politische Lage dieses Morgens erklärt hatte, stellte er mich der Besatzung vor.
Anschließend kam der Fregattenkapitän Lipps an Bord. In seiner Eigenschaft als Geschwader-Kommandeur ließ er umgehend alle Kommandanten des 6. Minensuchgeschwaders in die O-Messe der KOBLENZ bitten, wo nun die gegenwärtige Lage erörtert wurde. Schnell war die Entscheidung gefallen: Alarmzustand! Alle Boote des Geschwaders waren sofort „seeklar“ zu machen. Läufer stoben los, um die unverzügliche Ausführung dieses Befehls zu veranlassen. Alles wartete nun ungeduldig auf die Anweisung von „ganz oben“. Laut Einsatzplan hätte das Geschwader ohnehin längst im Verfügungsraum Helgoland sein müssen.
Jedoch, ein Befehl zum Auslaufen kam nicht. Die NATO wollte offensichtlich in dieser Situation nicht provozieren, aber es war auch ganz klar, dass der Westen vom Einmarsch der Russen und der mit ihnen verbündeten Truppen völlig überrumpelt worden war. Noch war zwar die Besetzung der Tschechoslowakei nicht abgeschlossen, aber einzugreifen gedachte man bei der NATO nicht, obwohl die Liste der Toten immer länger wurde. Darüber hinaus wurde deutlich: Die Invasionstruppen hatten an den Grenzen zu Bayern Halt gemacht – und: Die NATO wird sich auch weiter ruhig verhalten!
Während der nächsten Tage an Bord wurde kaum ein anderes Thema diskutiert. In Prag und anderen Städten war es zum Widerstand gekommen, es wurde geschossen, doch der „Prager Frühling“ wurde niedergewalzt. Das 6. Minensuch-Geschwader war weiterhin klar zum Auslaufen, sicherheitshalber. Der Fernseher im Plottraum lief pausenlos, doch man merkte bereits, dass die westliche Politik begann, die Situation herunterzuspielen. Kanzler Kiesinger und der Oppositionsführer Willy Brandt waren schon der Meinung, dass „die Invasion vielleicht doch nur ein Autounfall auf der Straße zur Entspannung“ sei.
Das Geschwader ging wieder zur Tagesroutine über, die „Seeklar-Bereitschaft“ war aufgehoben. Das passte mir sehr gut, denn das Wochenende stand vor der Tür, und das Wetter würde gut genug sein für meinen ersten Erkundungsgang durch Cuxhaven.
Fähnrich Raeder war ebenso von Bord, wie alle Ortsverheirateten und Wochenendurlauber. So zog auch ich schon am Morgen dieses schönen Tages los, um der Stadt, in der ich nun mit 2. Wohnsitz gemeldet war, meinen ersten Besuch abzustatten. Ich verließ den Stützpunkt und ging die Straße hinunter, am Amerikahafen entlang nach Norden, überquerte die Schleuse des Neuen Fischereihafens, dann bog ich ein in die Straße der Fischindustrie: Wie ein Hammer schlug mir der Gestank ins Gesicht! Im Geschwindschritt versuchte ich diesen von Gasen der Zersetzung und Verwesung erfüllten Ort hinter mich zu bringen. Aber auch an diesem Samstagmorgen waren dort die Menschen der Belegschaft an ihrem Arbeitsplatz tätig, es war ein Trawler eingelaufen, dessen Ladung zügig verarbeitet werden musste. Trecker mit offenen Anhängern voller Fisch fuhren hin und her, Gabelstapler mit Kisten kurvten herum. Dazwischen machten sich Möwen mit viel Geschrei über heruntergefallene Kabeljaus her, die zertreten auf der Straße lagen. Niemand störte sich daran. Und niemand hatte Zeit, einen Blick auf die große Möwe zu werfen, die samt ihrer Beute von einem Autoreifen zu Tode gequetscht worden war und nun wie ein Mahnmal der Friedensbewegung einen Flügel dekorativ gen Himmel reckte.
In den offenen Fischhallen sah ich die portugiesischen Gastarbeiter, Männer wie Frauen, bei emsiger Arbeit. Hier wurde im Akkord der Fisch portioniert und gekocht, Kisten mit Eis geschleppt und Geld verdient. Niemand störte sich an irgendetwas, nicht an der Situation auf der Straße und nicht am Gestank in der Luft, denn man arbeitete hier und wohnte direkt über den Fischhallen. Ich aber sah zu, dass ich den Ort verließ.
Die in einiger Entfernung nördlich davon gelegene Stadt Cuxhaven war von den Geruchsemissionen der Fischindustrie bei dem üblicherweise vorherrschenden Westwind nicht berührt und erschien mir wohnlich und angenehm. Ich bemerkte das große Kaufhaus in der Mitte, dem ich einen Besuch abstattete, ich registrierte die Geschäfte, die von reger Wirtschaft kündeten, ich sah die Gasthäuser, die vom Seebad-Tourismus gut zu leben schienen. Flott zu Fuß marschierte ich nun auf dem Deichweg in Richtung Elbe, zur Rechten der Alte Hafen mit Schiffen, kleinenWerften und dem Tonnenhof auf dem jenseitigen Ufer. Zur Linken sah ich hinunter auf die im Wilhelminischen Stil der Jahrhundertwende erbauten Häuser der Stadt. Zuletzt passierte ich das berüchtigte, für uns Mariner verbotene Lokal „Elbe I“, das in der Biegung einer unscheinbaren Seitenstraße stand, aber vom hohen Deich aus gut zu erkennen war. In früheren Zeiten, als die See noch frei war und die deutsche Fischfangflotte größer und mächtiger, hatte es dort regelmäßig Schlägereien mit den Fischtrawler-Besatzungen gegeben, die in den wenigen Tagen des Urlaubs hier die Gelegenheit nutzten, die Heuer „auf den Kopf zu hauen“. Diese Zeiten waren wohl vorbei, seit die Isländer die „200 Seemeilen Wirtschaftszone“ durchgesetzt hatten, in der nur sie selbst das Fangrecht besaßen. Viel war jetzt in der „Elbe I“ nicht mehr los, aber verboten war das Lokal für die Männer der Bundesmarine immer noch.
Als der Deich, auf dessen Krone ich wanderte, nach links zur anderen Straßenseite abknickte, um dort die Fortsetzung zu nehmen, bevor er ganz nach Norden abbog, stieg ich die Treppe hinunter. Dann durchschritt ich das große Tor des Sperrwerkes, das bei Gefahr einer Sturmflut geschlossen wird, und erreichte im Vorland die Kais des Alten Hafens, an denen Ausflugsdampfer, Lotsenschiffe, Bugsier-Schlepper und der Seenot-Rettungskreuzer ARWED EMMINGHAUS lagen. Von hier war es nicht mehr weit bis zur deutschlandweit bekannten Anlegebrücke „Alte Liebe“, an der das Wasser der Elbe mächtig gurgelnd vorüber floss.
An dieser Stelle und im Anblick der Umgebung in Nah und Fern, erinnerte ich mich des Textes im Seehandbuch, das ich auf Anweisung des Kommandanten gerade erst durchgearbeitet hatte: „Die Elbe, der für den Seeverkehr wichtigste Strom Deutschlands, erweitert sich unterhalb von Brunsbüttel zu einem trichterförmigen, von ausgedehnten Sänden eingefassten Auslauf zwischen Cuxhaven und dem „Land Hadeln“ auf der niedersächsischen Seite und der Landschaft „Dithmarschen“ auf der schleswig-holsteinischen Seite. Die Breite der Mündung zwischen Cuxhaven und Friedrichskoog, dem äußersten Punkt in Dithmarschen, beträgt etwa 10 Seemeilen. Aber noch 15 Seemeilen seewärts dieser Linie liegen Inseln, Sände und ausgedehnte Watten, zwischen denen der Hauptstrom und die Nebenströme hindurch führen.“
Gerade so wie die anwesenden Tagestouristen, so stand auch ich auf dem mächtigen Bollwerk „Alte Liebe“, das schon so vielen Stürmen getrotzt hatte, und ließ den Blick über die weite Wasserfläche schweifen. Im Norden erstreckte sich die Nordsee bis zum Horizont, im Osten, ganz in der Ferne, war ein schmaler dunkler Streifen von Dithmarschen zu erkennen. Zu meinen Füßen strömte die Tide, die Wellen klatschten gegen die Dalben, das Wasser spritzte. Direkt vor mir changierte die Elbe braun und grün, doch weiter entfernt, wo die Dampfer nach Hamburg oder nach Übersee ihre Bahn zogen, da schimmerte sie so blau wie der Himmel.
Im Süden, elbeaufwärts, jenseits des Alten Hafens und jenseits des Fischereihafens, gewahrte ich die mächtige, 400 Meter lange, mit riesigen Kränen bestückte Kaianlage, die als Teil des Landekopfs STEUBENHÖFT Deutschlands bekanntester Anlegeplatz war für die Überseedampfer der „Hamburg-Amerika-Linie“. Gut und besser situierte Passagiere, aber auch mittellose Auswanderer hatten hier die Möglichkeit, mit dem Zug in den Bahnhof hinter den berühmten HAPAG-Hallen einzufahren, um auf kurzem Weg und trockenen Fußes an Bord zu gelangen. Für viele Auswanderer, die notgedrungen oder abenteuergetrieben der Heimat für immer den Rücken kehrten, war der aufragende, weithin sichtbare Uhrenturm des Bahnhofs im Augenblick des Abschieds das letzte markante Bauwerk auf deutschem Boden. Dieser Turm des Bahnhofs hatte bei vielen, die nie wieder zurückgekehrt waren, diesseits des „Großen Teichs“ einen ähnlichen Erinnerungswert, wie jenseits dessen die Freiheitsstatue von New-York.
Nachdem ich mich satt gesehen hatte an dieser für mich so grandiosen Kulisse, verließ ich die „Alte Liebe“, deren Namen übrigens herrührt von einem hölzernen Schiff namens OLIVIA, dessen Rumpf vor über 200 Jahren zum Bau des ersten Anlegers an dieser Stelle verwendet worden war. Auf dem Weg zurück, wenige Schritte landeinwärts, hielt ich an und betrachtete interessiert, aber auch mit einem gewissen Gefühl der Beklemmung das 4 Meter hohe, von einer echten Mine gekrönte, einfach gemauerte, aber dennoch beeindruckende Minensucher-Denkmal, auf dessen gusseiserner Platte ich die martialische Inschrift las:
„Wo aus Tiefen der Tod
deutsche Kriegsfahrt bedroht,
setzen Männer sich ein,
dass frei sollten sein
die Andern.“
Diese Inschrift war zwar nicht mehr der Tenor der 1960-er Jahre, und dennoch hatte dieses Denkmal seine Berechtigung, denn Cuxhaven war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der große, zentrale Minensucherhafen Deutschlands gewesen, ganz besonders in den Weltkriegen und in den Jahren danach, als abertausende Minen in der Nordsee geräumt werden mussten. Achthundert Minensuchboote waren zwischen 1945 und 1952 im Einsatz gewesen, und viele Seeleute hatten ihr Leben gelassen bei dieser gefährlichen Arbeit auf See.