Nachdruck oder Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Verlags.
ISBN 978-3-8423-9373-8
© 2003 by Verlag videel OHG, Niebüll
http://www.videel.de
Alle Rechte liegen bei der Autorin
Gesamtherstellung: videel, Niebüll
Umschlagentwurf: Ingeborg Bauer
Seitenlayout: Michael Böhme, Neukirchen
Bibliografische Information der deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet
at http://dnb.ddb.de.
Mental Maps
Anna-Geschichten
Der Blumenstrauß
Der verlorene Teddy
The Lost Teddy
Unvorhersehbar
Hazard
Entbehrung oder die Puppe
Deprivation or the Doll
Ins Unreine Leben
To Make Amends
Kaffeeklatsch
Cake and Something
Erlkönig
Kinderspiel
Mit den Fingern berühren
Ausgefranste Oberfläche
Metamorphose I
Das Kind im blauen Kleid
Freiheit der Utopie
Fliegender Teppich
Gefäße
Mädchenbrunnen in der
Via Giulia in Rom
Mignons Lied
Caprichos oder Piranesis Räume
Nausikaa
Traumata
Spielräume
Chaos des Anfangs oder Schlafloser Kampf
Metamorphose II
Bewegtes Zeichen
Was wäre der Mensch
Schreiben
Töchter der Europa
Ariadne
Von den Grenzen der Liebe
Urmütter
Du sollst dir kein Bildnis machen
Adams Söhne - Evas Töchter
Die Töchter der Mnemosyne
Wie Orpheus singen
Der Puppenspieler
Der Zeichner
Der Maler
Der Schriftsteller
Der Stoff, aus dem die Träume sind
Ins Leben geworfen
Das Ich als Nabe
Zum Zeichen verdichtet
Die Straßen der Kindheit
sind ihres Pflasters beraubt.
Das Mauerwerk ist geglättet,
so dass die alten Geschichten
daran abgleiten. Bodenhaftung
ist ins Netzwerk
der Erinnerung gerückt.
Das Gedächtnis bewahrt
in Furchen und Falten
Facetten und Zeichen
auf ergrabenen
Scherben.
Die Landkarten der Befindlichkeit
sind gefühlsbeladen
eine Spurensicherung schwierig -
und aus dem Nebel
steigen Bilder auf,
die wie alte Fotografien
unverrückbar auf dich schauen:
ein Fels in der Brandung,
an dem du dich wund stößt,
an den du dich klammerst.
Die Mutter hatte Anna
in den Park geschickt
zusammen mit einem Freund der Familie.
Anna mochte ihn sehr.
Er war so lustig und
begann auch sogleich
mit seinen geschickten Fingern
ein Kasperltheater -
nur für Anna.
Aber dann bestand er darauf,
dass Anna Blumen pflücke für die Mutter
im Park - und Anna wusste,
dass man das nicht durfte.
Anna war ratlos,
pflückte die Blumen schließlich
gezwungenermaßen,
hielt aber den Strauß
in der Hand, an der er Anna hielt.
War er nicht verantwortlich
für diese Untat?
Es blieb nicht unbemerkt,
denn er erzählte Annas Mutter später,
dass Anna ein kleiner Teufel sei.
Anna fühlte sich missverstanden
und hat das Kasperltheater
eine Weile lang
ganz vergessen.
Der verlorene Teddy
brachte alles zu Tage.
Anna war unvorsichtig gewesen.
Anna hatte keine Sorgfalt walten lassen,
Anna hatte nicht genug geliebt.
Sie war schuldig -
und untröstlich
über das Endgültige ihres Versagens.
Sie hatte jemanden
in die äußerste Einsamkeit gestürzt,
der ihr anvertraut worden war.
Sie konnte das nicht
so zum Ausdruck bringen,
aber das war es, was ihre Tränen
so verzweifelt machte.
The lost teddy
revealed everything.
Anna had been careless.
Anna had not cared enough.
She was at fault.
She was inconsolable
about the finality of her failure.
She had inflicted the utmost solitude
on someone who depended on her.
She could not say so then,
but that’s what she felt.
Anna war in ein Fahrrad gelaufen,
das sie wohl übersehen hatte.
Sie war bestürzt.
Es traf sie aus heiterem Himmel.
Der Mann war ärgerlich mit ihr,
und ihr Haar war aufgelöst.
Aber was sie eigentlich bedrückte
war, dass sie nicht wusste, wie
Unvorhersehbarem zu begegnen sei.
Anna had run into a bicycle
which had been there
all of a sudden.
She had not seen it on time.
The man was angry with her,
and her hair had come down.
But what really worried her
was that she did not see
how to prevent things
like that in future.
Life had its hazards
Annas Großmutter war die jüngste von zehn,
und Großmutters Vater war nicht gerade glücklich
über das Anwachsen seiner Familie – eine Tatsache,
die Anna schaudern ließ.
Sie begriff die Härte des Aufwachsens
am eindrücklichsten,
als sie erfuhr,
dass Großmutter nie eine Puppe besessen hatte.
Die 10-jährige Anna erstand eine Puppe
zu Großmutters Geburtstag
und war enttäuscht –
Großmutter kümmerte sich nicht
um die Puppe.
Anna’s grandmother was the youngest of 10,
and grandmother’s father was not really pleased
about the growing family - a fact
that made Anna shiver.
She understood the hardship best
when she was told
that grandmother had never had a doll.
Ten-year-old Anna bought a doll
for grandmother’s birthday
and was disappointed -
grandmother would not
take care of it properly.
Anna ist Perfektionist.
Wenn immer möglich,
schreibt sie ins Unreine,
und es fällt ihr schwer,
sich für Endgültiges zu entscheiden.
Du kannst nicht ins Unreine leben,
sagt ein Freund, nicht ohne Schärfe.
Leben ist endgültig.
Es gibt keine zweite Version.
Dies ärgert Anna.
Der Gedanke lässt ihr
den Lebensvollzug
noch schwieriger erscheinen.
Anna is a perfectionist.
Whenever it is possible
she will make rough copies,
and it is difficult for her
to decide on a final version.
In life you cannot correct things
like that, says a friend.
You live and that is it.
This makes Anna angry.
Can’t you make amends?
Anna war mit ihrem Kuchen fertig.
Sie nahm ihr Buch und lehnte sich zurück.
Während sie las, hörte sie dem Gespräch der Großen zu.
Manchmal flüsterten die. Anna wusste, dass sie
über Dinge sprachen, von denen sie nichts wissen sollte.
Später würden sie Anna dann völlig vergessen
und sie würde zuhören wie sie klatschten,
was Anna zum Lauscher machte.
Tabus wuchsen langsam, aber stetig in ihr,
ganz unauffällig wie dornige Hecken.
Sie drohten, Anna zu überwuchern.
Aber anders als im Märchen
war es Anna selber, die zum Schwert griff
und die Hecken niederschlagen musste -
dennoch würden sie nicht völlig verschwinden.
Sie würde es immer aufs Neue tun müssen.
Aber Anna in ihrer Ecke wusste das noch nicht.
Anna had finished her cake.
She took up her book and leant back.
While reading she listened to the adults talking.
Sometimes they whispered.
Anna knew they talked about things
she was not supposed to hear.
Later they would forget about her completely
and she would listen to their gossip
that would put Anna in an enclosure.
And taboos would grow in her slowly,
quite unobtrusively like thorny hedges;
they would intrude on Anna,
and unlike in the fairy-tale
it had to be Anna herself who took
the sword and cut the hedges.
They would not die down completely
and she would have to do it
over and over again.
But Anna in her corner
did not know that yet.
Anna ist betroffen von Goethes Erlkönig,
von Schuberts Musik. Anna sieht
in dem Unvermögen des Kindes,
sich dem Vater zu offenbaren,
die grundsätzliche Tragik
der Kindheit, ihrer eigenen Kindheit.
Kinder werden beschwichtigt,
ihre Ängste nicht für wahr,
nicht ernst genommen. Ihre Furcht,
für die sie die passenden Worte
nicht finden, ihre Botschaften,
die ans Fabulöse grenzen, sich des
Märchenhaften, des Vagen bedienen,
sie werden unter den Tisch gekehrt:
du dummes Kind, das verstehst du nicht.
Und so verstummt das Kind, bleibt allein