Autor
Prof. Dr. med. Walter van Laack
Facharzt für Orthopädie und Spezielle Orthopädische Chirurgie,
Physikalische Therapie, Sportmedizin, Chirotherapie, Akupunktur
Autor zahlreicher Sachbücher zu Existenz- und Naturphilosophie
Umschlagseite
Sie wurde von meinem Sohn Martin gestaltet
Die Rahmenhandlung und alle darin vorkommenden Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig. Die als Hommage an Autobiographisches gewählten Orte und Einrichtungen sind dagegen real und werden nach bestem Wissen und Gewissen authentisch beschrieben. Authentisch sind ebenso die wissenschaftlichen Inhalte des Romans. Sie bauen auf früheren Sachbüchern des Autors auf. Das gilt auch für die ausgewählten Inhalte aus zahlreichen Schilderungen von außergewöhnlichen Bewusstseinserfahrungen anderer und einigen eigenen Erfahrungen solcher Art.
Allen meinen Lieben gewidmet
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier
2. überarbeitete Auflage, 2015
© 2015 by Prof. Dr. Walter van Laack, van Laack Buchverlag
www.vanLaack-Buch.de - www.van-Laack.de - www.Dr-vanLaack.de
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Computerbearbeitung, Übernahme ins Internet sowie der Übersetzung und auch
jeglicher anderen Aufzeichnung und Wiedergabe durch bestehende und künftige
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Genehmigung des Autors.
Herstellung:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-936624-27-4
Plötzlich Blitze … viele Blitze. Ich sehe nichts, nur Blitze.
Es blendet furchtbar… es ist unglaublich hell, Um mich herum viele Farben …
Ein ohrenbetäubender Knall erschüttert uns zwei bis tief ins Mark.
Was war das?… Wir taumeln …
„Max, was ist los?“
„Ich weiß nicht, lass alles los…
… ich kann das verdammte Ding nicht halten …“
Schwindel … unsere Herzen rasen, alles rast.
Gedanken kommen und kreisen in Windeseile.
Was nun, warum, wieso?
Es ist wie ein Spielball in einer großen Spirale … mit Wahnsinnstempo … geht es abwärts…
Freunde tauchen auf, die Geschwister, die Familie, Situationen aus der Vergangenheit …
Es wird dunkel, höllischer Lärm, einfach furchtbar…
„Max? Was ist? Sag was!“
Dann, ein harter dumpfer Schlag, ein Rutschen, ein neuer Schlag, noch härter, noch ein Rutschen…
Splitter überall, ein harter Schlag auf den Kopf, und es wird Nacht…
Heiligabend 2015. Es ist bereits abends nach neun.
Am Aachener Stadtrand trifft sich Familie Schneider, um gemeinsam Weihnachten zu feiern.
Die Schneiders sind eine typische Familie, wie es sie überall im Land gibt – oder doch nicht ganz?
Schon seit meiner eigenen Kindheit feiern wir den Heiligabend stets in der Familie. Früher, als Kinder, waren meine jüngere Schwester und ich immer sehr aufgeregt, wenn dieser Tag nahte. Ich erinnere mich noch gut, wie wir am Tag davor nicht oft genug für unsere Mutter einkaufen und alles Mögliche sonst erledigen durften, nur damit die Zeit endlich schneller verging.
Meine Eltern und wir beiden Kinder lebten in Köln, ja eigentlich so mittendrin. Und in unserem ‚Veedel’, dem kölschen Wort für Stadtviertel, gab es alles zu kaufen, ohne dafür weit laufen zu müssen.
Schon seit langem lebe ich nun mit meiner eigenen Familie in Aachen. Das ist zwar nicht gar so weit weg von Köln und doch ganz anders. Von unserem recht großen Reihenhaus am Aachener Stadtrand wären die Wege für meine Kinder viel weiter gewesen.
So sitze ich, der Physiker Christian Schneider – von allen schon immer nur Chris genannt – in meinem angestammten und auch schon etwas angestaubten Sessel unseres schönen Wohnzimmers, und meine Gedanken schweifen wie so oft recht weit in die Vergangenheit zurück. Mittlerweile bin ich Mitte Fünfzig und meine drei Kinder sind auch bereits erwachsen … na ja, so ziemlich jedenfalls.
Meine zwei Söhne, Robert der ältere, genannt Bob, sowie Thomas, fast immer Tom genannt, haben beide schon fertig studiert.
Bob ist jetzt 30. Bereits als Kind wollte er in meine Fußstapfen treten und wie ich Physiker werden. Schon in jungen Jahren war er fasziniert von den schier unendlichen Weiten unseres Universums und strebte deshalb danach, sich später einmal genauer mit seiner Geschichte vom Urknall bis in die ferne Zukunft zu beschäftigen. Noch in der Grundschule hat er mich mit seinen Fragen zu allem dazu regelrecht durchlöchert. Auf gemeinsamen Spaziergängen am Sonntagmorgen haben wir dann später häufig darüber diskutiert und auch viel zusammen fantasiert.
Besonders Aliens hatten es ihm in seiner Jugend angetan. Und ich weiß gar nicht mehr, wie oft er sich als Kind den amerikanischen Science-Fiction-Film von ‚E.T.’, diesem drolligen Außerirdischen, angeschaut hatte. Aber es war ziemlich oft.
Mein zweiter Sohn Tom ist nun 28. Im Gegensatz zu Bob zweifelte er in seiner Jugend an so manchem, was ich aus wissenschaftlicher Sicht über das Universum ihm und seinem Bruder erzählte. Immer versuchte er, hinter die Dinge zu schauen und glaubte, dort Vieles zu entdecken, was nicht ganz schlüssig sei.
Tom war viel mehr an Philosophie interessiert. Daher gehörten zu seinem Steckenpferd mehr so typische Fragen wie: Woher kommt der Mensch? Was macht ihn aus und wohin wird er gehen? Später habe ich dann schon mal gekalauert, wohin man ginge, sei doch klar: Sein letzter Gang führe ihn ins Grab. Bob konnte darüber lachen, aber Tom fand das nie sehr komisch. Außerdem war Tom schon immer sehr musikalisch undwollte einmal Bandleader werden.
Ich gebe zu, ich halte Musik und Philosophie mehr für brotlose Kunst, aber Tom geht ganz darin auf. Nicht dass ich grundsätzlich etwas dagegen hätte, ganz im Gegenteil, ich liebe vor allem klassische Musik und diskutiere auch gerne über philosophische Fragen. Aber zum einen glaube ich, dass sich mit beiden Bereichen – zumindest für die meisten – nur mühsam Geld verdienen lässt. Und zum anderen stehe ich auf dem Standpunkt, dass man zur Beantwortung von existenziellen Fragen um die objektiven Ergebnisse der Naturwissenschaften halt nicht herumkommt.
Nach seinem Physikstudium an der hiesigen RWTH1 promovierte Bob zunächst, bevor er nach München ging, wo er vor ein paar Jahren eine wissenschaftliche Assistentenstelle am Garchinger Max-Planck-Institut für Astrophysik bekam. Sein Kindheitstraum ging damit in Erfüllung. Bob beschäftigt sich seither mit allen Fragen rund um unser Universum.
Tom ist trotz seines noch jungen Alters schon Dozent an der Musikhochschule in Köln, wo er auch studiert hatte. Tom spielt unter anderem Elektrogitarre und Klavier. Am liebsten jedoch spielt er Saxophon in einer Vier-Mann-Band. Damit ist er seiner Linie, die schon seine Kindheit prägte, treu geblieben.
Ja, und dann ist da noch die ‚Kleine’: Lara ist unser Nesthäkchen und in diesem Jahr 18 geworden. Sie geht noch zur Schule und macht im nächsten Frühjahr ihr Abitur. Während Lara bei uns im Haus wohnt, sind Bob und Tom schon seit langem ausgezogen.
Da Tom in Köln studierte, zog er bereits zu Beginn seines Studiums in eine ‚WG’ nach Köln. Aber auch Bob, der ja in Aachen studierte, hielt es für gut, schon früh seine eigenen Wege zu gehen und zog in ein kleines Appartement im Aachener Pontviertel, dem ‚Quartier Latin’ unserer Stadt. Dort treffen sich abends viele Studenten in einer der zahlreichen Restaurants und Gaststätten, die sich hier aneinander reihen.
Unser Haus stand für sie beide jedoch immer offen.
Meine Frau Helen, eine geborene Smith, ist genauso alt wie ich und gebürtige Amerikanerin.
Nach Highschool und Junior College examinierte sie in Boston als Krankenschwester. Sie arbeitet auch hier noch immer in ihrem Beruf, inzwischen wieder voll, aber wegen der Kinder viele Jahre gar nicht oder nur in Teilzeit. Ihre Eltern und ihr älterer Bruder leben in den USA.
Heute, an Heiligabend, sind wir Fünf alle bei uns zusammengekommen, worüber sich meine Frau Helen und ich sehr freuen. Bobs Freundin Jenny ist nicht dabei. Sie bleibt noch bis zum zweiten Weihnachtstag bei ihren Eltern in München, kommt aber später nach Köln, wo wir in diesem Jahr auch zusammen Silvester feiern wollen.
Bei Tom weiß ich gar nicht, ob er liiert ist, und auch Lara hat wohl keinen festen Freund.
Heute Abend hat Helen für uns ein besonders leckeres Essen zubereitet, eine knusprige Gans mit Klößen und Rotkohl. Na ja, typische Spießer werden einige sagen. Tatsächlich ist Gans zu Weihnachten Tradition in der Familie Schneider: Schon zu meiner Kindheit gab es sie immer an Weihnachten, damals allerdings erst am ersten Weihnachtstag. Zu Heiligabend machte meine Mutter dagegen traditionell einfache Gerichte, häufig zum Beispiel ‚Würstchen mit Kartoffelsalat’ oder Ähnliches. Aber eine knusprige Gans ist eine meiner Lieblingsspeisen, und alle anderen in der Familie mögen sie auch sehr gern.
Früher fuhr die ganze Familie immer am ersten Feiertag zu meinen Eltern nach Köln. Doch leider sind sie schon beide verstorben: Mein Vater starb vor fast zehn Jahren und meine Mutter leider auch vor inzwischen drei Jahren. Im ersten Jahr nach ihrem Tod waren wir am ersten Weihnachtstag noch alle bei meiner Schwester in Bonn, und im Jahr danach kam sie dann mit ihrer Familie zu uns. Letztes Jahr und auch diesmal ist sie aber mit ihrem Mann über die Feiertage in Urlaub, da auch ihre beiden eigenen Kinder inzwischen aus dem Haus sind und wohl andere Pläne für Weihnachten haben.
Deshalb ist in diesem Jahr alles anders: Wir bleiben zuhause. Bob und Tom wohnen über Weihnachten bei uns. An den beiden Feiertagen wollen sie alte Freunde in Aachen besuchen und sich vielleicht mit dem ein oder anderen irgendwo treffen und, wie ich so beiläufig hörte, auch mal ins Kino gehen.
Wenn es das Wetter zulassen sollte, haben sie vor, einige Spaziergänge durch den ‚Öcher Bösch’ zu machen: So nennt man hier übrigens den herrlich weitläufigen Aachener Wald.
Von Lara weiß ich nicht genau, was sie an den beiden Feiertagen vorhat, ob sie sich vielleicht ihren Brüdern anschließen oder bei uns bleiben möchte. Ich schätze jedoch, dass sie mit Bob und Tom herumtouren wird.
Zwar weiß ich es nicht sicher: Aber ich habe mal ‚läuten gehört’, sie habe inzwischen einen Freund und würde ihn morgen treffen. Bei ihr bekomme ich das nie so richtig mit – eigentlich genauso wenig wie bei Tom. Viel Privates erzählen sie mir beide nicht – vielleicht ja auch nur mir nicht…
Nach unserem köstlichen Abendessen sitzen wir Fünf gemütlich bei einem Glas Sekt zusammen, und es riecht förmlich nach weihnachtlicher Bescherung.
In meiner Kindheit hätte man das erst so spät am Abend nicht machen dürfen. Vor lauter Aufregung wären meine Schwester und ich längst ‚explodiert’ gewesen, und unsere Eltern hätten uns sicher nicht mehr aushalten können. Auch als unsere drei Kinder klein waren, gab es die Bescherung immer schon am späten Nachmittag.
Alle Geschenke liegen – eine weitere Tradition in unserer Familie – in allerlei buntem Geschenkpapier verpackt, gut verteilt unter dem Weihnachtsbaum. Manchmal ist auch darin das ein oder andere sorgsam versteckt. Dann schickt einer den anderen in lockerer Reihenfolge reihum zum Baum, sich dort etwas abzuholen. Dabei haben wir sehr viel Spaß: Gerne ziehen wir unsere Bescherung in die Länge, erzählen uns so manches, veralbern uns sehr oft gegenseitig, probieren ausgepackte Geschenke an oder aus und genießen einfach zusammen den Abend.
Neben Geschenken, bei denen man sich wirklich etwas gedacht hat und mit denen man dem anderen eine echte Freude machen möchte, hält meist jeder von uns auch das ein oder andere ‚Nonsens-Geschenk’ bereit, einfach irgendetwas, was ihm einfiel, um jemand anderen damit zu foppen.
So ‚entsorge’ ich auf diese Weise zum Spaß schon mal diverse Sachen, die mir im Laufe des Jahres an Werbegeschenken über den Weg gelaufen sind. Natürlich nehme ich gerne in Kauf, ähnlichen Nonsens zurück zu bekommen. Daneben aber gibt es, wie schon gesagt, auch wirklich Sinnvolles und Schönes.
Regelmäßig steigert sich über den Abend allmählich die Spannung unserer Bescherungen wie bei einer guten Sinfonie.
Auch diesmal sind wir gut drauf und haben viel Spaß miteinander und beim Auspacken. Nur Lara scheint mir ein wenig zurückhaltender als sonst zu sein.
Eigentlich scheint bereits alles verteilt, ausgepackt, belacht oder bewundert, da bitten mich meine Kinder, doch noch mal zum Baum zu gehen. Natürlich folge ich ihrer Aufforderung, schaue mich dort um und suche, finde aber auf Anhieb nichts. So leiten sie mich – wie früher die Freunde untereinander beim ‚Renner’ am Kindergeburtstag, dem ‚Topfschlagen’, mit lauten Warm- und Kalt-Rufen in die gewünschte Richtung.
Da ich aber immer noch nichts finde, amüsieren sie sich köstlich, und so laufe ich wieder und wieder um den Baum herum, mal heißt es ‚kalt’, mal wieder ‚warm’.
Da, an einem Tannenzweig, tief im Baum versteckt, hängt noch etwas. Es sieht aus wie ein kleiner Schlüssel, silbern glänzend und nicht verpackt. Bei all dem vielen Baumschmuck – auch das mal wieder Tradition – ist er mir gar nicht aufgefallen.
Ich greife nach ihm und wirklich – auf den ersten Blick ist es doch tatsächlich ein Schlüssel. Bei näherem Hinschauen entpuppt sich dieser aber als ein kleiner USB-Stick in Schlüsselform. Nach meinem Laptop brauche ich erst gar nicht zu suchen, Lara reicht mir schon ihren mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
Auf dem Stick ist nur eine Datei. Ich klicke sie an und ein wunderschön gestalteter Gutschein öffnet sich.
Ich bin ganz begeistert: Meine Kinder schenken mir damit einen einstündigen Flug über Aachen und das Dreiländereck mit einem kleinen Hubschrauber. Und das Tollste ist: Ich soll ihn sogar selbst fliegen. Klasse! Zuvor gibt es noch eine eingehende theoretische Unterweisung, und dann soll ich selbst Hand anlegen dürfen. Nie zuvor bin ich so ein Ding geflogen, und natürlich habe ich auch keinen Flugschein, weder dafür, noch für andere Fluggeräte.
Als Jugendlicher bin ich wohl ein paar Mal in einem Segelflugzeug mitgeflogen. Ein Klassenkamerad, mit dem ich damals gut befreundet war, hatte bereits mit sechzehn den Segelflugschein erworben. Da musste ich natürlich mit, und er war stolz, seine Freunde mal mitnehmen zu dürfen.
Einen Termin für den 5. Juni des nächsten Jahres, einen Sonntag, hatten sie auch schon festgemacht.
Eine tolle Überraschung war gelungen. Schon jetzt freue ich mich riesig. Tatsächlich hatte ich mir das immer schon mal gewünscht. In großer Vorfreude umarme ich meine Kinder innig und bedanke mich bei ihnen und auch bei Helen ganz herzlich für alles.
Dann stoßen wir mit unseren Sektgläsern zusammen auf ein frohes Weihnachtsfest und auf uns an.
Natürlich weiß ich jetzt auch, warum mich Tom vor ein paar Wochen mal so beiläufig gefragt hatte, ob ich im Juni weg wäre. Er hatte noch vage in Erinnerung, dass ich irgendwann im nächsten Sommer auf dem Jubiläumskongress zum 100jährigen Bestehen der Internationalen Gesellschaft für Physik in New York den Festvortrag halten soll. Und er ahnte, damit wäre ich sicher monatelang vorher beschäftigt und hätte dann kaum mehr Zeit für irgendetwas anderes.
Man hatte mich gebeten, anlässlich dieses weltweit bedeutenden Ereignisses über den aktuellen Stand der Kosmologie – mein großes Steckenpferd – zu berichten. Für mich ist diese Einladung sowohl eine riesengroße Herausforderung als auch eine besondere Ehre. Und sicher nicht nur einmal hatte ich meiner Familie bereits davon erzählt.
Eine Stunde lang soll meine Festrede dauern. In dieser Zeit möchte ich einen Überblick über die neuesten Erkenntnisse zum ‚Urknall’, zu ‚kosmischer Inflation’, ‚Dunkler Materie’ und ‚Dunkler Energie’, ‚Schwarzen Löchern’, ‚Strings’ und vielem mehr geben, halt eine ‚Sicht auf die Welt im 21. Jahrhundert’.
Natürlich soll mein Vortrag dabei so anschaulich wie möglich werden; denn schließlich werden dann auch die Partner der Kongressteilnehmer anwesend sein, und sie alle sollen ja ’was davon haben.
Sehr viele namhafte Wissenschaftler aus der ganzen Welt werden dazu erwartet. Doch das Jubiläum ist erst im nächsten September – also noch reichlich Zeit bis dahin.
Als ich diesen Kongress im Familienkreis jetzt nur mal wieder kurz erwähne, hält es Bob für eine sehr gute Gelegenheit, mich zu einer weiteren Diskussion über ‚Gott und die Welt’ zu animieren – selbst an Weihnachten.
Ich gebe zu, dass ich dann immer gerne mitmache. Normalerweise mischt auch Tom dabei gerne mit, aber heute hält er sich sichtlich zurück.
Helen dagegen mag solche Diskussionen an Tagen wie diesen gar nicht, doch wenn es losgeht, steht sie dem machtlos gegenüber und verzieht sich meist.
Auch jetzt geht sie mit verkniffenem Gesichtsausdruck in die Küche.
Lara kramt derweil noch ihre Geschenke, hört dabei aber mit halbem Ohr zu. Doch auch sie scheint heute kein besonders großes Interesse zu haben, sich an unserem Gespräch aktiv zu beteiligen.
Überhaupt scheint mir Lara in den letzten Tagen, ja eigentlich schon seit Wochen, des Öfteren abwesend, ja sogar ein wenig bedrückt zu sein. Wenn ich sie dann einmal frage, warum, ist sie sogar abweisend. Manchmal darf man sie kaum ansprechen und schon reagiert sie richtig mimosenhaft.
Zugegeben, ich sagte eben zwar so salopp, ‚über Gott und die Welt sprechen’. Religiös bin ich jedoch nicht gerade. Schon seit langem ist ‚Gott’ für mich mehr eine Art Lückenbüßer für alles das, was wir heute noch gar nicht wissen oder naturwissenschaftlich nicht absolut sauber erklären können. Und meiner Ansicht nach werden die Lücken für einen Gott im Laufe der Zeit noch viel kleiner werden.
Im Grunde habe ich es überhaupt nicht so sehr mit religiösen Dingen – ganz im Gegensatz zu unserer Tochter Lara und deshalb auch zu ihrem Leidwesen.
Nicht nur, dass Lara sehr aktiv vor allem in der Jugendarbeit der Pfarrei in unserem Stadtviertel tätig ist und Kommunionsgruppen leitet. Aus meiner eher ‚atheistisch-agnostischen’ Sicht erscheint sie mir oft schon etwas zu dogmatisch.
Okay, alle unsere Kinder wurden katholisch getauft, weil auch ich einmal katholisch getauft worden bin. Genauso hatte es mein Vater damals gerne gesehen, dass Helen und ich katholisch geheiratet haben. Wir beide hatten ja auch nichts dagegen.
Im Gegensatz zu mir ist Helen zwar durchaus gläubig, aber nicht besonders streng. Ihre Eltern sind Mitglied einer amerikanischen Baptisten-Kirche, einer Art evangelischen Freikirche. Und in dieser Gemeinde wuchs Helen natürlich auch auf. Allerdings sind die Baptisten sehr tolerant und treten für Glaubens- und Gewissensfreiheit ein, so dass Helen von ihnen nicht an ihrer Zustimmung zu einer katholischen Hochzeit gehindert wurde.
Ich aber, der ‚orthodoxe Naturwissenschaftler’, dazu noch ein auf diesem Planeten mittlerweile bekannter Physiker – quasi ein Vertreter des ‚härtesten Fachs der Wissenschaften’ – habe trotz meines religiösen Unglaubens bei alldem stets mitgemacht – allein schon des lieben Friedens wegen.
An meiner eigenen Einstellung zu ‚Gott und der Welt’ hat sich damit bis heute jedoch nicht viel geändert.
Warum auch? Bislang konnten wir Physiker am Ende eben doch noch alles irgendwie physikalisch erklären.
Deshalb erkenne ich auch nach wie vor keinen Grund, warum das in Zukunft anders sein sollte.
Besonders große Probleme habe ich mit dem ganzen ‚esoterischen Quatsch’, wie ich all das sogenannte ‚Übernatürliche’ bezeichne.
Man sieht davon ja ab und an mal ’was im Fernsehen und liest darüber in Boulevardblättern.
Aber, mal ganz abgesehen davon, dass mir selbst so etwas noch nie passiert ist: Immer wenn etwas einmal so schien, als könne es auch nur einen Hauch in diese Richtung gehen – schwups gab es dafür bald schon wieder ganz natürliche Erklärungen.
Und last-but-not-least sind ja von einigen Kritikern alles Übersinnlichen sogar schon Millionenbeträge als Preisgeld für alle diejenigen ausgesetzt worden, die für ihre Behauptungen Belege beibringen können. Meines Wissens hat bisher jedenfalls noch kein einziger einen solchen Preis bekommen.
Vor einiger Zeit las ich dann das erste Mal von Erlebnissen, die angeblich sehr viele Menschen gehabt haben sollen, als sie ihrem Tod recht nahe schienen: ‚Nahtoderfahrungen’.
Ja, es gibt sogar Leute, die angeben, sogenannte ‚Nachtoderfahrungen’ gemacht zu haben.
Als ob schon jemals einer tot war und dann wieder ins Leben zurückgekommen ist: Das scheint mir doch alles großer Blödsinn zu sein.
Natürlich ist auch mir als medizinischer Laie klar, dass am Ende eines Lebens, also wenn man in den Tod hinüber gleitet, viel weniger Sauerstoff im Gehirn ankommt, weil es nicht mehr genügend durchblutet wird. Von einem befreundeten Arzt weiß ich, dass das Gehirn dann recht schnell aussetzt und es in dieser Phase manchmal zu Halluzinationen kommen kann. Viele scheinen dann seltsame Träume zu haben. Bei manchen sollen sich außerdem sogar Glücksgefühle einstellen. Von Kampfpiloten, die in superschnellen Zentrifugen hohen Drehbeschleunigungen ausgesetzt werden, kennt man solche Erfahrungen. Dabei kommt es häufig auch zu sehr hellen Lichtempfindungen und sogenannten Tunnelphänomenen.
Vielleicht hat uns die Natur damit ja auf ihre Weise noch eine Art ‚Weihnachtsgeschenk’ gemacht – ein letztes vor unserem Tod. Wir träumen dann von einer heilen Welt mit ganz viel Glück und wunderschönen Dingen, und danach ist plötzlich alles aus … und zwar endgültig aus.
Der durch eine furchtbare Nervenkrankheit vom Kopf abwärts gelähmte und bekannte englische Physiker Stephen Hawking meinte einmal in einem Interview auf die Frage, ob er an ein ‚Leben nach dem Tod’ glaube: „Ich sehe das Gehirn als einen Computer, der irgendwann nicht mehr läuft. Es gibt keinen Himmel, kein Leben nach dem Tod für kaputte Computer.“2
Ich sehe das wohl genauso.
Bob und ich tauschen uns schnell, aber intensiv, über den aktuellen Stand der Astrophysik aus. Aus einem extrem heißen und dichten Anfangszustand ließ der Urknall nach jüngsten Berechnungen vor ziemlich genau 13,7 Milliarden Jahren überhaupt erst Raum und Zeit entstehen. Seither dehnt sich das Universum immer weiter aus.
Zunächst blähte sich in schier unvorstellbar kurzer Zeit eines vielleicht einen billiardstel Bruchteils einer Sekunde das Universum aus einem ‚Hauch von Nichts’ auf etwa Fußballgröße auf. Man nennt diese Phase der überlichtschnellen Raumausdehnung auch ‚Inflation’.
Anschließend wuchs es in wenigen Hunderttausend Jahren auf bereits astronomische Größe heran. Viele Physiker rechnen diese Anfangszeit zum ‚Urknall’ dazu. Das Universum war bis dahin noch so heiß, dass es aus einem Plasma elektrisch geladener Atomkerne und Elektronen bestand, in dem die Strahlung aus der gegenseitigen Auslöschung von anfangs existierender Materie und Antimaterie ständig hin- und her gestreut wurde. Nach fast 400.000 Jahren waren aber Dichte und Temperatur des jungen Universums soweit gesunken, dass sich aus den Kernteilchen Atome bildeten. Zugleich breitete sich nun die Strahlung gleichmäßig in alle Himmelsrichtungen aus.
Sie ist heute als ‚kosmische Hintergrundstrahlung’ im Frequenzspektrum der Mikrowellen nachweisbar.
Im ganzen Universum besitzt sie eine überall ziemlich gleichmäßige Temperatur von ziemlich genau 2,73 Grad über dem ‚absoluten Nullpunkt’ oder 2,73 Kelvin. Diese Temperatur schwankt nur unvorstellbar gering, was durch Gravitation, also Schwerkraft, verursacht wird – also durch Anziehungskräfte, wie sie immer zwischen zwei beliebigen Massen herrschen. Auch die Schwerkraft ist durch den Urknall erst entstanden.
Heute dehnt sich das Universum wohl immer weiter aus. Genau genommen streben nicht die Galaxien selbst auseinander, sondern ganze Galaxienhaufen fliegen immer schneller voneinander weg. Gerne vergleicht man das Universum mit einem Rosinenteig: Die Galaxienhaufen sind die einzelnen Rosinen. Wenn sich nun der Teig beim Backen aufbläht, driften diese immer weiter auseinander. Ein Ende der universellen Expansion, welches früher einmal diskutiert wurde, scheint es aber wohl doch nicht zu geben. Ganz im Gegenteil: Die Ausdehnung nimmt an Geschwindigkeit noch zu, wie wir mittlerweile wissen. Im Grunde ist das jedoch rätselhaft; denn eigentlich müsste die Schwerkraft aller Massen genau das Gegenteil bewirken und alles irgendwann wieder zusammen ziehen, so wie auch jeder Ball, den man auf der Erde in die Luft wirft, durch die Gravitation oder Schwerkraft der Erde wieder auf den Boden fällt. Deshalb scheint es eine Kraft geben, die wir bisher weder messen noch gar sehen können. Wir nennen sie ‚Dunkle Energie’. Sie sorgt für die immer schnellere Expansion des Kosmos.3
Auf der anderen Seite ist aber selbst die gesamte sichtbare Masse im Universum viel zu klein, um zu erklären, warum etwa Galaxien nicht auseinander fliegen, wenn sie sich doch so schnell drehen, wie es der Fall ist. Durch jede Drehung entsteht schließlich eine Kraft, die der Schwerkraft entgegengesetzt ist, die Flieh- oder Zentrifugalkraft. Wir kennen das etwa von einer Schokoladenschleuder: Indem man Schokolade in Formen gibt, die dann anschließend geschleudert werden, entstehen die so beliebten, innen hohlen Osterhasen und Weihnachtsmänner. Daraus schließt man, dass es neben der sichtbaren Materie noch viel mehr Masse geben muss, die Schwerkräfte ausübt.
Da wir sie aber ebenso weder messen noch sehen können, sprechen wir von ‚Dunkler Materie’. Nur damit lassen sich die tatsächlich zu beobachtenden Bewegungsmuster und Strukturen erklären.
Wenn man sich nun das ganze Universum vor Augen hält, dann ist nur etwa 5% sichtbare Materie. Weitere 20% sind ‚Dunkle Materie’ und 75% müssen ‚Dunkle Energie’ sein.
Auf diese Art und Weise lässt sich heute schon fast alles plausibel erklären. Somit braucht man auch Gott nicht: Ähnlich sagte es sogar schon vor über 200 Jahren der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace, als Napoleon ihn fragte, wo denn Gott in einem solchen wissenschaftlichen Weltbild noch Platz fände, „Monsieur, ich brauche diese Hypothese nicht.“ 4
Tom hat lange Zeit teilnahmslos zugehört. Nun jedoch unterbricht er unser Zwiegespräch ziemlich mürrisch: „Seid Ihr euch da wirklich so sicher? Vieles davon scheint mir doch eher an den Haaren herbeigezogen und pure Spekulation zu sein. Manche dieser Thesen werden allein durch immer wieder neue Thesen gestützt, aber ohne jeden echten Beweis. Du selbst sagst, keiner kann bislang ‚Dunkle Materie’ oder ‚Dunkle Energie’ sehen oder messen. Kennst du einen Physiker namens Laughlin?“
„Meinst du Robert Laughlin, den Quantenphysiker und Nobelpreisträger?“ Ich bin überrascht, dass Tom, der ja nun auf ganz anderen Gebieten als in der Physik beheimatet ist, von diesem Kollegen offensichtlich schon mal gehört hatte.
„Ja, genau den meine ich. Ich hatte gelesen, er bekam 1998 den Nobelpreis für Physik. Aber was ich meine, ist, dass dieser Physiker 2008 in einem Interview mit dem ‚Spiegel’ mal etwas sehr Bemerkenswertes über den heutigen Stand in der Kosmologie gesagt hat.“
Tom fingert in seiner Hosentasche und holt alsbald sein Handy heraus.
„Einen Moment, ich habe es gleich.“ Er scheint wohl in einem Ordner nach dem Interview zu suchen.
„Hier…, ja, hier ist es. Ich hatte mir ein paar Notizen davon gemacht, also, Robert Laughlin sagte: ‚Das Urknallszenario ist nichts als Marketing’. Und zu weiteren vermeintlichen Entdeckungen wie unter anderem Dunkle Materie und Dunkle Energie oder String-Theorie fügte er noch hinzu: ‚Keine einzige Behauptung von diesen Typen…’ – womit er seine renommierten Physikerkollegen meinte – ‚… ist durch ein Experiment gedeckt. Nicht ein einziger hat irgendetwas gesagt, was wahr ist’.5
Zwar liegen derartigen Vorstellungen ja oft durchaus passende Beobachtungen zugrunde, aber fast alle könnte man genauso gut auch anders interpretieren. Am Ende käme man damit jedoch auf völlig andere Modelle, die mit den jetzigen nichts mehr gemein hätten. Und so manches Teilchen oder manche Kraft, die bloß zur Stützung einer anderen These ‚erfunden’ wurden, verschwinden dann im Nichts…
Außerdem glaube ich, allzu häufig will man einfach nur wieder etwas erklären, wofür es bei näherer Betrachtung aber gar keine Erklärung gibt…“
Dann klingelt Toms Handy, woraufhin er wortlos das Zimmer verlässt.
Auch Lara, die zuletzt nur noch Napoleons Frage und die Antwort von Laplace mitbekommen hat, schüttelt ihren Kopf und meint nur: „Ihr werdet hoffentlich noch irgendwann eines Besseren belehrt werden. Betet lieber öfter zu Gott, als euch derart von Gott abzuwenden. Darf ich euch an den Dominikaner Giordano Bruno6 erinnern? Schon er war der Ansicht, dass das Universum unendlich und unbegrenzt sein muss, von ewiger Dauer. Noch vor wenigen Jahren glaubtet ihr aber an ein begrenztes, endliches und wieder kollabierendes Universum. Jetzt denkt ihr plötzlich anders und erfindet Gründe dafür. Giordano Bruno brauchte solche Erfindungen nicht.
Für ihn war schon aus logischen Gründen klar, dass einem allmächtigen und ewigen Gott auch nur ein unendliches Universum entsprechen kann. Vielleicht wäre das ja mal ein besserer Ansatz zum Nachdenken. An Gott zu glauben, obwohl ihr ihn weder sehen noch messen könnt, kommt euch nicht in den Sinn.
Dagegen aber an eine äußerst fragwürdige Allmacht naturwissenschaftlicher Erklärungen – oder vielleicht doch besser nur ‚spekulativer Behauptungen’ – zu glauben, die weder gemessen noch gesehen werden können, scheint für euch überhaupt kein Problem zu sein.“
Ziemlich verstimmt verschwindet dann auch sie. Bob und ich lächeln uns an. Lara ist halt noch zu jung, um das wirklich Große dieser Welt zu verstehen. Ironischerweise ist Giordano Bruno ja ausgerechnet von ‚seiner’ katholischen Kirche im Jahr 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, wo er doch so sehr gottgläubig war – aber eben auch Wissenschaftler. Würde er heute leben und das heutige Wissen haben, würde er darüber sicher auch anders denken… Frohe Weihnachten.
Am nächsten Morgen, dem ersten Weihnachtstag, sitzen wir alle wieder beim gemeinsamen Frühstück zusammen. Über sehr vieles wird gesprochen und über so manches gemeinsam gelacht.
Aber jetzt ist nicht die Zeit für weitere Diskussionen, und erst recht nicht für wissenschaftliche Plädoyers, egal ob für dies oder das.
Alle scheinen doch lieber nur die inzwischen immer seltener werdenden Familientreffen genießen zu wollen, als dabei noch Differenzen auszutragen.
Später am Tag geht jeder seinen Weg. So besuchen Bob und Tom alte Freunde in Aachen und Umgebung. Lara hat heute übrigens tatsächlich ein ‚Date’.
Auf meine vorsichtige Frage, mit wem, und ob ich die Person kennen würde, antwortet sie nur kurz, ja fast schnippisch, mit ‚Dirk’. Mehr erfahre ich nicht, und einen ‚Dirk’ kenne ich auch nicht.
Aha denke ich, also doch ein Freund? Sicher, sie ist ja schon 18, aber in Sachen Männer schien sie mir bisher eher zurückhaltend zu sein. Ich schiebe das vor allem auf ihre religiösen Ansichten. Insbesondere sexuelle Kontakte vor der Ehe sind ja für strenge Christen problematisch, wenn nicht gar ein ausgesprochenes Tabu, so wie auch in manch anderen Religionen, etwa der jüdischen oder im Islam. Und da Lara auf mich einen sehr katholisch geprägten Eindruck macht – was ich als ihr Vater gar nicht nachvollziehen kann – wäre für mich ein enger Freund an Laras Seite schon eine riesengroße Überraschung.
Für Helen und mich ist es ganz ungewohnt, am ersten Weihnachtstag allein zu Hause zu sein. Gerade will ich mich an meinen Computer setzen, da kommt Helen und fragt mit einem etwas beunruhigenden Klang in ihrer Stimme: „Ist dir eigentlich auch aufgefallen, dass Lara in den letzten Tagen oft so abweisend ist?“
„Ein wenig schon, was ist denn mit ihr los?“, frage ich sie zurück.
„Ich weiß es auch nicht. Natürlich habe ich immer wieder mal versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber dann wies sie mich entweder direkt ab oder sie wechselte einfach das Thema“, erwidert sie.
„Na ja, vielleicht gibt’s ja nichts Besonderes. Ihr Abitur steht schließlich vor der Tür, und sicher macht sie sich deshalb heute schon reichlich Sorgen. Und ganz so gut wie Bob und Tom damals waren, ist sie ja nun nicht gerade“, versuche ich unser Unbehagen zu zerstreuen.
„Haben wir das auch mal wieder geschafft“, pflegte meine Mutter früher immer zu sagen, wenn ein Fest vorbei war. Wir lachten dann nur.
Bob bleibt noch ein paar Tage bei uns; denn diesmal wollen wir ja auch Silvester gemeinsam feiern, jedoch in Köln. Tom pendelt zwischen Köln, wo er ja wohnt, und Aachen ohnehin häufig hin und her und schaut bei uns ’rein. Für Bob und Jenny, die am Silvestertag von München nach Köln kommen will, sowie für Helen und mich, haben wir im Kölner City Hotel Europa zwei Zimmer mit Dachterrasse gebucht. Von dort hat man einen tollen Blick auf den Dom. Lara bestand darauf, keinesfalls mit uns zusammen in ein Dreibettzimmer zu gehen, lieber wollte sie bei Tom schlafen. Vielleicht aber, so meinte Helen zu mir, käme sie ja auch nicht allein…
Tom wohnt ohnehin fußläufig zum Dom. Und deshalb bräuchte er auch kein Hotelzimmer.
Übrigens muss er vor einigen Monaten eine neue Wohnung bezogen haben. Groß und geräumig soll sie sein, aber gesehen habe ich sie bisher noch nicht.
Die Aussicht vom Hotel auf den Kölner Dom, diese riesige, mit ihren zwei hohen Türmen majestätisch wirkende Kirche – und für mich eines der tollsten Bauwerke überhaupt auf dieser Erde – ist gigantisch. Schon als Kind bin ich mit meinem Vater sonntags oft, und immer wieder begeistert, dorthin spaziert.
Die altgotische Kathedrale des größten Erzbistums im ganzen deutschsprachigen Raum ist mit Turmhöhen von über 157 Metern Höhe eine der höchsten und zugleich auch flächenmäßig größten Kirchen auf der Erde.
Im Jahr 1248 war Baubeginn auf den abgebrannten Resten des schon großen romanischen Vorgängerbaus von 873. Damals wollte man ein himmlisches Gebäude schaffen, als würdige Herberge der durch Rainald von Dassel7 im Jahr 1164 aus Mailand mitgebrachten Gebeine der ‚Heiligen Drei Könige’. Doch sollte es bis zur Fertigstellung bis zum Jahr 1880 fast 650 Jahre dauern. Von 1530 bis in das frühe 19. Jahrhundert wurde am Kölner Dom nicht gebaut, weil zum einen das Geld fehlte, zum anderen aber auch ein veränderter Zeitgeist andere Vorstellungen vom Kirchenbau mit sich brachte. Auf dem halbfertigen Südturm des Doms thronte dafür 300 Jahre lang ein Baukran, der zum Wahrzeichen des damaligen Köln wurde. Erst nachdem man 1814 alte Originalpläne der Fassade – zum einen von Georg Moeller in Darmstadt und zum anderen von Sulpiz Boisserée in Paris – wiederentdeckt hatte, kam der weitere Aufbau des Doms vor allem auf Betreiben einflussreicher Kölner Privatleute, wie dem bereits genannten Sulpiz Boisserée und Joseph Görres, allmählich in Gang.
Ideelle Unterstützung konnte man sich durch den zu Lebzeiten schon berühmten und in Herrscherkreisen einflussreichen Johann Wolfgang von Goethe8 sichern. Mit Hilfe des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV9 und einer in Köln erstmals überhaupt eingesetzten ‚Dombaulotterie’, an der sich jeder einfache Bürger mit Aussicht auf lohnende Gewinne beteiligen konnte, floss nun auch wieder genug Geld. So wurden große Teile des Doms in nur fast 40 Jahren fertig aufgebaut, darunter der ganze Nordturm und ein großer Rest des Südturms. Wichtigstes religiöses Attribut der Kölner Kathedrale wurde dann natürlich der Schrein mit den Gebeinen der ‚Heiligen drei Könige’.
Nach jüngsten Untersuchungen finden sich darin tatsächlich menschliche Knochen von insgesamt drei männlichen Skeletten, die eines noch Jugendlichen, die eines Mannes mittleren Alters und schließlich die eines bereits alten Erwachsenen. Wer diese Personen allerdings wirklich waren, ist unbekannt.
Übrigens war es Laras Idee, mal wieder gemeinsam ins Neue Jahr hineinzufeiern. Im Internet las sie die Annonce für eine große Silvesterparty im legendären Kölner Gürzenich, der ‚guten Stube’ Kölns.
Für Lara das Besondere an der Feier sind zwei Kölner Musikgruppen, die es ihr auch als nicht einmal in Köln Geborene oder, wie der Kölner dann sagt, als ‚Immi’ schon immer angetan haben: Die ‚Bläck Fööss’ und die ‚Höhner’. Beide Bands sollen nach Mitternacht das Neue Jahr mit ihren auch oft überregional bekannten Kölner Liedern musikalisch einleiten.
Der Gürzenich ist ein großes altes Patrizierhaus in der Kölner Altstadt. Er wurde im 15. Jahrhundert errichtet von dem damaligen Stadtbaumeister Johann von Bueren. Seine Geschichte ist sehr wechselhaft und vielseitig: Von Anfang an war der Gürzenich ein städtisches Festhaus und wurde auch von mehreren Kaisern, wie etwa Friedrich III, Maximilian I und Karl V, besucht. Später wurde er unter anderen als Warenhaus genutzt und ab 1822 auch für große Bälle im Karneval. In seinem Großen Saal verkündete 1849 Karl Marx sein kommunistisches Manifest, und im Jahr 1928 wurde dort ein Vorläufer der christlichen Arbeitnehmerschaft gegründet. Im Laufe der letzten 150 Jahre residierte hier die Kölner Börse genauso wie die Philharmonie, und im Jahr 1999 war der Gürzenich Tagungsort des G8- Weltwirtschaftsgipfels.
Viele Fernsehzuschauer kennen den Großen Festsaal des Gürzenichs heute von Karnevalssitzungen.
Tatsächlich hat er mehrere Säle, und Silvester soll dort ‚unsere’ Party in allen Sälen steigen.
Im Angebot finden sich außerdem ein mehrgängiges, fantastisch zusammengestelltes Menü mit einer sehr großen Getränkeauswahl sowie schon vor Mitternacht zahlreiche attraktive Showeinlagen.
Das alles machte uns Appetit. Dazu muss man sagen, dass unsere beiden Söhne so wie ich in Köln geboren sind und sich, vor allem wohl dank ihres lokalpatriotischen Vaters, nach wie vor als ‚Kölsche’ fühlen. Dabei haben sie beide nicht mal lange in Köln gewohnt und sind schon in Aachen zur Schule gegangen.
Unsere Tochter Lara wurde dann bereits in Aachen geboren, ist also ein ‚Öcher Mädchen’. Aber auch sie mag die Kölschen Gruppen und Lieder halt sehr gern. Und da ja Helen eine geborene ‚Smith’ ist, dürfte sie wohl ‚Urkölnerin’ mit besonders viel ‚kölschem Blut’ sein; denn schließlich ist der Name ‚Schmitz’ uralter Kölnischer Adel…
Helen hatte beim Veranstalter noch rechtzeitig Karten bestellen können, ‚genügend’ wie sie mir sagte, wobei ich nicht weiß, was das heißen soll und wer am Ende dann alles kommen wird. Vielleicht soll es ja auch eine Überraschung sein.
Am Nachmittag kommt Tom zurück. Auf meine Frage, wie er denn seinen Tag verbracht habe, antwortet er mir nur lakonisch mit ‚schön’, um dann sofort noch einmal auf die gestrige Unterhaltung zwischen Bob und mir zu sprechen zu kommen.
„Glaubst du im Ernst“, meint Tom, „dass ihr Physiker unsere Welt schon wirklich so genau beschreiben könnt, wie du und Bob das gerne darstellt?“
„Na ja“, entgegne ich, „natürlich gibt es immer noch eine Menge offener Fragen, aber dennoch glaube ich, dass die grundsätzlichen Fakten mittlerweile alle auf dem Tisch sind.“
„Weißt du, Vater…“ – meist nennt Tom mich nach wie vor ‚Papa’, nur dann, wenn er sehr ernst wird, sagt er ‚Vater’ zu mir – „… mich erinnert das stark an eine Anekdote aus dem jungen Leben deines berühmten Kollegen Max Planck10, dem Begründer der modernen Quantenphysik. Im Jahr 1874 – Max Planck war da gerade 16 Jahre alt und hatte schon das Abitur in der Tasche – stellte er sich an der Münchener Universität bei dem damals großen Physiker und Mathematiker Philipp von Jolly11 vor. Und was tat der? Er hat ihm doch glatt abgeraten, Physik zu studieren. Von Jolly meinte zu Max Planck, in der Physik sei alles Wichtige schon längst endgültig aufgeklärt und so gäbe es eigentlich auch nichts fundamental Neues mehr zu entdecken.
Tatsächlich jedoch hat Max Planck dann viele Jahre später mit der Quantenphysik eine Art völlig neuer Physik entdeckt, die vieles von dem umstieß, verwarf oder einfach nur durcheinander brachte, das bis dahin als unumstößlich gesichert galt.
Für seine hervorragende Arbeit bekam Max Planck schließlich auch den Nobelpreis für Physik.“
Nun, da hat er recht, mein Hobby-Philosoph in der Familie.
„Aber ich glaube“, so ergreife ich das Wort, „heute ist doch manches anders, da wir viel mehr sehen, messen und beobachten können, als es früher überhaupt möglich war. Wir haben heute eine ungleich bessere und weit fortgeschrittenere Technik zur Verfügung und sind deshalb gewiss auch wesentlich sicherer mit unseren Interpretationen als jemals zuvor. Ich bin davon überzeugt, dass unser heutiges Weltbild der Wahrheit ziemlich nahekommen sollte.“
„Nicht unbedingt“, meint Tom, „zwar ist die Vielfalt heutiger Beobachtungen tatsächlich unvergleichlich groß. Dafür kann sie aber heute auch keiner mehr wirklich überschauen.
Folglich fehlt es immer mehr am Blick über die Tellerränder der eigenen Fachbereiche auf andere. Deshalb interpretiert man sehr viel öfter als früher und noch viel beliebiger einfach drauf los. Das ist nicht selten sogar völlig risikolos, da ja Vieles kaum beweisbar ist. Am Ende kommt bei alldem keineswegs etwas Besseres heraus als früher. Dann dauert es leider wieder sehr viele Jahre – manchmal sogar Jahrzehnte – bis alles das, was heute viel zu schnell ‚Goldener Standard’ genannt wird, schließlich doch wieder als überholt gilt. Dabei war es oft sogar schon von vornherein und offensichtlich völlig falsch.
Wartet nur ab, auch ihr ‚modernen Physiker’ von heute werdet noch euer blaues Wunder erleben.
Meiner Ansicht nach macht ihr alle immer wieder denselben Fehler: Viele Naturwissenschaftler glauben nach wie vor, allein das ‚Empirische’, so nannte man ja früher all das, was man mit den eigenen Sinnen – und deshalb natürlich auch mit Messinstrumenten als quasi ‚verlängerte Sinne’ – wahrnehmen kann, sei das einzig Reale in der Welt. Aber erinnere dich doch mal daran, dass sich selbst der berühmte Philosoph Immanuel Kant12 von dieser ihn anfangs auch einmal sehr faszinierenden Vorstellung dann später, allein durch logisches Denken, gelöst hat:
Das mit den eigenen Sinnen Wahrgenommene muss demnach immer erst dem eigenen Verstand zugeführt werden, der es ‚verarbeiten’ muss. Das ist ein aktiver Vorgang. Dazu sagte Kant: ‚Unsere Natur bringt es mit sich, dass die Anschauung niemals anders als ‚sinnlich’ sein kann. Dagegen ist aber das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu ‚denken’ der Verstand’. Keine dieser Eigenschaften sei der anderen vorzuziehen, und beide existieren nebeneinander.
Dann fährt Kant fort, ‚Gedanken ohne Inhalt sind leer, aber Anschauungen ohne Begriffe sind blind’. Und: ‚Erkenntnis kann nur daraus entstehen, dass sich sinnliche Anschauung und der Verstand vereinigen’.
Erst so könne der Mensch alles in einen passenden Zusammenhang bringen, der einerseits alle sinnlichen Erfahrungen umfasst, darüber hinaus aber durch das Denken und Bewerten mit Hilfe des eigenen Verstandes die Erkenntnismöglichkeit über die rein sinnliche Erfahrung noch weit übersteigt.
Und genau davon seid ihr heute, wie ich finde, leider zu oft viel zu weit entfernt. Die meisten können heute selbst kaum noch ihr eigenes Fachgebiet überblicken, geschweige denn die Ergebnisse auf anderen.
Somit ist es nicht einmal mehr möglich, überhaupt noch die Vielzahl aller einzelnen Erkenntnisse durch den Verstand zu erfassen, geschweige denn, sie dann in einen vernünftigen Zusammenhang zu stellen und in diesem zu bewerten. Nur dann wäre es jedoch möglich, sie vielleicht in einem anderen, dafür aber sogar ganz neuen und besseren Licht zu sehen.“
Tom sprach’s und will gerade gehen, als er sich noch einmal zu mir umdreht: „Weißt du Papa, eigentlich hat Kant mit dieser logischen Folgerung praktisch schon bewiesen, dass es noch etwas anderes geben muss, als das, was wir ‚Materie’ nennen, nämlich ‚Geist’. Und der ist im Gegensatz zur Materie nicht sinnlich erfahrbar oder nachweisbar, aber dennoch genauso real existent wie Materie. Wir brauchen unseren Geist, um das Materielle vernünftig zu interpretieren.
Bei euch habe ich manchmal das Gefühl, er geht vielen deiner Zunft etwas ab…“
„Jetzt wirst du aber ziemlich anzüglich, mein Sohn, und außerdem glaube ich, dass deine Argumente zu weit hergeholt sind“, widerspreche ich ihm. „Denke mal daran, dass es seit wenigen Jahren das mit einer Milliarde Dollar gestützte Human-Brain-Projekt gibt, und man davon ausgeht, diesen ‚Geist’ sehr bald als genau das zu entlarven, was er meiner Meinung nach wohl auch tatsächlich ist: Als ein zwar wirklich fantastisches Produkt unseres Gehirns, aber eben nur als ein Produkt von Materie – oder ‚Epiphänomen’ – und nichts ganz anderes, nichts Eigenständiges.“
„Nein, ich glaube, da bist du auf dem Holzweg, Vater“, entgegnet Tom mir wie aus der Pistole geschossen.
„Denke du bitte einmal daran, dass sehr renommierte deutsche Hirnforscher im Jahr 2004 das sogenannte ‚Hirnmanifest’ in die Welt gesetzt haben, in dem sie festschrieben, dass innerhalb von zehn Jahren alle bis dahin so verblüffenden Phänomene wie ‚Geist’, unser ‚Ich’, ‚Bewusstsein’ und ‚Bewusstheit’, unsere tiefsten ‚Emotionen’ wie selbst ’Liebe’ und vieles andere mehr als reine Hirnprodukte entlarvt werden sollten.
Und was war zehn Jahre später im Jahr 2014 davon übrig geblieben? Nichts! Rein gar nichts!
Nicht ein einziges dieser Phänomene lässt sich heute hirnphysiologisch eindeutig lokalisieren, erklären oder gar beweisen. Meiner Meinung nach war das damals – wie sooft – bloß ein weiteres Zeichen purer Arroganz, die heute nicht minder weit verbreitet ist.
Selbst dann, wenn man an den Beiträgen zu solchen Themen in den modernen Massenmedien schon regelrecht ‚riechen’ kann, wie wenig fundiert das Ganze wirklich ist: Kein Stück rückt man in solchen Forscherkreisen von ihrer permanent selbstgefälligen Überheblichkeit ab.
Im ‚Spiegel’ war mal im Jahr 2014 ein Artikel, in dem es hieß, ‚Wissenschaftler haben die Biochemie der Liebe bis zum letzten Hormontröpfchen vermessen’.
Anschließend fragte man überheblich, ‚Wollen wir sie: die Liebespille?’13 – gerade so, als ob ‚Liebe’ wirklich nur biochemisch zu erklären sei.
Offenbar gibt es für solche Neunmalklugen nur Liebe mit direktem Bezug zu Sexualität und Partnerschaft. Aber tatsächlich ist Liebe doch weitaus mehr, und ihr wirkliches Spektrum ist unermesslich breit und tief.
Liebe ist etwas viel Höheres, Liebe ist geistiger Natur. Liebe gibt es vermutlich schon bei Tieren. Aber in der uns geläufigen Qualität und Tiefe kommt sie erst beim Menschen vor und macht ihn darin einzigartig unter allen Wesen dieser Erde. Ich glaube, Liebe ist daher auch ein zentraler Aspekt der Menschwerdung an sich. Weißt du, vor etwa anderthalb Jahren wurde von Forschern das Skelett eines Kindes ausgegraben. Es lebte vor ungefähr 100.000 Jahren ausgerechnet in Galiläa, in der Gegend von Nazareth im heutigen Israel, also der Heimat des historischen Jesus. Das Kind musste einen schweren Unfall gehabt haben – womöglich war ihm ein Stein auf den Kopf gefallen; denn an seinem Schädel ließen sich sogar schwerste Kopfverletzungen nachweisen. Dadurch hat es sich sicher nicht mehr richtig bewegen können, konnte wohl auch kaum noch sprechen und sehen. Wäre es damals auf sich allein gestellt gewesen, wäre dieses Kind unweigerlich schnell gestorben. Doch, wie die Forscher feststellten, muss es danach noch viele Jahre weitergelebt haben. Als es später starb, wurde es von seinen Mitmenschen mit sehr großer Sorgfalt und aufwendig beerdigt. Das zeigen zum Beispiel zwei Geweihe, die der kleine Leichnam in den Händen hielt. Das alles zeigt, dass sich andere Menschen damals sehr intensiv um dieses schwerstbeschädigte Kind gekümmert haben mussten, es versorgt und beschützt haben. 14
Was sollte dafür wohl der Grund gewesen sein?
Ganz sicher Liebe, allein Liebe!