Beat Stauffer
Maghreb, Migration und Mittelmeer
Die Flüchtlingsbewegung als Schicksalsfrage für Europa und Nordafrika
NZZ Libro
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Lektorat: Rainer Vollath, München
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ISBN E-Book 978-3-03810-418-6
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NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Inhalt
Vorwort
1Aktualität und Brisanz des Themas
2Ein Blick zurück: Als europäische Industrieländer Gastarbeiter aus Nordafrika anwarben
3Glückssucher, Abenteurer, Desperados: Irreguläre Migranten aus dem Maghreb
4Ein Fokus auf Tunesien: Kein Interesse an der Revolution
5Am Brunnen der Barfüssigen: Reportage aus Bir El Hafey, Tunesien
6Kaum Perspektiven, viel Frust: Der Migrationsdruck in den anderen Maghrebstaaten
7Nahe dran: Drei Schauplätze der irregulären Emigration
8Der Maghreb: Transitland für Migranten aus Ländern südlich der Sahara
9An den Hindernissen gescheitert: Auf dem Weg nach Europa im Maghreb gestrandet
10Unverzichtbar für die Ausreise: Die Schlepper und ihr Geschäft
11In den Dschihad oder nach Europa: Eine absurde Alternative?
12Ein neuer Limes: Der Maghreb als Schutzwall Europas?
13Der doppelte Blick: Ein tunesisch-schweizerischer Jurist analysiert die irreguläre Emigration nach Europa
14Schwieriger Weg: Als klandestiner Maghrebiner in Europa
15Um keinen Preis zurück: Die schwierige Rückführung von maghrebinischen Migranten
16Migrationspartnerschaften mit Maghrebstaaten: Gemeinsam nach Lösungen suchen?
17Aufnahmezentren in Nordafrika: Ein Hirngespinst europäischer Politiker?
18Eine verfahrene Situation: Sind Lösungen in Sicht?
19Wie geht es weiter?
Anhang
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Dank
Vorwort
Dieses Buch ist eine Nachhilfe gegen jede Art von Realitätsverweigerung in Sachen Migration und Asylpolitik.
Massenmigration ist das wohl grösste gesellschaftliche Problem unserer Tage. Sie hat eine langfristige Sprengwirkung. Die Zuwanderung spaltet in fast allen Industrieländern die Gesellschaft und polarisiert die weltanschaulichen Überzeugungen: Die einen neigen zum Abschottungs-Kampfruf «Grenze zu». Dahinter steht das Ideal einer heilen nationalen Gemeinschaft. Die anderen pflegen ihre Willkommenskultur. Sie gehen aus vom Ideal einer multikulturellen Friedensgesellschaft. Beide Lager sind dogmatisch und beide leiden auf ihre Art an Realitätsverweigerung.
Dieses Buch begegnet solchen Wahrnehmungsverzerrungen auf zweierlei Art. Zum einen vermittelt es Information und Aufklärung über die gesellschaftlichen Verhältnisse im Maghreb, über die Milieus, aus denen irreguläre Migranten stammen, über deren Motive und über den Migrationsdruck in Nordafrika. Und zum anderen zeigt es einsichtige und pragmatische Lösungsansätze einer neuen Migrations-Aussenpolitik.
Viele Zeitgenossen sind angesichts der Asylströme mit Beklemmung hin- und hergerissen zwischen Humanität und Realität. Sie stecken unerlöst im Dilemma zwischen gelebter Mitleidskultur (Gesinnungsethik) und der Einsicht in die langfristigen Folgewirkungen für die Gesellschaft (Verantwortungsethik).
Der Autor Beat Stauffer ist ein profunder und hoch geachteter Kenner der Maghreb-Länder. Seit über zwei Jahrzehnten berichtet er über das islamische Nordafrika. Er kennt die politischen Verhältnisse, die Gesellschaftsordnungen, den rasanten Wandel und die schwierige historische Belastung im Verhältnis zwischen Maghrebstaaten und europäischen Ländern. Für verschiedene Medien analysiert er die gesellschaftlichen Brüche und Veränderungen in Nordafrika.
Beat Stauffer legt im Anschluss an eine Lageanalyse in den fünf Maghrebstaaten den Fokus auf die «irreguläre Migration», also die Massenauswanderung von meist jüngeren Männern, die weder Kriegsflüchtlinge noch politisch Verfolgte sind. Sie sind nicht an Leib und Leben bedroht, sondern Armutsflüchtlinge, die meist mit Wissen und geplanter Unterstützung ihrer Familie den Weg aus der Perspektivlosigkeit suchen.
Grossmehrheitlich werden sie dann zu Asylsuchenden, die in unserem Arbeitsmarkt nicht Fuss zu fassen vermögen. Dies nicht nur wegen Sprachdefiziten und interkulturellen Problemen, sondern weil sie zuvor noch nie in festen Anstellungen und Leistungsstrukturen gearbeitet haben. Resultat ist, dass sie fünf respektive sieben Jahre nach der Ankunft in der Schweiz oder in Deutschland zu über 80 Prozent von der Sozialhilfe abhängig sind.
Beat Stauffer konfrontiert uns mit einer zentralen, in ganz Europa heiss diskutierten These: Irreguläre Migration muss gesteuert oder gar verhindert werden. Millionen von Afrikanern haben, symbolisch gesprochen, schon ihre Koffer für die Auswanderung gepackt. Die Hälfte der Bevölkerung in den Maghreb-Staaten ist unter 25 Jahre alt. Damit wird die demographische Entwicklung in Afrika zu einer sozialen Zeitbombe auch für den europäischen Kontinent.
Europa verfügt politisch, gesellschaftlich und arbeitsmarktlich weder über die Kapazitäten noch über den Willen zur echten und dauerhaften Eingliederung einer so grossen Zahl von Armutsflüchtlingen. Das ist die eine Kehrseite der Medaille. Doch derart grosse Migrationsströme schädigen auch (Nord-)Afrika selber, weil es in den meisten Fällen aktive und initiative junge Menschen sind, die «davonlaufen» und anschliessend in ihrem Land fehlen.
Beat Stauffer konfrontiert die Leser in diesem Buch mit den praktischen Fragen der Migrationssteuerung. Etwa diese: Wie müsste die notwendige Trennung («Triage») der irregulären Migranten von jenen Flüchtlingen vor sich gehen, die an Leib und Leben bedroht und asylberechtigt sind? Wo soll diese Identifikation und Asylentscheidung stattfinden: In Auffangzentren in Südeuropa? Oder in Sammelstellen in Nordafrika? Oder gar wieder in den Botschaften der EU-Staaten und der Schweiz in den Migrationsherkunftsländern?
Mit der Beschreibung von zehn international diskutierten Strategien zur Bewältigung der zu erwartenden grossen Migrations- und Flüchtlingsströme diskutiert Stauffer auch deren Realisierungs-Chancen. Er bringt die Forderung zur Errichtung von humanitären Korridoren ins Spiel, über die die wirklich verletzten und vulnerablen Personen aufgenommen und den Schleusern entzogen werden.
Recht und Praxis des heute gültigen Flüchtlingsrechts von 1951, das aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs abgeleitet worden ist, helfen nicht den Schwächsten, sondern bevorzugen die starken jungen Männer mit Zahlungsfähigkeit und persönlichem Durchsetzungsvermögen. Gerade die Schwachen, Verletzlichen kommen in diesem Asylsystem zu kurz. Stauffer plädiert, wie zahlreiche internationale Experten mit asylpolitischer Fronterfahrung, für eine Reform des humanitären Migrationsrechts. Bisher wurde eine solche von den etablierten Institutionen wie IKRK, UNO und auch von manchen Regierungen kategorisch verweigert.
Der Leserschaft dieses Buchs kann ich garantieren, dass die Lektüre für beide Meinungslager – für die Migrationsskeptiker wie auch für Leser mit Willkommensneigung – äusserst erkenntnisreich und gewinnbringend ist. Die länderübergreifenden Schlusskapitel bringen einen im Nachdenken über die Migrationsproblematik weiter.
Dieses Buch könnte sehr wohl zum Ausgangspunkt für eine realistischere Migrationsaussenpolitik gegenüber den Maghreb-Staaten, ja gegenüber dem afrikanischen Kontinent werden.
Dr. h.c. Rudolf Strahm, alt Nationalrat, Mai 2019
[1] Der Maghreb umfasst die Staaten Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko, die Westsahara (zurzeit grösstenteils von Marokko verwaltet; ehemalige Grenze zu Marokko im Norden gestrichelt) und Mauretanien.
1
Aktualität und Brisanz des Themas
An der südlichen Küste des Mittelmeers liegen vier Staaten, die kulturell eng miteinander verbunden, von ihrer Geschichte und ihren politischen Systemen her aber sehr unterschiedlich sind: Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen. Dazu kommt das an den Atlantik grenzende Mauretanien, das geografisch ebenfalls zum Maghreb, zum äussersten Westen der arabischen Welt gezählt wird. Dieser Maghreb – auch Nordafrika genannt – ist auf dem Papier zwar durch die Union des grossen arabischen Maghreb vereint, doch in Wirklichkeit verfolgt jeder dieser fünf Staaten eine eigene Politik. Zwei von ihnen – Algerien und Marokko – pflegen seit mehr als 50 Jahren eine enge Feindschaft. Dabei geht es um die Grenzen zwischen den beiden Ländern sowie um die Frage der Westsahara.
Alle diese Maghrebstaaten bilden für Europa de facto einen doppelten Schutzwall. Sie sichern ihre südlichen Grenzen in der Sahara, die an die armen Sahelstaaten, an Senegal und im Fall Libyens an Sudan und Ägypten anstossen. Vor allem aber sichern sie mithilfe ihrer Küstenwache die Mittelmeer- und Atlantikküste. Auf diese Weise verhindern sie zum einen die massenhafte Auswanderung ihrer eigenen jungen Bürger nach Europa. Zum anderen blockieren sie die Migration auswanderungswilliger junger Menschen aus Westafrika, aus den Sahelstaaten, aus dem bevölkerungsreichen Nigeria, aus Somalia und Eritrea. Gleichzeitig erschweren sie damit auch die Flucht von politisch verfolgten Menschen aus verschiedenen Ländern und von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten.
Dieser neue Limes – analog dem Schutzwall, den die Römer im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Nordafrika errichteten und von dem an einzelnen Stellen immer noch Spuren zu sehen sind –, dieser Limes sichert letztlich den gegenwärtigen Wohlstand Europas. Denn allein schon das Wohlstandsgefälle zwischen den beiden Seiten des Mittelmeers ist immer noch so gross, dass daraus eine immense Sogwirkung entstanden ist. Hunderttausende junger Migranten würden die Maghrebstaaten sofort verlassen, wenn ihnen eine legale und gefahrlose Ausreise möglich wäre. Alles weist darauf hin, dass der Migrationsdruck in den Ländern der Sahara eher noch grösser ist; dort handelt es sich potenziell um Millionen von Auswanderungswilligen. Dazu kommen in vielen Ländern zahlreiche bewaffnete Konflikte und Kriege, die die Menschen zur Flucht zwingen. Den meisten Menschen in den Ländern südlich der Sahara ist es allerdings gar nicht möglich, ihre Länder zu verlassen, da sie schlicht zu arm sind.
Aus dem Maghreb sind in den vergangenen fünf bis sechs Jahrzehnten mehrere Millionen Menschen nach Europa ausgewandert. Während die europäische Wirtschaft noch bis in die 1980er-Jahre Arbeitskräfte aus dem Maghreb aktiv rekrutierte, wurde die legale Emigration spätestens seit der Unterzeichnung des Schengener Abkommens Anfang der 1990er-Jahre unmöglich gemacht. In der Folge emigrierten Hunderttausende junger Maghrebiner auf irreguläre Weise nach Europa. Zusätzlich ersuchten Zehntausende von Menschen aus dem Maghreb – meist islamistischer Ausrichtung – in den westlichen Staaten um Asyl. Dies blieb für die Ausrichtung arabischsprachiger Moscheevereine und -verbände in der Schweiz und auch in vielen anderen europäischen Staaten nicht ohne Folgen.
Seit dem Beginn der 1990er-Jahre wurde der Maghreb selbst immer mehr zur Transitzone für Migranten aus afrikanischen Ländern. Das Phänomen war anfänglich vor allem an gewissen Brennpunkten wie etwa der Stadt Tanger sichtbar, von der aus die Migranten relativ leicht nach Europa übersetzen konnten. Eine Rolle spielten dabei auch die Afrikapolitik von Oberst Gaddafi, der vor allem junge Menschen aus den Sahelstaaten zur Einreise nach Libyen ermunterte, sowie – in vermindertem Mass – auch die sehr stark international ausgerichtete Aussenpolitik Algeriens.
Mit der Schliessung der europäischen Grenzen für Arbeitskräfte aus dem Maghreb wurden auch die afrikanischen Migrationsrouten blockiert. Vor allem im Umfeld der beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla kam es in der Folge regelmässig zu dramatischen Situationen. In den Fokus der Weltöffentlichkeit geriet das Problem erstmals im Jahr 2005, als Bilder von Tausenden afrikanischen Migranten veröffentlicht wurden, die unter schwierigsten Bedingungen in den nahe gelegenen Wäldern der beiden Exklaven hausten und regelmässig versuchten, die Grenzzäune zu stürmen.
Seither sind sich die Maghrebstaaten der Tatsache bewusst geworden, dass sie die Migrationsströme aus den afrikanischen Ländern in einem gewissen Mass selbst kontrollieren müssen, um zu vermeiden, dass diese «Transitmigranten» in ihren Ländern stecken bleiben. Der Umstand, dass sich im Jahr 2007 verschiedene islamistische Kampfgruppen zur al-Qaida im Maghreb (AQMI) zusammenschlossen und sich die neue Organisation im Niemandsland zwischen der Westsahara, dem Norden und Osten Mauretaniens, dem Süden Algeriens und dem Nordens Malis einnistete, trug zusätzlich dazu bei, dass die Maghrebstaaten dem Schutz ihrer südlichen Grenzen eine höhere Bedeutung beimassen. Die Zerschlagung der IS-Bastion Sirte, die allgemein chaotische Lage in Libyen sowie die Errichtung eines al-Qaida-Ablegers im Dschebel Chambi in einer gebirgigen Region zwischen Tunesien und Algerien dürfte diesem Sicherheitsaspekt zusätzlich Gewicht verliehen haben.
Die Arabellion, die im Winter 2010/11 im tunesischen Hinterland ausgelöst wurde, hat weder in Tunesien noch in den anderen Maghrebstaaten den Migrationsdruck vermindert. Im Gegenteil: Im tunesischen Hinterland hat sich die Lage in den vergangenen acht Jahren derart verschlechtert, dass mehr junge Migranten denn je das Land verlassen wollen. Sie glauben offensichtlich nicht (mehr) an die Errungenschaften der Revolution und an die Chancen einer demokratischen Erneuerung der tunesischen Gesellschaft. Stattdessen wollen viele von ihnen «abhauen» und ihr Glück in Europa suchen. Dass ein Teil der klandestinen Migranten aus Tunesien bis vor Kurzem nur noch die Wahl zwischen zwei Optionen zu erkennen vermochte, nämlich zwischen der Ausreise in den Dschihad oder der irregulären Emigration nach Europa, macht die Lage für die europäischen Länder deutlich schwieriger: Sie müssen zumindest bei gewissen Migranten mit einer mentalen Disposition rechnen, die eine islamistische Radikalisierung nicht ausschliesst.
In Libyen hat der Sturz des Gaddafi-Regimes zu einer chaotischen, bürgerkriegsähnlichen Situation geführt, in der das Gewaltmonopol des Staates aufgehoben ist. De facto haben dort schwer bewaffnete Milizen das Sagen. Dies hatte zur Folge, dass innerhalb von drei bis vier Jahren gut organisierte Schlepperbanden das Geschäft mit der irregulären Emigration ungehindert betreiben und Hunderttausende von Migranten nach Italien schleusen konnten. Damit trat ein, was Gaddafi im Jahr 2005 prophezeit hatte: dass Europa in einem noch nie gesehenen Ausmass von afrikanischen Flüchtlingen und Migranten «überschwemmt» werden würde. Die Schliessung des offenen Tors an der Südflanke Europas, die die italienische Regierung mit unorthodoxen Mitteln im Sommer 2017 bewerkstelligt hat, steht allerdings auf wackeligen Füssen. Zurzeit soll zwar der «Freundschaftspakt», der 2008 zwischen Berlusconi und Gaddafi abgeschlossen wurde, wieder aktiviert werden, und zwar mit dem vorrangigen Ziel, Migranten von Italien und damit von Europa fernzuhalten. Doch angesichts der instabilen Lage in Libyen und einer fehlenden Zentralregierung ist schwer vorauszusagen, wie sich die Dinge entwickeln werden und ob dieses Abkommen tatsächlich eingehalten wird.
In den Maghrebstaaten ist in der breiten Bevölkerung eine ambivalente oder gar klar ablehnende Haltung gegenüber den Massnahmen festzustellen, die die Migration eindämmen sollen. Einerseits erachten viele Maghrebiner die Migration als Grundrecht, und viele wünschen sich selbst, nach Europa auszuwandern, ihre Kinder zur Ausbildung dorthin zu schicken oder zumindest als Touristen nach Europa reisen zu können. Aufgrund der starken Prägung durch die Kolonialgeschichte, der immer noch vorhandenen Orientierung an Europa und des Gefühls des Eingeschlossenseins in den Grenzen ihres Landes ist dies auch gut verständlich. Doch andererseits bestehen, wie auch in Europa, Ängste vor einer starken Immigration aus Ländern südlich der Sahara und auch ein nicht zu unterschätzender Rassismus Afrikanern gegenüber.
Insgesamt gibt es in den Maghrebstaaten starke Vorbehalte gegenüber der Rolle, die die europäischen Regierungen Nordafrika bezüglich der Eindämmung der irregulären Migration zuweisen möchten: nämlich die europäischen Aussengrenzen mit einem vorgelagerten, doppelten Wall zu schützen. Der Maghreb gebe sich nicht dazu her, für Europa den «Gendarmen» zu spielen und die Drecksarbeit zu erledigen, ist in diesem Zusammenhang oft zu hören. Diese Ablehnung ist am stärksten innerhalb der Zivilgesellschaft, unter Intellektuellen und naturgemäss bei Organisationen zu spüren, die sich vor Ort für Flüchtlinge und Migranten einsetzen.
In Wirklichkeit haben die Regierungen des Maghreb aber schon seit einiger Zeit in gewissem Umfang zu einer solchen Zusammenarbeit Hand geboten. Ausschlaggebend dafür ist der enorme Druck, den die EU in dieser Hinsicht ausübt. Besonders ausgeprägt ist diese Zusammenarbeit in Migrationsfragen in Marokko. Dort wird in letzter Zeit immer häufiger die Frage aufgeworfen, ob das Land für die wichtige Rolle beim Schutz der europäischen Südgrenzen ausreichend abgegolten wird.
Angesichts des nach wie vor sehr hohen Migrationsdrucks sowohl im Maghreb als auch in den Ländern südlich der Sahara hat Europa in den kommenden Jahren oder gar Jahrzehnten wohl keine andere Möglichkeit, als irreguläre Immigration aus dem Maghreb und über den Maghreb so gut wie möglich einzudämmen. Gleichzeitig werden die europäischen Staaten – allen voran Deutschland – nicht umhin können, mit den Maghrebstaaten griffige Rücknahmeabkommen abzuschliessen und Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern und anderen geduldeten Migranten aus dem Maghreb vorzunehmen. Solche Abschiebungen werden auch deshalb unumgänglich sein, weil sich nur so glaubwürdig vermitteln lässt, dass die irreguläre Migration in Europa nicht (mehr) geduldet wird und dass sie sich für die Anwärter nicht mehr lohnt.
Doch Europa muss den Maghrebstaaten, muss den Millionen von jungen Menschen, die mit Bewunderung in Richtung Norden blicken, und sei es nur wegen des Lebensstils und des relativen Wohlstands, auch etwas anbieten. Dies ist von grösster Bedeutung für die Zukunft. Schon jetzt wenden sich viele junge Maghrebiner desillusioniert von Europa, dem vermeintlichen Hort der Menschenrechte und der individuellen Freiheiten, ab. Andere, autoritäre oder explizit islamische Modelle bieten sich an.
So ist es unumgänglich, für die maghrebinische Jugend neue Fenster in Richtung Europa zu öffnen und legale Formen der Migration zuzulassen. Konkret heisst das: mehr Visa für Studienzwecke und für Praktika, für Studentenaustausch und für kulturelle Begegnungen. Des Weiteren sind Formen der zirkulären Migration voranzutreiben, bei der die Betroffenen ein paar Jahre in Europa verbringen können, dann aber in ihre Herkunftsländer zurückkehren müssen. Und schliesslich sollte auch darüber diskutiert werden, ob Europa den Maghrebstaaten in Zukunft nicht Kontingente für Arbeitsvisa anbieten kann.
[2] Junge Männer aus Mali auf der Suche nach einem besseren Leben. Ich treffe sie im Frühjahr 2009 in Nouadhibou im Norden Mauretaniens. Doch die Route ist bereits gesperrt, und ihre Ausreise auf die Kanarischen Inseln scheitert. Amadou (Bildmitte, stehend) wird in den folgenden Jahren noch dreimal versuchen, via Algerien nach Europa zu emigrieren. Vergeblich.
Vor allem aber muss sich Europa im Maghreb wirtschaftlich deutlich stärker engagieren. Es muss alles daran gesetzt werden, dass der Norden Afrikas ein Ort wird, an dem die Menschen gut und würdig leben können. Alle materiellen Voraussetzungen dafür sind im Prinzip vorhanden. Die Barrieren sind weitgehend gesellschaftlicher und mentaler Art: Egoistische, nur ihrem eigenen Interesse verpflichtete Eliten, verkalkte politische Systeme ohne echte Partizipation, eine überbordende Bürokratie sowie ein unzeitgemässes, qualitativ schlechtes Erziehungswesen verhindern eine längst überfällige Entwicklung.
Die Maghrebstaaten sind die direkten Nachbarn Europas im Süden. Sie spielen für den Schutz der europäischen Aussengrenzen eine entscheidende Rolle. Angesichts der demografischen Entwicklung in Afrika, die unmöglich durch die wirtschaftliche Entwicklung aufgefangen werden kann, ist in den kommenden Jahrzehnten auch in den Ländern südlich der Sahara weiterhin von einem sehr hohen Migrationsdruck auszugehen. Wenn die Maghrebstaaten nicht stabil bleiben und ihren Bürgern nicht Lebensbedingungen anbieten können, die minimale Standards garantieren, dann wird der Norden Afrikas zu einem Unruheherd werden, der Europas Zukunft in zweierlei Hinsicht gefährden könnte: Zum einen ist es den Maghrebstaaten unter diesen Umständen nicht mehr möglich, ihre Rolle als Schutzwall am Südrand des Mittelmeers wahrzunehmen. Zum anderen wäre in einem solchen Fall damit zu rechnen, dass im Maghreb selbst grosse Fluchtbewegungen einsetzen. Europas Sicherheit und Stabilität wären damit akut in Gefahr.
Europa muss deshalb ein vitales Interesse an guten, nachbarschaftlichen Beziehungen zu den Maghrebstaaten haben und alles daran setzen, die legitimen Anliegen der schwächeren Nachbarn im Süden auf allen Ebenen zu berücksichtigen. Im Bereich der Migration bedeutet dies den Aufbau von Migrationspartnerschaften, die diesen Namen verdienen.
Im vorliegenden Buch wird zum einen versucht, die komplexen Beziehungen zwischen dem Maghreb und Europa unter dem Fokus der Migration zu analysieren. Dabei wird in einer Art Übersicht dargelegt, in welchem Ausmass in den rund 60 Jahren seit der Unabhängigkeit der Maghrebstaaten Migrationsbewegungen stattgefunden haben, die sowohl Europa als auch Nordafrika stark und unumkehrbar geprägt haben. Diese reguläre Migration geht über den Familiennachzug bis heute in einem gewissen Umfang weiter. Im Fokus dieses Buches steht aber die irreguläre Emigration, die Anfang der 1990er-Jahre eingesetzt hat und seither eine Konstante bildet. Sie ist es, die die Beziehungen zwischen Europa und den Maghrebstaaten am meisten belastet.
Das Phänomen der irregulären Emigration ist schwer zu fassen und entzieht sich auch weitgehend jeder staatlichen Kontrolle. Jahrelang war das Phänomen auch kaum ein Thema der universitären Forschung. Die Maghrebstaaten selbst hatten, so der Eindruck, weder ein Interesse an solchen Forschungen noch die dazu nötigen Instrumente. Manche Beobachter gehen davon aus, dass viele Maghrebstaaten vor dieser Form der illegalen Ausreise bewusst die Augen verschlossen haben, weil sie froh waren, dass sie sich eines Teils ihrer arbeitslosen und zum Teil auch rebellischen Jugend auf solche Weise entledigen konnten. In Europa wiederum fanden Forschungen zu diesem Thema eher selten statt, weil es schon aus sprachlichen Gründen schwierig ist, in die Netzwerke der irregulären Emigration einzudringen. Gleichzeitig hatten gewisse Kreise in Europa – etwa Grossgrundbesitzer in Spanien oder Süditalien – sehr wohl ein Interesse daran, auf solche Weise stets ausreichend billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben. Es ist denn auch ein offenes Geheimnis, dass Italien gegenüber der irregulären Immigration aus dem Maghreb – vor allem aus Marokko – bis weit in die 2000er-Jahre hinein grösstenteils die Augen verschloss.
Erst in jüngster Zeit sind wichtige Forschungsprojekte zum Thema der irregulären Emigration aus dem Maghreb publiziert worden. Einige von ihnen – etwa eine an der Universität Lausanne publizierte Dissertation zu den tunesischen Harraga – haben in diesem Buch Eingang gefunden.
Dieses Buch will weder eine akademische Publikation noch eine wissenschaftliche Forschung im engeren Sinn sein. Dazu ist das Thema viel zu weit gefasst. Vielmehr will es zum einen die unbestrittenen Fakten und Resultate der jüngeren Forschung einem grösseren Publikum bekannt machen. Zum anderen will es das komplexe Thema der irregulären Emigration aus dem Maghreb in einen grösseren Zusammenhang stellen. Weiter sollen in diesem Buch auch individuelle menschliche Aspekte der irregulären Emigration beleuchtet werden. Dies geschieht mithilfe von Porträts von Migranten, denen es gelungen ist, europäischen Boden zu erreichen, oder von solchen, die gescheitert sind oder die in näherer Zukunft ausreisen möchten. Diesem Zweck dienen auch die Fallstudie aus einer Provinzstadt im tunesischen Hinterland sowie die Reportagen von drei Schauplätzen der irregulären Emigration; Orte, die der Autor alle persönlich und zum Teil mehrfach besucht hat. Auf diese Weise soll versucht werden, die Atmosphäre dieser Dreh- und Angelpunkte der irregulären Migration zu beschreiben und einen Einblick in die oft schwierige oder gar dramatische Welt dieser Menschen zu geben, die sich entschieden haben, auf irreguläre und riskante Weise den Weg nach Europa auf sich zu nehmen. Anders als die Studien, die vor allem am Schreibtisch entstanden sind, hat dieses Buch den Ehrgeiz, nahe an das Thema heranzugehen und auch die Schwierigkeiten und Dilemmata, denen sich ein europäischer Autor dabei aussetzt, zu thematisieren.
Getreu dem Grundsatz, das Phänomen der irregulären Migration aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, soll auch der Frage nachgegangen werden, wie es für irreguläre Migranten nach der Überquerung des Mittelmeers weitergeht. Mit welchen Schwierigkeiten ein junger, gut ausgebildeter Tunesier dabei konfrontiert wird und welche «Verrenkungen» er anstellen muss, bis er endlich zu einem legalen Aufenthalt kommt, wird im Fall von Marouane exemplarisch dargelegt. Viele Maghrebiner schaffen es nicht, einen legalen Status zu erhalten und leben – oder besser: vegetieren – unter schwierigsten Bedingungen am Rand der Gesellschaft: in Genf, Mailand oder Berlin. Zwar haben sie die Reise nach Europa geschafft, doch aus dem Traum von einem besseren Leben ist ein Albtraum geworden. Diese Migranten haben in den meisten Fällen weder das Anrecht auf Asyl noch die Chance, anderweitig in Europa Fuss fassen zu können. Sie haben nichts mehr zu verlieren und verhalten sich dementsprechend. Gleichzeitig ist es sehr schwierig, solche abgewiesenen Asylbewerber und andere Migranten ohne legalen Status in ihre Herkunftsländer abzuschieben.
Damit rückt das schwierige Thema der Abschiebung unweigerlich ins Blickfeld. Es ist ein Thema, das nicht nur die Beziehungen vieler europäischer Länder zu den Maghrebstaaten belastet, sondern auch die ganze Asyl- und Flüchtlingsfrage vergiftet. Die Rückführung junger Männer aus dem Maghreb ist sehr schwierig, oft auch chancenlos. Weshalb die Maghrebstaaten Rückführungen in vielen Fällen hintertreiben, welche Schwierigkeiten in den Aufnahmeländern dabei entstehen und weshalb eine Lösung in dieser Frage unverzichtbar ist, wird in einem eigenen Kapitel dargelegt.
Dieses Buch möchte auch Lösungsansätze präsentieren. Das ist ein ambitioniertes Ziel, aber dennoch wagen wir es. Es ist offensichtlich, dass die bisherige Migrations- und Asylpolitik dem Maghreb gegenüber in eine Sackgasse geraten ist. Neue Ansätze müssen her, die sowohl die Bedürfnisse und Interessen Europas als auch diejenigen des Maghreb berücksichtigen. Es braucht, mit einem Schlagwort, Migrationspartnerschaften, die diesen Namen verdienen. Und es müssen ohne jeden Zweifel massive Investitionen in ganz Nordafrika her, damit die Menschen dort bleiben und gut leben können.
Schafft es Europa nicht, neue Wege zur Steuerung der Migration aus dem Maghreb sowie aus den angrenzenden Staaten zu beschreiten und ein neues Verhältnis zu seinen Nachbarn am Südrand des Mittelmeers zu finden, sind schwierige Szenarien denkbar und lang anhaltende Konflikte zu befürchten. In diesem Sinn ist die Regelung der Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum eine Schicksalsfrage für Europa.
[3] Lange fanden Migrationsbewegungen in umgekehrter Richtung statt. Im 19. und 20. Jahrhundert wanderten Hunderttausende von Europäern in die französischen, spanischen und italienischen Kolonien und Protektorate aus. Sie wurden dabei von den Regierungen ihrer Heimatstaaten unterstützt. Plakat zur Feier anlässlich des Zentenariums der Besetzung von Algerien.
2
Ein Blick zurück: Als europäische Industrieländer Gastarbeiter aus Nordafrika anwarben
Die Kolonisierung des Maghreb und der Beginn der Arbeitsemigration
Um die Migrationsbewegungen vom Maghreb in Richtung Europa zu verstehen, ist es unerlässlich, einen kurzen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Lange fanden nämlich Migrationsbewegungen in umgekehrter Richtung statt. Im 19. und 20. Jahrhundert wanderten Hunderttausende von Europäern in die französischen, spanischen sowie italienischen Kolonien und Protektorate und vor allem in die «Algérie française» aus und wurden dazu von ihren Regierungen aktiv ermutigt. Dieses Kapitel fand in den 1950er-Jahren und zu Beginn der 1960er-Jahre ein Ende; im Fall Algeriens ein brutales, ein vergleichsweise sanftes in den anderen Staaten. Das bis heute ungelöste Problem der ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara, die seit 1975 grösstenteils von Marokko besetzt ist, soll an dieser Stelle beiseitegelassen werden. Mehr als 1,3 Millionen Algerienfranzosen, «pieds noirs» genannt, und über 100 000 Harkis, Algerier, die auf der Seite Frankreichs gekämpft hatten, mussten Algerien innerhalb von kurzer Zeit verlassen. Auch in den anderen Maghrebstaaten kehrten die meisten Europäer in mehreren Phasen wieder in ihre ehemaligen Heimatstaaten zurück.
Dieser Dekolonisierungsprozess war für beide Seiten sehr schmerzhaft, wobei die Anzahl an Opfern auf der Seite der Maghrebiner – vor allem in Algerien – sehr viel grösser war. Dennoch kam es in der Folge erstaunlicherweise nicht zu einem Abbruch der engen Beziehungen zwischen den Maghrebstaaten und Europa. Vielmehr emigrierten bereits in den 1960er-Jahren Hunderttausende von arbeitssuchenden Maghrebinern nach Europa; meist junge Männer aus den ärmsten und am wenigsten entwickelten Regionen Algeriens, Tunesiens und Marokkos.
Diese Arbeitsemigration hatte allerdings schon Jahrzehnte vorher begonnen, im Fall Marokkos bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Im Jahr 1938 wurde im französischen Protektorat Marokko eigens ein Emigrationsamt geschaffen, um die Rekrutierung, die Auswahl und den Transport marokkanischer Arbeiter nach Europa sicherzustellen. Festzuhalten ist auch, dass Tausende maghrebinischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Franzosen gegen Hitlerdeutschland kämpften und dass viele dabei ihr Leben verloren.
Die Arbeitsemigration im grossen Stil begann aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dauerte bis Anfang der 1970er-Jahre. Maghrebinische Arbeitskräfte waren etwa in Kohleminen, in Autofabriken, in der Industrie im Allgemeinen, auf Baustellen und in der Landwirtschaft willkommen. Zu diesem Zweck wurden sie aktiv rekrutiert; ähnlich wie zur selben Zeit türkische Gastarbeiter in Deutschland angeworben wurden. Meist kamen junge Männer. Waren sie bereits verheiratet, mussten sie die Familie in ihren Dörfern oder Städten zurücklassen. Anfangs war fast ausschliesslich Frankreich das Ziel maghrebinischer Arbeiter. Später emigrierten diese auch nach Belgien, in die Niederlande, nach Spanien, Italien und in geringem Umfang auch nach Deutschland.
Ab den frühen 1970er-Jahren benötigte die französische Wirtschaft keine neuen Arbeitskräfte mehr. Doch die Gastarbeiter aus dem Maghreb kehrten nicht zurück, sondern liessen sich dauerhaft in Frankreich nieder und holten ihre Familien nach. In anderen Ländern fanden vergleichbare Entwicklungen statt. In Italien und Spanien benötigte die Landwirtschaft hingegen noch bis zur Jahrtausendwende Arbeitskräfte aus dem Maghreb. Neben Migranten aus afrikanischen Ländern stellen diese bis heute das Gros der vielen Erntehelfer auf Farmen und Plantagen, wo oft noch prekäre Arbeitsbedingungen herrschen.
Das Ende der Arbeitsmigration und die Folgen
Das Ende der legalen Arbeitsmigration fand Anfang der 1990er-Jahre statt. Paukenschlag war im Juni 1990 der Abschluss des zweiten Schengener Abkommens. Damit wurde ganz Nordafrika von der Personenfreizügigkeit ausgenommen. Als erstes Land verlangte Spanien ab dem 15. Mai 1991 von allen Marokkanern ein Visum. Andere europäische Staaten zogen wenig später nach. Maghrebiner hatten nun praktisch keine Chance mehr, in Europa legal zu arbeiten. Sie brauchten nun auch für touristische und geschäftliche Reisen sowie für Studienzwecke ein Visum. Auf diese Weise wurde der Maghreb auf brutale Weise von Europa abgetrennt. Damit begann die Hochkonjunktur der irregulären Migration aus den drei zentralen Maghrebstaaten Tunesien, Algerien und Marokko.
Die irreguläre Migration hatte zwar schon in den 1980er-Jahren eingesetzt. Doch nun schwoll sie massiv an. Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel Spaniens aufzeigen. Zwischen 1991 und 2001 reisten schätzungsweise mehr als 200 000 Marokkaner illegal nach Spanien ein und blieben mehrheitlich dort. Im Jahr 2005 schätzten die spanischen Behörden die Zahl der illegal im Land lebenden Marokkaner auf 500 000 Personen. Die damalige Mitte-Links-Regierung unter Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero versuchte in diesem Jahr, das Problem mit einer einmaligen Legalisierung in den Griff zu bekommen. So gelangten weiterhin rund 86 000 marokkanische Staatsbürger in Spanien in den Besitz eines legalen Aufenthaltstitels. In den darauffolgenden Jahren kam es zu weiteren Legalisierungen. Dennoch ging die irreguläre Einwanderung weiter. Zurzeit leben laut offiziellen spanischen Angaben rund 740 000 Marokkaner auf legale Weise in Spanien. Die Schätzungen über die illegal in Spanien lebenden Marokkaner variieren zwischen 200 000 und 250 000 Personen. Dazu kommen rund 220 000 Personen, die in den vergangenen zehn Jahren die spanische Nationalität erhalten haben, in ihrem Heimatland aber weiterhin als Marokkaner gelten. Insgesamt zählt die marokkanische Diaspora in Spanien im Jahr 2018 knapp eine Million Menschen. Sie ist damit nach derjenigen in Frankreich die grösste marokkanische Community Europas.
In Europa leben heute schätzungsweise zwischen 4,5 und sechs Millionen Menschen mit marokkanischen Wurzeln, alle Generationen mit eingerechnet. Angesichts einer Bevölkerungszahl von rund 35 Millionen Einwohnern bedeutet dies, dass rund 15 Prozent aller Marokkaner im Ausland leben.
Auch in Algerien und Tunesien fanden sehr starke Migrationsbewegungen in Richtung Europa statt. Laut der Association internationale de la diaspora algérienne à l’étranger (AIDA) sollen insgesamt rund sechs Millionen Menschen mit algerischen Wurzeln im Ausland leben, die meisten von ihnen in Europa. Andere Schätzungen liegen allerdings deutlich niedriger. Auch im wesentlich kleineren Tunesien emigrierten Hunderttausende. Sehr viel weniger Emigranten weisen Mauretanien und Libyen auf (siehe Kasten).
Anzahl der über drei Generationen nach Europa migrierten Maghrebiner
[4] Ein junger Algerier in einem Industriebetrieb in der ehemaligen DDR. Ab den 1950er-Jahren wanderten Hunderttausende von Arbeitsmigranten aus dem Maghreb nach Europa aus. Anfangs war ihr Ziel fast ausschliesslich Frankreich. Später emigrierten sie auch nach Belgien, in die Niederlande, nach Spanien, Italien und in geringerer Anzahl auch nach Deutschland.
Die Berechnung der Gesamtzahl an Migranten mit maghrebinischen Wurzeln ist aus verschiedenen Gründen sehr schwierig. Zum Ersten führt Frankreich, das wichtigste Einwanderungsland, keine nach Herkunft aufgegliederte Statistik. Zum Zweiten gibt es Hunderttausende von Bürgern mit doppelter Staatsbürgerschaft. Zum Dritten leben viele maghrebinischstämmige Migranten bereits in dritter oder vierter Generation in ihrem Gastland, werden aber in ihren Herkunftsländern – zum Beispiel in Marokko – dennoch als eigene Staatsangehörige aufgeführt. Und vor allem gibt es aufgrund der irregulären Einreise eine sehr hohe Dunkelziffer an Menschen, die in keiner Statistik auftauchen.
Aus diesem Grund können sowohl statistische Ämter als auch versierte Maghrebkenner nur Schätzungen vornehmen. So geht etwa der Politikwissenschaftler und Autor Gilles Kepel davon aus, dass in Frankreich annähernd doppelt so viele Tunesier und tunesischstämmige Menschen leben, wie die offiziellen Zahlen des nationalen statistischen Amts (INSEE) ausweisen. Dasselbe gilt für Marokkaner: Auf der Basis der offiziellen Zahlen (INSEE) aus dem Jahr 2008 schätzt der Historiker Pierre Vermeren die gesamte Zahl an Marokkanern und Menschen mit marokkanischen Wurzeln in Frankreich im Jahr 2015 auf rund 2,5 Millionen.
Demgegenüber nimmt sich die Anzahl der Maghrebiner, die in Deutschland und in der Schweiz leben, sehr bescheiden aus. Etwas mehr als 131 000 Maghrebiner weist die offizielle Statistik im Jahr 2017 für Deutschland aus (75 620 Marokkaner, 19 845 Algerier, 34 140 Tunesier), rund 20 000 Menschen aus dem Maghreb lebten Ende 2017 mit einer Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz (7586 Marokkaner, 7726 Tunesier, 4059 Algerier, 797 Libyer und 74 Mauretanier). Dazu kommen noch etwas mehr als 400 Maghrebiner, deren Asylgesuche hängig sind, rund 900 Personen, die ausreisen müssen, sich aber noch immer in der Schweiz aufhalten, sowie eine unbekannte Anzahl «sans-papiers».
Doch die Zahlen sind nur das eine. Viel wichtiger dürfte es sein, dass die Immigration von Menschen aus dem Maghreb aufs Engste mit der Problematik in den Banlieues verknüpft ist, also mit der räumlichen Segregation und der schlechten Integration dieser Einwanderer in den armen Aussenvierteln vieler grosser Städte. Allein in Frankreich ist die Rede von rund 1500 solcher Viertel, die sich durch einen sehr hohen Anteil an maghrebinischen und afrikanischen Einwanderern, eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit unter den jungen Menschen, eine relativ hohe Kriminalitätsrate sowie weitere problematische Faktoren auszeichnen. Derartige Vorstadtviertel mit einem hohen maghrebinischen Bevölkerungsanteil gibt es auch in Belgien, den Niederlanden und in geringerem Ausmass in Schweden. Unabhängig von der Frage, welche Politik für die Entstehung dieser Banlieues verantwortlich ist und welche Faktoren diese begünstigt haben, steht ausser Zweifel, dass die Einwanderung von Menschen aus dem Maghreb in der Wahrnehmung von Europäern häufig damit assoziiert und tendenziell negativ gewertet wird. Die zunehmend salafistische Prägung vieler französischer Banlieues, wie sie Gilles Kepel beschreibt, verstärkt diese negative Zuschreibung erheblich.
Trotz der Barriere, die die Gründung des Schengenraums Anfang der 1990er-Jahre gegenüber dem Maghreb errichtete, ging die Einwanderung über den Familiennachzug weiter. Die Zahlen zeigen denn auch in den 1990er- und 2000er-Jahren ein starkes Ansteigen der Zahl an maghrebinischen Personen in Europa. Neben dem Familiennachzug blieb, von wenigen Ausnahmen abgesehen, einzig die Heiratsmigration, um auf legale Weise nach Europa zu gelangen: zum einen die Heirat mit einer Maghrebinerin oder einem Maghrebiner, die oder der in Europa über einen Aufenthaltstitel verfügt, zum anderen die Heirat mit einer Europäerin beziehungsweise einem Europäer. Gerade in Ländern wie Deutschland und der Schweiz, die historisch über keine engen Beziehungen zu den Maghrebstaaten verfügen, spielte die Heiratsmigration eine wichtige Rolle; dies umso mehr, als Marokko und Tunesien seit Jahrzehnten beliebte Urlaubsländer sind. Jeden Tag, so berichtete mir vor Jahren der Mitarbeiter einer Schweizer Botschaft im Maghreb, stünden Männer vor dem Eingangstor, die eine Schweizer Touristin heiraten wollten.
Islamisten aus dem Maghreb flüchten in die Schweiz und prägen Moscheen
In der Schweiz suchten seit den 1950er-Jahren zahlreiche Menschen aus islamischen Ländern Schutz, die meist aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Muslimbrüdern in ihren Herkunftsländern verfolgt wurden. So flüchtete etwa der aus Ägypten stammende Said Ramadan im Jahr 1954 nach Genf und gründete dort das erste islamische Zentrum der Schweiz, das bis heute existiert.
Auch maghrebinische Islamisten ersuchten in der Schweiz um Asyl. In den Jahren zwischen 1980 und 2010, der Zeit, in der die arabischen Aufstände ausbrachen, erhielten insgesamt 2036 Nordafrikaner in der Schweiz Asyl. Mit Ausnahme der libyschen Asylsuchenden waren die meisten Mitglieder von Ennahda (Tunesien), dem Front islamique du Salut (FIS, Algerien), der Organisation Al-Adl Wal-Ihsane (Marokko) sowie von anderen Gruppierungen aus dem islamistischen Spektrum. Vor allem in den 1990er-Jahren, als in Algerien ein blutiger Bürgerkrieg herrschte, kam es wiederholt zu heiklen Situationen, als prominente FIS-Kader trotz des ausdrücklichen Verbots, sich in der Schweiz politisch zu betätigen, öffentlich Stellungnahmen abgaben. Mehrere FIS-Mitglieder mit Asyl in der Schweiz wurden verwarnt, während Ahmed Zaoui, ein mutmasslicher Sympathisant des Groupe Islamique Armé (GIA), des Landes verwiesen und nach Burkina Faso ausgewiesen wurde. Larbi Guesmi, ein im Kanton Neuenburg wohnhafter tunesischer Asylbewerber, wurde im Februar 2011 wegen eines Gedichts über Sprengstoffgürtel zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 90 Tagen und einer Busse von 300 Franken verurteilt. Die meisten Maghrebiner, die aus solchen Gründen in der Schweiz Asyl erhalten hatten, verzichteten allerdings auf politische Aktivitäten und führten ein unauffälliges Alltagsleben.
Auch nach Deutschland flüchteten prominente Islamisten. So lebten etwa Rabah Kebir, der Repräsentant der algerischen FIS im Ausland, sowie zwei Söhne von Abassi Madani, dem Anführer der FIS, jahrelang in der Nähe von Köln. Obwohl die deutsche Regierung Kebir jegliche politische Betätigung untersagt hatte, rief dieser mehrmals zum Sturz der Regierung in Algier auf. Laut Medienberichten richtete sich Kebir «durch eine Vielzahl an Verstössen gegen ausländerrechtliche Bestimmungen» und sorgte für «permanenten Ärger mit den deutschen Behörden».
Für die maghrebinischen Gemeinschaften in Deutschland und in der Schweiz hatte der Zustrom von zumeist islamistischen Asylsuchenden Folgen, die bis heute nachwirken. So sind zahlreiche Moscheevereine, in denen arabischsprechende Gläubige verkehren, aber auch islamische Dachverbände dadurch stark geprägt worden. Denn viele der oft intellektuellen Asylsuchenden verbreiteten ihr islamistisches Weltbild fortan in diesen Moscheen. Als Beispiel sei hier nur der aus Marokko stammende und in Saudi-Arabien ausgebildete Youssef Ibram erwähnt. Dieser war seit Beginn der 1990er-Jahre als Imam in verschiedenen Moscheen in Zürich, in Petit-Saconnex, einem Stadtteil von Genf, sowie an weiteren Orten tätig. Ibram vertritt in gesellschaftspolitischen Fragen eine ultrakonservative Haltung und gehört als einziger Schweizer Imam dem europäischen Fatwarat an.
[5] Ein junger Mann in der Altstadt von Fes. Zeit hat er in Hülle und Fülle. Doch es fehlt an Arbeit, an Perspektiven, an Unterhaltung. Die vorherrschende Stimmung ist Lähmung, Resignation, Frust. «Mauersteher» werden diese jungen Männer in Algerien genannt. Es gibt im Maghreb Hunderttausende von ihnen. Oft träumen sie von der Emigration nach Europa.
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Glückssucher, Abenteurer, Desperados: Irreguläre Migranten aus dem Maghreb
Harraga werden die jungen Männer genannt, die den Maghreb auf der Suche nach einem besseren Leben ohne Visum oder Arbeitsbewilligung in Richtung Europa verlassen. Der Begriff hat viele Facetten. Er stammt ursprünglich aus dem algerischen Dialektarabisch und lässt sich wie folgt übersetzen: diejenigen, die etwas hinter sich lassen, Schluss machen, brennen im selben Sinn wie auf Französisch «brûler un feux rouge» für ein Rotlicht missachten. Die meisten Autoren gehen davon aus, dass sich der Begriff aus der häufigen Praxis maghrebinischer Migranten ableitet, ihre Papiere zu verbrennen beziehungsweise zu vernichten, bevor sie europäischen Boden betreten.
Harga wiederum meint das Phänomen der irregulären Emigration. Darin enthalten ist die Bedeutungskomponente des Regelverstosses, der jugendlichen, aggressiven Energie, des Die-Welt-Eroberns. In der Tat sind die Harraga Glückssucher, Abenteurer und oft auch Desperados in allen möglichen Mischungen und Varianten; scharf unterscheiden lassen sich die Motivationen der zumeist jungen Männer ohnehin nicht.
Glückssucher, Abenteurer, Desperados: Die grobe Einteilung der tunesischen Migranten in diese drei Kategorien, die gleichzeitig auch drei wichtigen Fluchtmotiven entsprechen, ist politisch umstritten. Als der ehemalige Basler Integrationsbeauftragte Thomas Kessler in einem Interview im Jahr 2012 davon sprach, die tunesischen Migranten seien «junge Männer auf der Suche nach Arbeit und Abenteuer», brach von links-grüner Seite ein Sturm der Entrüstung los. Man nahm es Kessler offensichtlich übel, dass er auf solche Weise Zweifel äusserte an der Asylwürdigkeit dieser Migranten. Doch alles spricht dafür, dass Kessler mit seiner Einschätzung durchaus richtig lag.
Über die Einteilung in diese drei Kategorien lässt sich durchaus diskutieren. Doch die wenigen wissenschaftlichen Studien, die zur Frage der Fluchtgründe der jungen Tunesier existieren, kommen dieser These ziemlich nahe. Seit dem Sturz des Regimes von Ben Ali kann bei den meisten dieser Migranten von einer politischen Verfolgung nicht die Rede sein, und die politisch engagierten Tunesier, die zum Teil tatsächlich von den Behörden schikaniert oder gar verfolgt werden, bleiben in den meisten Fällen im Land. Denn ihnen ist es ein Anliegen, für eine Veränderung der Verhältnisse zu kämpfen.
Praktisch alle Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass die Perspektivlosigkeit, die fehlenden Möglichkeiten, das eigene Leben signifikant zu verbessern, die weitverbreitete Arbeitslosigkeit sowie das Leiden an der Enge der tunesischen Gesellschaft die wichtigsten Motive der jungen Migranten sind, das Land zu verlassen und in Europa ihr Glück zu suchen. Für die meisten steht dabei die Suche nach Arbeit im Vordergrund. Oft geht es ihnen auch um mehr persönliche Freiheiten.
Dass Menschen den Umständen entfliehen wollen, die sie in ihrem Alltag – vor allem im armen Hinterland – erleben, ist sehr gut nachvollziehbar. Junge Tunesier fühlen sich in ihrem Land gewissermassen «eingesperrt», können viele ihrer Bedürfnisse nicht ausleben und sind oft zu Untätigkeit verdammt. Dies stellt, vor allem in einer tendenziell patriarchalischen, machistischen Gesellschaft, ein schweres Handicap dar. Es erstaunt nicht, dass junge, kräftige Männer die Welt «erobern», Herausforderungen bestehen, Risiken eingehen wollen. Dieses Motiv ist selbstverständlich legitim, stellt aber ebenso wenig wie die Suche nach besseren Perspektiven einen Asylgrund dar.
Unter dem Stichwort «Desperados» soll in diesem Zusammenhang die schwierigste Kategorie der tunesischen Migranten beschrieben werden: «Verzweifelte», die aus verschiedenen Gründen praktisch keine Chancen auf eine berufliche oder persönliche Weiterentwicklung haben. Es handelt sich meist um junge Männer aus armen und unterprivilegierten Milieus. Sie haben häufig die Schule frühzeitig abgebrochen, weder eine Berufsausbildung noch ein Studium absolviert und fristen ein elendes Dasein am Rand der Gesellschaft, das von Demütigungen und endlosem Warten geprägt ist. Die allenfalls zur Verfügung stehenden Arbeiten – etwa in der Landwirtschaft – sind derart schlecht bezahlt, dass sich viele aus Prinzip weigern, solche Jobs anzunehmen. Dazu kommen sozial auffällige junge Männer und solche, die kleinere oder grössere Delikte begangen haben. Alle Beobachter, die wir befragen konnten, räumten ein, dass sich ein bestimmter Teil der tunesischen Migranten aus solchen marginalisierten jungen Männern zusammensetzt. Sie wollen «abhauen», weil sie in Tunesien eh keine Chancen haben und weil es für sie nur noch besser werden kann. Es sind diese Desperados, die letztlich in Europa für den schlechten Ruf der tunesischen Migranten und Asylbewerber sorgen.