Table of Contents

Titel

Impressum

Vorwort

Ein Gefängnis ...

Böse Menschen

Gedankengänge

1001 Hände

Der neue Tag

Samtene Stille

Sich in Freiheit denken

„Vater, die Deutschen sagen ...

Widmung

Der Menschen Herz

 

 

 

 

 

 

Arian Davin

 

 

 

 

Acht Quadratmeter

Als Kind mit Gewalt aufgewachsen,

als Erwachsener

in einer Zelle mit

Mördern

 

 

 

 

 

 

AUTOBIOGRAFIE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Arian Davin

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2019

ISBN: 9783957536945

Copyright: Pictures, Logos, Layout, Design: Mr. Genius MMB MEDIA. All Rights Reserved

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

JVA Stammheim

JVA MannheimJ

VA Heilbronn

 

 

 

 

Vorwort

 

 

 

Wenn dieses Buch auch nur...

einen potenziellen Drogenkonsumenten davon abhält,
der Sucht zu verfallen -

einen an der Schwelle zur Kriminalität stehenden davor bewahrt,

wo auch immer,

im Gefängnis zu landen -

einen Richter daran erinnert,

dass es außer dem Recht noch den Begriff der Gerechtigkeit gibt,

einem Staatsanwalt bewusst macht,

dass hinter jeder Akte ein Mensch steht,

den die Akte nicht erfasst -

einen Rechtsanwalt erkennen lässt,

dass er für ein exorbitantes Honorar auch eine

entsprechende Arbeit zu leisten hat -

einen Gefängnisdirektor dazu anhält,

nicht nur die Insassen,

sondern auch seine Angestellten hinsichtlich ihrer Gesinnung zu prüfen -

dann hat sich die Arbeit,

die ich in dieses Projekt investiert habe,

mehr als gelohnt!

 

Ein Gefängnis ist ein Ort, in dem die schlimmsten Albträume Wirklichkeit werden!

   Eine leichte Ahnung von dem, was mich noch erwarten würde, bekam ich gleich nach meiner Ankunft in der JVA Mannheim. Mir wurde eine Zelle zugewiesen, in der schon ein ganz besonderer Mörder hauste. Weder wurde ich gefragt, ob ich mit dieser Bestie meine Tage und Nächte verbringen könnte, noch wurde ich über die Person informiert.

   So stand ich völlig ahnungslos plötzlich einem fremden Mann gegenüber, mit dem ich für die nächste Zeit einen circa 14 Quadratmeter kleinen, abgeriegelten Raum teilen sollte. Da ich von meinem, zwangsweise zugewiesenen, Zellengenossen nichts wusste, stellte ich mich vor und schüttelte eine Hand - die mich nur wenig später in einen Waschzwang trieb. Er erzählte mir nämlich, während ich noch meine Habe auspackte, dass er wegen Mordes inhaftiert sei. Ich hatte den Eindruck, dass er nur darauf gewartet hatte, endlich von seiner Tat berichten zu können.

   Von seiner Schilderung will ich nur so viel weitergeben wie nötig, die Details behalte ich lieber für mich, da ich nicht weiß, wer dieses Buch einmal lesen wird. Der Typ, mit dem ich auf Gedeih oder Verderb eingesperrt war, hatte seine Tochter ermordet, zerstückelt und die Leichenteile an verschiedenen Orten „entsorgt“! Sein grenzenloses Mitteilungsbedürfnis war in jeder Hinsicht widerlich! Er redete und redete ohne Punkt und Komma, aber mit unüberhörbarem Stolz. Das, was ich zu hören bekam, vermutete man eher in cineastischen Horrorgefilden denn einem realistischen Dasein. Wie ein Mensch so handeln und auch noch stolz darauf sein konnte, will mir bis heute nicht in den Kopf.

   Schon zu Beginn seiner freiwilligen, aber unerwünschten „Beichte“ wuchs in mir ein Gefühl von Abscheu und Ekel, wie ich es bis dato noch nicht empfunden hatte: Ich musste mir die Hände waschen! In Zukunft sollten meine Handtücher nicht mehr trocknen, denn in meiner Fantasie sah ich überall Blut, das auch von meinen Sachen Besitz ergriff! Nach noch nicht mal einer Stunde gaukelte mir meine Psyche Bilder vor, die mich an den Rand des Wahnsinns treiben sollten. Nur wusste ich es zu dem Zeitpunkt noch nicht!

   Zunächst musste ich mich in eine Situation einfinden, die ich so nicht erwarten konnte. Wer dachte denn schon an eine aufgezwungene Gemeinschaft mit einem … Ja, was war er nun: ein eiskalter Mörder, ein gefährlicher Psychopath oder ein religiöser Eiferer? Eine befriedigende Antwort habe ich bis heute nicht gefunden. Warum nicht, erkläre ich am besten mit seiner Geschichte - in Kürze:

   Er kam mit 15 Jahren aus dem Nahen Osten als Flüchtling nach Deutschland. Mittlerweile ist er 45, verheiratet, hat drei Kinder - noch eine Tochter und einen Sohn -, arbeitete als Elektroingenieur und galt als Vorzeigemoslem, treusorgender Familienvater und Ehemann.

   Wie er wirklich tickte, zeigte sich, als seine älteste Tochter, achtzehnjährig, sich in einen Deutschen verliebte. Er verbot ihr jeglichen Umgang und drohte ihr, sie mit einem anderen Moslem zu verheiraten. Das Mädchen ließ sich aber nicht einschüchtern - und besiegelte damit seinen Tod. Er bezeichnete die Tat als notwendig, um sie vor einer nicht zu verzeihenden Schande zu bewahren! Die geliebte Tochter wurde Allah übergeben, der sie nun als seine Dienerin liebte und beschützte - sagte er voller Überzeugung!

   Einerseits erschrak ich über seine verqueren religiösen Ansichten, andererseits über den offenen Rassismus. Den kannte ich bis dahin immer nur von der anderen Seite - als Deutsch-Iraner! Der unverständliche Hass auf andersfarbige Haut, anders lebende Bevölkerungsgruppen oder andere Religionen et cetera scheint eine weltweite Dummheit zu sein! An diesem Punkt seiner „Erzählung“ schoss mir die stets unheilvolle Symbiose von Dummheit und Gewalt durch den Kopf. Beispielhaft dafür: sein Verhalten!

   Irgendwann an diesem denkwürdigen Tag versiegte tatsächlich sein aufgestauter Redefluss, und er beendete seine Heldengeschichte mit dem Satz: „Jeder Vater hat das Recht, ein ungehorsames Kind nach seinen Maßstäben zu bestrafen, aber auch jeder Vater hat die Pflicht, sein Kind vor Unheil und Schande zu schützen. Beides habe ich erfüllt - und so darf mich kein Gericht verurteilen!“

   Ich war fassungslos!

   Da saß dieses Monster seelenruhig auf seinem Stuhl und erläuterte seine Unschuld! Meine seit Stunden unterdrückte Wut brach sich nun Bahn. Zum ersten Mal - nach unserer Begrüßung - sah ich ihm ins Gesicht, starrte in die schwarzen, fanatisch glühenden Augen und erkannte sofort, dass es sinnlos war, auch nur ein Wort zu verlieren. Also schwieg ich, schüttelte nur verärgert den Kopf, kletterte auf mein Doppelstockbett, um mich wieder in den Griff zu bekommen. Es war nicht einfach! Aber das Gebot der Stunde lautete: unter allen Umständen einer körperlichen Auseinandersetzung zu entkommen und selbige zu vermeiden!

   Gestehen muss ich allerdings, dass ich schon während seiner begeisterten Mordschilderung gerne meine Faust in sein Schandmaul geschlagen hätte! Vielleicht wäre es sogar die einzig richtige Antwort gewesen. Doch es sprach zu viel dagegen.

Vor allem, mein Selbsterhaltungstrieb, denn ich wollte die Zeit der Inhaftierung überleben - wie auch immer! Dieses Vorhaben konnte aber nur gelingen, wenn ich einen wie auch immer Gestörten nicht die Möglichkeit einräumte, es zunichte zu machen. Für ihn gab es ja nichts mehr zu verlieren. Vorsicht war demnach mehr als angebracht!

   Außerdem hasste ich die Ausübung von körperlicher Gewalt, egal in welcher Form. Das Gleiche galt im Übrigen auch für seelische Gewaltanwendung!

   So lag ich nach meiner Flucht auf meinem Bett in Gedanken da, quälte mich durch die Emotionen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ergebnislos! Es war, als hätte ich ein Endloslaufband im Kopf, auf dem nur noch eine Meldung lief: „Ausgeliefert …, ausgeliefert …, ausgelief… !“

   Wieder einmal durfte ich feststellen, dass selbst verschwommene Gefühle stärker waren als jedes Denken. Wobei nicht zu verleugnen war, dass meine damaligen Gefühle sehr nahe an der Realität lagen. Sogar doppelt, denn ich war einmal dem System ausgeliefert, das mich ohne Skrupel in eine Zelle gesperrt hatte, in der ich um mein Leben fürchten musste! Mit Aufsicht, Verantwortung oder gar Fürsorgepflicht von Seiten der Haftanstalt konnte da wohl nicht mehr die Rede sein! Ob es nun Hohn oder reiner Sadismus war, wenn die Anstaltsleitung anordnete, jeden Neuankömmling in einer Doppelzelle unterzubringen - um einen möglichen Suizid zu verhindern -, mag jeder Leser für sich selbst beantworten. Ausgeliefert war ich aber auch einem Mörder oder, besser gesagt, einem potenziellen Doppelmörder. Wir waren auf engstem Raum eingeschlossen, und die geringste Kleinigkeit konnte zur Katastrophe führen. Ich wusste ja nicht, was ihn reizte, beleidigte oder sonst wie in Rage brachte. Aber ich wusste, dass ich irgendwann einmal einschlafen würde. Kein angenehmes Wissen!

   Womit wohl schlicht und einfach konstatiert werden konnte: Wissen ist nicht immer Macht, sondern manchmal auch pure Ohnmacht! Genau so empfand ich meine Lage an dem Abend in der Zelle – ich war absolut hilflos, konnte nichts tun, um meine Lage zu verbessern. Meine Zukunft, ja mein Schicksal lag in fremden Händen. Händen, denen ich nicht vertraute. Das Laufband lief zu Recht!

   Nach einigen Stunden hatte ich die erste depressive Gefängnis-Phase meines Lebens überwunden und war wieder in der Lage zu analysieren. Das Wichtigste war, die mir zugewiesene „Todeszelle“ so schnell als möglich zu verlassen. Dahinter musste alles andere zurückstehen - nur raus hier, möglichst ohne Konfrontation!

   Vielleicht konnte mir der Anstaltspfarrer helfen, überlegte ich mir. Schließlich war er ja Seelsorger - und um meine Seele musste man sich Sorgen machen. Große sogar! In diese Überlegungen hinein spielte meine Fantasie verrückt, und ich sah wieder diese bluttriefenden Hände, die den gesamten Raum besudelten. Angewidert schloss ich die Augen, in der Hoffnung, ins Dunkel zu versinken. Einfach in eine wohltuende Leere eintauchen, wo kein Bild und kein Gedanke mehr quälten.

   Doch es gelang mir nicht! Ganz im Gegenteil: Mein Gehirn schaltete auf stur und trieb mich erbarmungslos in ein Gedankenrätsel über Väter im Allgemeinen und meinen Vater im Besonderen. Auf Armeslänge unter mir bewegte sich ein Vater, der mit denselben Fingern im Koran blätterte, mit denen er seine ungehorsame Tochter zersägt hatte.

   Für das gleiche „Verbrechen“ wurde ich von meinem Vater unzählige Male halbtot geschlagen. Nur mit viel Glück hatte ich diese Attacken überlebt. Ansonsten säße mein Vater ebenfalls wegen Kindsmord oder Totschlag, im Gefängnis!

   Da dieser Mann, der sich Vater nannte, für mich immer noch ein unbewältigtes Trauma verkörperte, fällt es mir nicht leicht, über ihn zu berichten. Denn: Die dafür nötige Beschäftigung mit meiner kindlichen Vergangenheit kommt eher einem bebilderten Kriegstagebuch gleich denn einer Kindheit. Meine Bilder der Erinnerung sind Dokumente des Leidens. Einige der Gehirnfotos sind vergilbt und verschwommen, andere dagegen haben nichts von ihrer brutalen Klarheit verloren. Vor diesen Bildern habe ich Angst! Darum habe ich vor langer Zeit - aus Selbstschutz - weit außerhalb meines täglichen Denkens, eine Verdrängungskiste deponiert.

Leider haben die Scharniere noch nicht so viel Rost angesetzt, um sie nicht mehr öffnen zu können.

   Daher kommt es von Zeit zu Zeit vor, wenn ich etwas Bestimmtes höre, rieche, schmecke oder denke, dass ich befürchte, dass der Deckel aufspringt und ich nicht mehr ausweichen kann. So wie jetzt in den Momenten, in denen ich mich erinnere …

  

Wir wohnten auf einem Kasernengelände in Teheran. Ich rannte über den Kasernenhof, der kein Ende nahm, so schnell mich meine in sechs Jahren gewachsenen Beine trugen. Die Furcht trieb mich vorwärts, denn ich war zu spät und zuhause wartete mein Vater! Alles, was meinen Lauf behinderte, steigerte meine Panik, denn jede Sekunde zählte. Die zu erwartende Strafe richtete sich nämlich nach Zeit. Für jede überfällige Minute ein Schlag mit dem Gürtel oder einem Fahrradschlauch. Bei der Berechnung wurden die Sekunden nur aufgerundet - niemals abgerundet. Jeder Panzer, Militärlastwagen, Granatwerfer und alles andere militärische Gerät - ansonsten mein geliebtes „Kriegsspielzeug“ -, bedeuteten jetzt nur noch bedrohliches Ärgernis. Ich umkurvte in vollem Lauf eine hohe Trainingsmauer und krachte voll in einen Soldaten. Instinktiv hielt er mich fest, sodass wir beide zu Boden stürzten. Seine Arme umklammerten mich so fest, dass mir der letzte Rest Luft aus den Lungen gepresst wurde. Auf ihm liegend wurde mir schwarz vor den Augen, doch bevor ich in Ohnmacht fiel, packte er mich plötzlich an den Hüften und stemmte mich hoch. Wie ein Flugzeug, das still in der Luft stand, schwebte ich über ihm.

   Mit ernsten, aber freundlichen Augen sah er mich an und sagte: „Viel, viel Glück gehabt, junger Mann, denn wärst du einen kurzen Moment eher um die Ecke geschossen, würdest du jetzt nicht mehr leben, denn da hätte ich noch mein Messer in der Hand!“ Vollkommen verständnislos sah ich in sein Gesicht - er lachte los, wohl über meinen dummen Ausdruck. Er stand auf, hielt mich dabei fest, um mich dann wieder auf die Füße zu stellen. Immer noch lachend fragte er: „Warum rennst du denn, als wäre der Teufel hinter dir her?“ Da ich noch nicht ganz bei Atem war, stotterte ich hervor: „Mein, mein Va…, Vater wartet.“ Der Soldat lachte noch lauter und prustete: „Dann läufst du ja nicht vor dem Teufel davon, sondern zu ihm hin!“ Ich bekam einen Klaps auf die Wange, und damit schob er mich in die angestrebte Richtung.

   Sofort rannte ich los! In meinem Kopf hämmerte es - Teufel, Teufel, Teufel - doch wohin mit diesem Begriff? Teufel und Vater, passte nicht - oder doch? Endlich, unsere Wohnung! Ich stürmte die Treppe hinauf, riss die Tür auf - und da saß er! Seine Armbanduhr vor ihm auf dem Tisch!

   Mein Eintreten schien ihn nicht zu interessieren. So stand ich da, rang nach Luft und starrte ihn an. Er aber sah nur auf seine Uhr. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis er sich endlich zu mir hindrehte. Sein Blick war böse, sein Gesicht war böse und seine Stimme hart, als er langsam sagte: „So, so …, da bist … du also …!“ Ich ertrug den Blick nicht, richtete meine Augen auf den Tisch und sah, was mich erwartete! Fein säuberlich aufgereiht, lagen dort sein Uniformgürtel und zwei Schnüre.

   Mein Körper begann zu zittern, aber ich begann, mich auszuziehen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er zufrieden grinste! Ich legte die abgelegten Kleider ordentlich gefaltet auf einen Sessel und trat, nur noch in Unterhose, auf ihn zu. Als ich dicht vor ihm stand, streckte ich meine gefalteten Hände aus. Er nahm eine Schnur, band sie fest um meine Handgelenke, griff dann unter meine Arme und setzte mich auf den Tisch. Die übrige Schnur band er um meine Knöchel. An Händen und Füssen gefesselt, saß ich da, schaute auf meine schmerzenden Knöchel und zitterte.

   So ließ er mich eine Zeitlang warten, spielte zufrieden mit seinem Gürtel, bis er sich endlich erbarmte. Langsam legte er den Gürtel zur Seite, griff sich meine Beine und hielt mich kopfüber fest. So trug er mich zum Türstock und hängte mich an den extra für diese Prozedur angebrachten Haken. Nun baumelte ich wie eine Fledermaus freischwebend im Raum! Ich schloss die Augen und wartete auf den ersten Schlag. Wie viele es werden würden, wusste ich nicht, denn ich hatte nicht mehr auf die Zeit geachtet. Mein Vater ließ mich erst mal hängen - und warten …! Dann endlich der Schmerz. Ich zählte mit. Eins. Zwei. Das Zählen hielt mich vom Schreien ab. Die Nachbarn sollten nicht wissen, was mein Vater machte. Drei. Vier. Ich verlor die Kontrolle über meine Blase. Der Urin lief warm über meine hin und her schaukelnde Brust in mein Gesicht. Es war eklig, und ich schämte mich. Die Schläge klatschten jetzt der Nässe wegen. Ich zitterte nicht mehr! Mitzählen konnte ich auch nicht mehr, denn vor Schreck über mein Pipi-Machen hatte ich einige Schläge nicht mitbekommen.

   Gut so, denn die ersten taten immer am meisten weh. Jetzt war es nur noch der Körper, der sich krümmte, wenn er von Schlägen getroffen wurde. „Irgendwann wird es zu Ende sein“, dachte ich. Und so war es dann auch. Er entfesselte mich und sagte dabei: „Irgendwann wirst du es verstehen, ich härte dich so ab, mein Sohn, dass kein Schmerz der Welt dir etwas anhaben könnte!“ Durch seine Augenbewegung zeigte er mir, ich könnte gehen, und so rannte ich in den Abstellraum, holte einen Putzlappen, säuberte den Boden, nahm meine Anziehsachen und verdrückte mich ins Bad. Unter der Dusche spürte ich deutlich, was gerade geschehen war, doch der Urin und das Blut mussten abgewaschen werden. Auf das Abtrocknen verzichtete ich lieber!

   Schnell verschwand ich in mein Zimmer, denn ich wollte nicht, dass mein Vater meine nasse Haut sah. Tür zu, Sachen weg und ins Bett. Ich verkroch mich unter die Bettdecke, vergrub meinen Kopf in einem Kissenberg und weinte mich schrill und erschöpft in den Schlaf! Das Letzte, was ich sah, waren die freundlichen Augen des unbekannten Soldaten. Und das Letzte, was ich dachte, war das Bedauern, nicht einen Moment früher in diesen Mann gerannt zu sein. Es hätte mir einiges erspart!

   Als ich erwachte, spürte ich die Hand meiner Mutter in meinem Haar. Um dies zu wissen, musste ich nicht die Augen öffnen. So viel Wärme, Zärtlichkeit und Vertrautheit existierte nur in den Händen meiner Mutter! So schlief ich wieder ein …

  

Als ich in dieser Zelle nun schlaflos und von üblen Gedanken gequält, auf meiner Pritsche lag, sehnte ich mich nach sauberen Händen, wie die von meiner Mutter oder meiner Freundin. Doch im Dunstkreis – der Insasse schnarchte und furzte – verfolgten mich nur schmutzige, gewalttätige Pranken! So sehr ich auch versuchte, von diesen Bildern loszukommen, es gelang mir nicht. Also gab ich mich den Gedanken hin. Ich nahm die Bilder, die mir mein Kopf vorspielte, und setzte sie in Gedichte um. Die wiederum unterlegte ich mit Musik, das heißt, ich erfand eine Melodie. Natürlich war es kein fröhliches Unterfangen, aber als Musiker wusste ich mit traurigen oder belastenden Momenten umzugehen.

   Gute Musik oder Lieder entstehen oft aus „schwarzen Stimmungen.“ Damit will ich aber nicht sagen, dass es gut war, was ich da zur Musik erkor. Gut war es nur, dass ich so mit der Situation umgehen konnte. Ein Ablenkungsmanöver, ja, jedoch ein erfolgreiches!

   Was mir an Tatsachen einfiel, sei in Auszügen preisgegeben. Alles drehte sich um Hände. Erlebtes, Erdachtes und Gehörtes mischten sich zu einem Kaleidoskop von Leid und Gewalt. Im Nachhinein wohl verständlich, doch machten mir meine Gedanken und die dazu erfundenen Worte Angst. Ich fühlte mich wie in einem mittelalterlichen Bild von Hieronymus Bosch.

Diese Orgie von Horror drückt sich im Folgenden wohl deutlich aus:

 

Böse Menschen

 

Wenn böse Menschen

keine Hände hätten,

gäbe es keine Minen

und keine verstümmelten Kinder!

Wenn böse Menschen

keine Hände hätten,

gäbe es keinen Genozid

und keine verscharrten Kinder!

Wenn böse Menschen

keine Hände hätten,

gäbe es keinen Hunger

und keine elend

verreckenden Kinder!

Wenn böse Menschen

keine Hände hätten,

gäbe es keine Vergewaltigungen

und keine verstoßenen Kinder!

Wenn böse Menschen

keine Hände hätten,

gäbe es keine Religionen

und keine verblendeten,

missbrauchten Kinder!

Wenn böse Menschen

keine Hände hätten,

gäbe es keine Bomben

und keine brennenden Kinder!

Wenn böse Väter

keine Hände hätten,

gäbe es keine gewalttätige „Erziehung“

und keine gefolterten Kinder!

Böse Gehirne

schaffen böse Hände

und böse Kinderträume,

damit bleiben für immer

traumatisierte Kinder!

 

Meine Gedankengänge wurden im Wesentlichen von meinen Kindheitserlebnissen gesteuert. In Verbindung mit dem mir geschilderten Kindsmord bekamen sie aber eine Intensität, die mich gänzlich aus der Bahn warf. Kinder, Gewalt, Brutalität, Schmerzen, Ablehnung, Ungehorsam, Versagen, Liebesentzug sowie Verlustängste wirbelten durch meinen Kopf und schufen ein verhängnisvolles Bild. Verhängnisvoll, weil ich keine Ruhe mehr fand. Im Grunde folterte ich mich selbst - ohne es zu bemerken. Schloss ich die Augen, wurden sie zu einer Projektionsfläche meiner Emotionen. Öffnete ich sie, um den Grausamkeiten zu entkommen, sah ich Blut. Kinderblut! Es tropfte von dem vergitterten Fenster, drang durch die verriegelte Tür in die Zelle, bildete Lachen auf dem Fußboden, floss aus dem Wasserhahn und hinterließ überall weinende, schreiende, verzweifelte Kindergesichter!

   Seit dieser Nacht wusste ich, was Albträume sind!