Kurt Faber
Gesammelte Reiseberichte
Reisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Kurt Faber
Gesammelte Reiseberichte
Reisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962816-21-6
null-papier.de/654
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Dem Glücke nach durch Südamerika
Die Seelenverkäufer
Mit dem Rucksack nach Indien
Rund um die Erde
Tage und Nächte in Urwald und Sierra
Tausend und ein Abenteuer
Unter Eskimos und Walfischfängern
Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer
Literaturverzeichnis
Index
Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Verlag entschieden haben.
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Ihr
Jürgen Schulze
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Dieses Buch ist zuerst und vor allem geschrieben für dich. Für dich, der du mit den Augen der Jugend über alle bösen Zeiten hinweg noch frisch und unbekümmert in die Welt hinein schauen kannst; für dich, der du die Ferne noch blau und verlockend winken siehst; der du noch nie die Träume und Illusionen hast zerrinnen sehen über dem grauen Wirklichkeitslande, und der du nicht weißt, was es heißt, durch lange Jahre mit emsiger Geduld, und oft auch mit verbissener Wut, ein Luftschloss zu bauen aus Hoffnungen und Entwürfen, um sie am Ende zu begraben; so tief, ach Gott, so tief!
Für dich vor allem habe ich dieses Buch geschrieben.
Damit du daraus lernest?
Ach, ich glaube nicht, dass man aus Büchern etwas lernen kann! Wenn ich mir jetzt, zum Schluss, diese Geschichten noch einmal ansehe, wenn ich bedenke, wie wirr und verworren es dabei zuweilen zugeht, wie da die Menschen auftauchen und wieder verschwinden, wie alles in flimmernder Bewegung ist und nichts sich gleich bleibt, als nur die aufreibende Unruhe, die rastlos vor sich selber davonläuft; und wenn ich mir die Menschen betrachte, die leichtsinnig und gedankenlos in den Tag hinein leben in dieser gefährlichen Unterwelt der Tagediebe und dabei ein leidliches Leben machen, und daneben die anderen, die ihr Lebtag nichts gekannt haben als Mühe und Arbeit und am Ende dennoch liegen geblieben sind am Wegrand des Lebens, so muss ich mich fragen: »Was kann man daraus lernen?«
Was sind wir denn – wir Menschen? Ach, wir sind rastlos geschäftig mit tausend Plänen und taumeln dennoch durchs Leben, wie es dem Schicksal gefällt!
Oder doch nicht?
Vor drei Jahren habe ich von meinen Fahrten und Abenteuern »Unter Eskimos und Walfischfängern« erzählt. Nun sind es wieder dieselben Dummheiten unter anderen Zonen. Sie sind inzwischen nicht kleiner geworden. Manchmal, über dem Schreiben, wenn ich von einer besonders bocksbeinigen Begebenheit berichten musste, da habe ich unwillkürlich die Feder angehalten: »Nein, so kannst du es nicht erzählen …« Aber dann habe ich doch alles so erzählt, wie es sich zugetragen hat. Denn die Wahrheit ist ein struppiger Geselle, der durch das Frisieren nicht schöner wird.
Und gerade über Südamerika soll man heute mehr denn je der Wahrheit auf die Spur helfen, zumal dann, wenn man von Argentinien redet.
Argentinien ist heute die große Mode im deutschen Vaterland. Die Zahl der Bücher über Argentinien wird immer größer, und zahllos ist die Schar der Agenten, die heute landauf, landab durch Deutschland ziehen und den vielen, allzu vielen, für die heute der Tisch nicht mehr gedeckt ist im deutschen Vaterland, das neue Land der unbegrenzten Möglichkeiten in den glühendsten Farben schildern.
So kommt nun dieses Buch gewissermaßen mitten hinein in diese argentinische Hochsaison. Es ist keine Landesbeschreibung und keine wirtschaftliche Abhandlung. Es bringt keine hochtrabenden Statistiken, an denen sich niemand satt essen kann. Es erzählt nur von den wechselvollen Schicksalen eines armen Gringo,1 der auf der Suche nach dem täglichen Brot – und wohl auch noch nach anderen Dingen – von Ort zu Ort, von Land zu Land getrieben wurde. Von Hunger und Not ist hier die Rede, von endlos langen Wanderungen auf der Jagd nach dem bisschen Arbeit und Verdienst in den heißen Straßen der fremden Städte, von kalten Nächten am kümmerlichen Campfeuer, von schlampigen Frauenspersonen in schmutzigen Matrosenspelunken. Und doch – und doch –
Ah! Wenn ich noch einmal so jung wie damals wäre und wüsste was ich heute weiß – ja, auch wenn ich wüsste was ich heute weiß! – so würde ich noch einmal mein Sach auf Nichts stellen; noch einmal würde ich mich auf die Strümpfe machen, um es zu suchen über Länder und Meere: das Glück, das Glück!
Aber in einem, ja in einem würde ich vernünftiger sein: Nicht mehr wie damals würde ich mich an den Wegrand setzen und warten, bis es geflogen käme gleich den Tauben im Schlaraffenlande. Ich würde mich auf das gute alte, hausbackene Sprichwort besinnen, dass ein jeder seines Glückes Schmied ist, und ich würde auch ein wenig danach handeln. Einmal habe ich irgendwo ein Sprüchlein gelesen, dessen Wahrheit ich oft schon bestätigt gefunden habe mit verbrannten Fingern und zerschundener Nase, und das ich doch so oft, so oft auch heute noch vergesse:
»Das Glück im Sturm bezwungen
Ist feiger Toren Wahn,
Erkämpft nur und errungen
Gehört’s dir wirklich an.«
Lambrecht i. d. Pfalz, August 1919.
Kurt Faber.
In Südamerika gebräuchliche, etwas geringschätzige Bezeichnung für den germanischen Einwanderer. <<<
Abschied von der »Pernambuco«. – Mister Chicago, der König der Reisekoffer. – Eine Lektion in republikanischer Freiheit. – Kriegsrat im Hotel Kaiserhof. – Auf dem Paseo de Julio. – Etwas von den Leiden und Freuden der Arbeitslosen. – An der Boca. – Georgette, die Verführerin. – Doña Elvira sucht einen Hauslehrer. – Ein Blick in die Welt, in der man sich langweilt. – Immer noch arbeitslos. – Und nun?
Nein, niemals werde ich jenen Tag vergessen! Es war ein heller, von Sonnenschein überglänzter Tag aus jener Zeit kurz vor dem großen Kriege, die uns heute schon in sagenhafte Fernen gerückt scheint. Groß und breit lag die »Pernambuco« an der Darsena Norte. Die Laufplanken führten nach dem Pier hinunter, und alles machte sich fertig, umso schnell wie möglich in das Land der Verheißung zu gelangen. Seit der Abreise von Hamburg war es an Bord nicht mehr so lebhaft zugegangen. Oben auf der Kommandobrücke hatte sich der Kapitän schon ganz heiser geschrien. Die Dampfwinden rasselten über den offenen Luken, und das Großdeck füllte sich mit Kisten und Koffern. Alles schrie und rannte durcheinander. Auf dem Promenadendeck stand unter dem Schatten einer riesigen Sportsmütze ein älterer Herr mit einem ansehnlichen Bäuchlein, auf dem eine dicke goldene Uhrkette glänzte. Die Hände hatte er tief in den Taschen seiner weißen Leinenhosen vergraben, während die Augen die Schar der geschäftigen Stewards musterten, die das Reisegepäck herbeischafften. Zu immer größeren Dimensionen wuchs der Berg vor ihm auf. Lederkoffer, Rohrplattenkoffer, Reisekörbe, Reisedecken, und dann immer wieder Koffer auf Koffer. Mister Chicago war heute ganz Busineßman. Sonst – während der ganzen Reise von Hamburg her – war er stets die Liebenswürdigkeit selbst gewesen. An jedem Morgen wusste er ein neues schnurriges Geschichtchen, und wenn er bei ganz guter Laune war, so pflegte er sich mit mir zu unterhalten in einem urkomischen Deutsch-Amerikanisch. Niemand wusste, woher er kam und was er war. Man wusste nur, dass er zu seinen Lebzeiten viele Dollars gemacht hatte und heute zum mindesten wohl eine Million wert war. Und weil er in seinem Äußeren etwas an sich hatte, das an die bekannten Fässer von Armours Packing House erinnerte, hatte ihn bald jedermann Mister Chicago genannt.
Heute war er mir widerwärtig, dieser Mister Chicago. Sie waren mir alle widerwärtig, diese Menschen, die ich in diesem Monat kennen gelernt hatte, wie man nur an Bord Schiff die Menschen kennen lernt, und die nun auf einmal alle in ihrer Geschäftigkeit so gleichgültig an mir vorübereilten. Das war ein Getue mit diesen Kisten und Koffern, das war ein Grüßen und Küssen und Umarmen, ein Winken und Schreien von dem Pier nach dem Schiff und wieder zurück, dass einem übel dabei werden konnte. Wo aber – so fragte ich mich – wo ist einer, der dir zuwinke? Ist einer unter dieser Menge von Schreihälsen, dem es nicht vollständig einerlei wäre, ob du hier bist oder nicht? Ist denn einer in diesem weiten Lande Argentinien, der den Teufel nach dir fragte? Missmutig schaute ich hinunter auf das wimmelnde Leben an dem Pier und über die Hafenschuppen hinweg auf das graue Häusermeer, wo die flimmernde Hitze des heißen Nachmittags über den flachen Dächern tanzte. Entsetzlich einsam und verlassen kam ich mir vor in diesem Lande Argentinien.
Da kam auf einmal Mister Chicago auf mich zu, um »shake hands« zu machen. Er klopfte mir wohlwollend auf die Schulter, wie das während der ganzen Reise so seine Art gewesen war. Eine verflucht vertraulich-intime, überlegene, herablassende, väterlich-wohlwollende Art, die mich schon oft geärgert hatte. Heute aber hätte ich ihn darum lieben mögen.
»Das hier,« sagte Mister Chicago mit einer umfassenden Handbewegung, »das ist Argentinien. Ein feines Land; ein verdammt feines Land – a very fine country, indeed! – Die Dollars liegen hier auf der Straße für den, der es der Mühe wert hält, sie aufzuheben; aber man muss die Augen aufmachen und die Ohren steif halten. Man muss die Ellenbogen tüchtig gebrauchen. Und wenn dir einer etwas in den Weg legen will, so box’ ihn auf die Nase. Ich hab’s auch so gemacht. – Ah, so jung möchte ich auch noch einmal sein und alles noch einmal von vorne anfangen; das ganze närrische Leben mit seinem Auf und Ab und allem was drum und dran hängt. Aber das ist ja nun alles vorbei – man fängt an alt zu werden, wenn man in die Sechzig kommt. – Good bye, my boy.«
»Auf Wiedersehen, Mister Chicago.«
Nicht einmal mehr schaute er sich um. Schwer und würdevoll – jeder Zoll ein erfolgreicher Busineßman – schritt er inmitten eines Schwarms von trinkgeldhungrigen Gepäckträgern das Gangplank hinunter.
Lange schaute ich ihm nach. Dieser Mann imponierte mir. Nicht durch seine Stellung und nicht durch seinen Reichtum, aber um seiner Festigkeit, um seiner Selbstsicherheit willen beneidete ich ihn. Einmal wohl – so dachte ich mir – in späten, späten Jahren, da könnte auch so etwas wie Ruhe in den aufgewühlten Vulkan meiner unruhigen, abwechslungsdurstigen Seele eintreten, und alle Unruhe und alle Rastlosigkeit würde sich legen und glätten, wie die Wogen des wilden Meeres zu einem plätschernden Wässerlein, das still und beschaulich dem Ziele entgegenläuft, wo alles ein Ende hat. Ja, so ein Mister Chicago wollte ich auch einmal werden. –
Kaum war ich drunten auf dem Pier im Lande der Freiheit angelangt, als ein Schwarm von wild gestikulierenden italienischen Lazzaroni über mich herfiel. Rings um mich her wirbelte es von hundert braunen Händen und kohlschwarzen Augen. Schmutzige Finger hoben sich beschwörend vor meinen Augen und hundert Kehlen schrien sich heiser in einer Sprache, von der ich kein Wort verstand. Plötzlich packte einer meinen Rohrplattenkoffer und rannte damit fort in einem Tempo, das einer vom leibhaftigen Teufel verfolgten armen Seele alle Ehre gemacht hätte. Er war noch keine hundert Meter weit gekommen, als ein vierschrötiger Mann mit einer mächtigen Schirmmütze ihn am Nacken packte und ohne viele Umstände zu Boden warf.
»Da sind Sie noch einmal gut weggekommen,« sagte der Fremde auf Deutsch, als ich meinen Koffer eingeholt hatte. »Der Kerl hätte Sie mitsamt Ihren paar Habseligkeiten in eine von den italienischen Spelunken am Paseo de Julio gelotst, wo die braunen Halunken Ihnen das Geld scheffelweise abgenommen hätten. Die Sorte lungert immer hier herum und wartet auf einen Dummen. Kommen Sie lieber mit mir.«
Ich war damit einverstanden, und wir fuhren in einer Droschke in rasendem Galopp davon. Ich brauchte nicht erst zu fragen, wohin er mich führte. Es stand groß auf seiner Mütze in dicken Goldbuchstaben: »Hotel Kaiserhof«.
Wir waren noch nicht weit gekommen, als das Pferd sich aufbäumte und mit einem heftigen Ruck beiseite sprang. Es hatte Ursache dazu, denn mitten auf dem Wege lag – hässlich anzusehen – ein toter Gaul. Schwarze Mückenschwärme umsummten den aufgetriebenen Körper. Die Augen starrten gläsern in den blauen Himmel.
»Das liegt hier schon seit gestern Vormittag,« sagte der Mann mit der Mütze.
»Warum schafft man’s denn nicht weg?« fragte ich verwundert.
»Warum? – ja, das kann ich selbst nicht sagen. Man ist eben nicht in Deutschland. Das hier ist eine freie Republik, wo jeder tun und lassen kann, was er will. Wenn ich so etwas wegschaffen will, so schaff’ ich es weg, und wenn ich keine Lust dazu habe – nun, dann bleibt es eben liegen! Hier hat mir niemand etwas zu befehlen. Ein jeder ist frei, und alle Menschen sind gleich hierzulande. Wenn der Finanzminister in seiner Staatskutsche hier vorüber fährt, so stecke ich die Hände nur noch tiefer in die Hosentaschen, und gucke ihm frech ins Gesicht, und fällt mir gar nicht ein, dass ich ihn grüße! Sehen Sie, so bin ich, und so darf ich sein, denn dies hier ist ein freies Land. – Und wenn gar Seine Exzellenz, der Herr Präsident der Republik selber mit seinem Zylinderhut über die Straße geht, so mache ich extra noch einen Umweg, um ihn auf die Lackschuhe zu treten. – Ja, da staunen Sie, Herr. So etwas sollte sich einmal einer unterstehen bei euch in Berlin Unter den Linden, wenn der Kaiser vorübergeht!«
Nach diesen einleitenden patriotischen Bemerkungen kam er zwanglos auf die hohe Politik zu sprechen. Es treibe sich hier zurzeit viel Gesindel herum, noch von der letzten Weltausstellung her. Es wimmele von Anarchisten, Terroristen und anderen dunklen Ehrenmännern. Die hätten noch vor kurzem einen Generalstreik inszeniert und man habe das Standrecht verhängen müssen, um dem Unfug ein Ende zu machen. Der Bundespräsident – so meinte er – sei ein verstockter Klerikaler und habe alle Liberalen und Demokraten, bis hinunter zum kleinsten Polizeidiener, um ihre Stellen gebracht. »Das ist die Mode hierzulande. Wer an der Krippe sitzt, der verteilt die Beute. Und so ist es auch gut. Wenn man schon einmal Präsident ist, dann auch gleich ordentlich, sage ich. Die anderen werden sich schon schadlos halten, wenn sie an die Reihe kommen. Denn dieses ist ein freies Land.«
Wir waren inzwischen im Hotel angelangt, wo ein geschniegelter und gebügelter, bis zur Sündhaftigkeit höflicher Sekretär mir ein Heidengeld abnahm für acht Tage Kost und Wohnung.
»Nehmen Sie sich in acht, junger Mann,« sagte der mit besorgter Miene, »Sie sind hier nicht in Deutschland. Es gibt hier viele Spitzbuben, denen man’s gar nicht ansieht. Die handeln mit falschen Pesos und unechten Lotterielosen. Sie geben sich als liebe Landsleute aus und locken einen in die Kaschemmen, wo man ausgeplündert wird bis aufs Hemd. Und wenn man so zum ersten Mal von Deutschland kommt –«
Doch schon war ich draußen, und der Schluss der wohlgemeinten Rede ging unter im Lärm der Straße. – Für was die Leute mich hier anschauten! Wohl gar für ein krasses Grünhorn? – Zum ersten Mal von Deutschland! Wenn der wüsste –
Stundenlang ließ ich mich ziellos treiben durch das wimmelnde Leben der fremden Stadt; durch endlos lange Straßen, über weite schattenlose Plätze unter der drückenden Dezemberhitze der südlichen Halbkugel und auf staubigen Boulevards bis hinauf zum Rigoletto, dem berühmten Kirchhof, wo die Toten nicht wie sonst unter der Erde liegen, sondern fein säuberlich in den Schubladen der Marmorsockel aufgebahrt sind, und tausend kostbare Denkmäler – eines immer geschmackloser wie das andere – mit einem Wort: Kitsch – sich in der abendlichen Dämmerung zu einer Gespenstergalerie zusammenfinden. Unversehens war die Nacht hereingebrochen, und ein Meer von Lichtern leuchtete über den flachen Dächern der großen Stadt. Tanzende, flimmernde, schreiende Lichter hinter grellen Reklameschildern. Ja, Sunlightseife und Singernähmaschinen sind an den Enden der Erde immer noch die besten.
Das also – so sagte ich mir, – das ist Buenos Aires! Am Ende war es eine Stadt wie alle anderen. Und doch – ich hätte hundert Augen haben mögen, um alles zu sehen.
Wenn ich heute dasitze und mich bemühe, die Eindrücke jener Stunden zu einem Bilde zusammenzufassen – zu einem Bilde von Buenos Aires – so geht das alles wild in meinem Kopfe durcheinander, wie die Lichter vor den Schildern mit der Sunlightseife.
Was soll man von Buenos Aires erzählen?
Enge, endlos lange Straßen, niedrige Häuser und drückende Sonnenhitze über flachen Hausdächern. Auf den Straßen und Plätzen ein internationales Leben und Treiben in allen Zungen der Erde. Spanier, Italiener, Engländer, Franzosen, Deutsche. Nur den Argentiner findet man nicht. Buenos Aires ist die Stadt der Widersprüche. Fast jede Nation dieser Erde hat irgendwo in diesem Hexenkessel ein Stückchen ihres eigenen Lebens aufgebaut. Da zieht sich durch das Zentrum der Stadt ein breiter, stattlicher Boulevard; die Avenida de Mayo. Es ist ein Klein-Paris. Dieselben hohen Häuser wie am Boulevard des Italiens oder in der Rue de Rivoli. Dieselben runden Marmortischchen unter den Bäumen, dieselben befrackten Kellner, dieselben billigen Kavaliere hinter dem Syphon und dem hohen Glase mit dem giftgrünen Absinth. Und es ist doch nicht Paris.
Da gibt es irgendwo in der Nähe des Hafens ein paar Häuserblocks, in denen sich nach nordamerikanischer Bauweise unendlich viele Stockwerke übereinandertürmen. Richtige Wolkenkratzer; alles »american style« und doch nur ein Miniatur-Chicago.
Wieder kommt man in eine verträumte Vorstadt, die hundert Jahre hinter der Zeit zurück ist. Keine jagenden Autos auf grauen Asphaltstraßen, keine bimmelnde Straßenbahn, nicht einmal schreiende Zeitungsjungen. Still, still ist es hier; so still, dass man das Gras zwischen dem holperigen Pflaster wachsen hört. Kleine, flache, grell angestrichene Häuser säumen die engen Gassen. Sie kehren alle das Gesicht nach innen, und der Außenwelt zeigen sie bloß graue Mauern, vergitterte Fenster und eiserne Tore mit kastilischen Löwen auf den schweren Klöppeln. Solches Bild könnte man unschwer auch in einem abgelegenen Stadtteil von Valencia oder Cadiz, oder in irgendeinem anderen größeren Pueblo1 von Andalusien finden.
Ein andermal sind wir in einer finsteren Gegend mit grauen, düsteren Häusern, wo die Armut zu Hause ist und das Elend in vielen Stockwerken übereinander wohnt, wo flatternde Wäsche an langen Leinen von Haus zu Haus gespannt ist, und das ganze Innenleben sich mit der Nonchalance des Südens weit in die Straßen hinaus baut. Kartenspielende Lazzaroni mit kohlschwarzen Haarschöpfen und scharfen Messern in den langen Hemdärmeln sitzen auf den ausgetretenen Haustreppen, und kleine dunkle Bambinos hängen sich an die Rockschöße des Vorübergehenden: »Permesso, signore, signore!« – ganz ein amerikanisches Neapel.
Und wenn man dann wieder – doch nein, ich will kein Buch über Buenos Aires schreiben.
*
Es war spät in der Nacht, als ich endlich wieder nach dem Hotel zurückfand. Ich war todmüde, aber schlafen konnte ich nicht, denn tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. – Wie es mir wohl ergehen würde in dieser kalten, bösen Welt? Ob ich mein Glück machen würde auf diesem heißen Pflaster, und dereinst als gemachter Mann, wie dieser Mister Chicago, mit zahllosen Koffern und Kisten und einem Diamantring an jedem Finger nach Deutschland zurückkehren würde? Oder – ja, das war immerhin auch möglich! – ob man nicht in Not und Elend verkommen würde zwischen diesen grauen Häusern; gestorben, verdorben im fremden Lande, wie man es zuweilen in den Büchern las, und wie es leider so oft, so oft auch in Wirklichkeit vorkommt? Dann schämte ich mich meiner Zaghaftigkeit. – Oho! Was ist nur in dich gefahren? Wie ein verzogenes Muttersöhnchen benimmst du dich, und nicht wie einer, der sich schon in allen Ecken und Winkeln der Erde herumgetrieben hat. Bist du droben im Eismeer nicht umgekommen, so wirst du auch hier nicht zugrunde gehen, wo so viele andere ihr Auskommen finden. Im Nu war der Leichtsinn wieder da, und knabenhafte Fantasie fing an zu träumen von Räubern und Gauchos und allerlei anderen exotischen Caballeros, von weiten Reisen über eisige Cordilleren und sonnige Pampaflächen, bis das Dämmergrau des hereinbrechenden Tages in die kahle Stube fiel.
Wenn ich mir bisher eingebildet hatte, der einzige abenteuernde Bruder Leichtfuß in Buenos Aires zu sein, so wurde ich an dem Morgen bald eines anderen belehrt. Drunten im Vorzimmer des Hotels räkelte sich ein gutes Dutzend von der Sorte in den Korbsesseln. Junge Handlungsgehilfen, verbummelte Studenten, ausgekochte Musterreiter und sonst noch verschiedene andere Existenzen, die ihr Sach’ auf Nichts gestellt hatten, und denen der Leichtsinn aus den hellen Augen herausschaute. Sie schimpften alle gewaltig auf das »Affenland«. Ein modisch gekleideter Jüngling mit tiefliegenden Augen versuchte den alten Argentiner herauszubeißen. Mit der ganzen selbstsicheren Überlegenheit seiner zwanzig Jahre warf er mir einen Blick aus den Augenwinkeln zu.
»Bist wohl noch nicht lange von drüben?« fragte er herablassend.
»Seit gestern.«
»So siehst du auch aus. – Mensch, dir kann man ja das Grünhorn auf die ganze Länge der 25 de Mayo ansehen! So wie du hier aufgemacht bist, werden sie dir überall in den Geschäften die doppelten Preise abnehmen. Du musst dir einen Panamahut anschaffen mit einem blau-weiß-blauen Bande, und eine himmelblaue Schmetterlingskrawatte, wie sie die Hiesigen tragen. Du musst dir einen langen Haarschöpf stehen lassen, und eine argentinische Flagge im Knopfloch tragen, denn sonst kannst du hier keine Stelle bekommen, wenn du auch die allerschönsten Zeugnisse hast. – Hast du überhaupt Zeugnisse?«
»Gewiss.«
»Und Empfehlungen?«
»Auch das.«
»Nun, dann nimm den ganzen Plunder und steck’ ihn in den Ofen, oder wirf ihn in den La Plata, wo er am tiefsten ist! Je eher, je besser, denn mit so etwas lockt man hier keinen Hund hinter dem Ofen hervor. Das kannst du mir glauben, denn ich kenne mich aus in diesen Dingen! Seit einem Monat habe ich hier so ziemlich alles versucht, was es zwischen Himmel und Erde gibt, um eine Stelle zu bekommen. Ganze Tage und halbe Nächte lang habe ich hier gesessen und Briefe geschrieben an die verschiedenen Bonzen in den deutschen Geschäften; einen immer schmalziger als den anderen. Sie sind alle in den Papierkorb gewandert. Schade für die schöne Tinte! Wer hier eine Stelle haben will, der muss die Herrschaften persönlich aufsuchen in den Büros. Da kannst du dann etwas erleben, wenn du auf die Fahrt steigst! Wenn der Chef dich nicht hinauswirft, so tut’s gewiss der Bürochef, und wenn sie beide nicht da sind, so flucht der Lehrbube mit dir auf Spanisch. Was meinst du wohl, für was sie unsereinen hier anschauen – – ›Gebildeter junger Mann aus Deutschland!‹ das ist hier alles nichts, und nicht viel mehr als eine Bewegung im Wege; gut genug, um langsam in den Straßen zu verkommen, wie kaum ein Hund bei uns zu Hause. Ich für mein Teil habe genug von dem Affenlande. Vor zwei Monaten, wie ich zuerst hier angekommen bin, habe ich den Kopf gerade so voll großer Rosinen gehabt wie du, aber seither bin ich gründlich kuriert worden. Mit dem nächsten Dampfer fahre ich wieder zurück nach Deutschland, und wehe dem, der mir dann noch einmal von Argentinien redet!«
Er hatte laut und zornig gesprochen, mit einer beißenden Stimme, die die anderen aufhorchen machte. Ein beifälliges Gemurmel kam aus allen Ecken des Raumes. – Ja, so sei es. Argentinien sei das traurigste Land der Welt; ein Land der Diebe, ein Land der Spitzbuben, ein Land der Hungerleider, mit einem Wort: ein Affenland. Ein jeder belegte das Gesagte mit Beispielen aus seiner eigenen traurigen Erfahrung, und alle ohne Ausnahme waren der Meinung, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr ginge, als dass ein junger Deutscher, der nicht über besondere Spezialkenntnisse verfügte, in Buenos Aires eine Stelle fände.
Da war aber einer – ein starker Mann mit wettergebräuntem Gesicht und einem schwarzen Vollbart – der aussah, als ob er eben erst einem Gerstäckerschen Reiseroman entlaufen wäre – der schlug mit der großen Faust auf den Tisch, dass die Gläser tanzten.
»Lasst mich in Frieden mit eurem Snack!« fuhr er die Gesellschaft an, »tätet besser daran, euch ein bisschen mehr umzusehen, statt hier zu schwatzen über das Affenland. Das Land ist schon gut genug; es sind die Menschen darin, die nichts taugen. Was wisst ihr denn eigentlich von Argentinien? Was habt ihr von dem Lande gesehen? Nichts als das bisschen Buenos Aires, und auch davon nur eine kleine Ecke von der Darsena Norte bis nach der Plaza de Mayo. Lasst euch doch einmal erst den Pampawind um die Ohren blasen, wenn ihr da mitreden wollt! Dort draußen sind sie jetzt mitten in der Ernte, und froh um jeden, der ihnen dabei hilft. – Arbeit! Ho, die gibt es genug für den, der ihr nicht aus dem Wege geht! Aber dazu seid ihr wohl zu gut. Nicht anständig, nicht standesgemäß. Als ob man davon satt werden könnte! Ich bin auch nicht auf der Straße aufgelesen. Drüben in Deutschland – Caramba! – bin ich Korpsstudent gewesen, aber in Argentinien habe ich getan wie die Argentiner tun. Einen dicken Strich habe ich unter mein Leben gezogen. Ich habe die Ärmel aufgekrempelt und mich ohne viele Umstände an die Arbeit gemacht. Erdarbeiter, Matrose, Straßenhändler, Zuckerbäcker und Straßenbahnschaffner bin ich gewesen. Ich habe gelernt, mit Kühen und Mauleseln umzugehen, ich kann die Heugabel hantieren wie nur einer, und mit dem großen Scheibenpflug kann ich euch eine Furche ziehen, dass man sie mit dem Lineal nachmessen kann. Und das ist auch eine Kunst. Verhungern tut man dabei nicht, und wer Zeit und Lust dazu hat, kann damit ein schönes Stück Geld verdienen. Im vorigen Sommer habe ich oben in Santa Fé bei der Weizenernte zweihundert Pesos gemacht und darauf beim Maispflücken in Corrientes mehr als fünfhundert Pesos. Wenn ich darauf aus wäre, so könnte ich heute schon eine ganze Estancia besitzen.«
Die anderen widersprachen heftig.
»Von wegen Estancia! Kannst froh sein, wenn du nicht auf der Straße verreckst in diesem gesegneten Lande. – Und mit den paar Batzen, die du dir hier als Saisonarbeiter verdient hast, brauchst du dich auch nicht dick zu tun. Dazu braucht man nicht übers Wasser zu gehen. Das können die Polacken bei uns zu Hause auch.«
Ich hörte nur halb auf das Gerede. Das Argentinien, das ich mir in meiner Fantasie ausgedacht hatte, sah doch wohl in der grauen Wirklichkeit etwas anders aus. Die gebratenen Tauben flogen einem offenbar auch hier nicht in den Mund, und wenn man sich nicht beizeiten umtat – hm ja, – so konnte man am Ende allerlei böse Erfahrungen machen. – Aber wie und wo sollte man sich wohl umtun, wenn man zu etwas kommen wollte? Zweifelnd und zögernd, voll trüber Gedanken, ging ich über die sonnige Straße, ohne recht zu wissen wohin. Ehe ich mich versah, stand ich mitten auf dem Paseo de Julio, der sich drunten am Hafen entlang der Landungsbrücken hinzieht. Dort ist es immer lebendig. Keine Stunde des Tages sieht ein Abflauen in dem Menschenstrom, der sich dort unter den schattigen Arkaden auf und ab wälzt. Denn hier ist der ständige Jahrmarkt des Ärmsten der Armen in Argentinien, des Peons. Hier ist es, wo er in den seltenen freien Tagen seines mühseligen Lebens seine bescheidenen Einkäufe besorgt und seinen anspruchslosen Vergnügungen nachgeht und am Ende wieder seine eigene Haut zu Markte trägt.
Es ist nicht sehr geheuer am Paseo de Julio. Es wimmelt von abenteuerlichen Gestalten, meistens Spaniern und Italienern, in allen Stadien der Zerlumptheit; so wie sie eben der Heuschober einer fernen Estancia oder das schmutzige Zwischendeck eines Überseedampfers von sich gegeben haben. Barfuß und barhäuptig, mit blauen Arbeitskleidern, an denen noch der Heusamen hängt, oft auch mit einem groben Sack auf dem Rücken, in dem sie ihre Habseligkeiten mitführen. Vor einem finsteren, muffigen Altwarengeschäft, über dessen Tür allerlei schmutzige, mottenzerfressene Kleidungsstücke herunterhängen, steht ein energischer semitischer Herr, der die kaufkräftig erscheinenden Vorübergehenden ohne weitere Umstände in seine Höhle hereinzieht. »Komme Sie herein, Herr Landsmann, werd’ ich Ihnen verkaufen a nagelneier Iberzieher für drei Pesos!« Nebenan handelt ein unheimlich aussehender Araber mit Messern, Revolvern und gläsernen Diamanten. Er verdient ein Heidengeld. Aber am besten geht das Geschäft in den billigen Kaffeehäusern, wo man ungestört die ganze Nacht an den schmutzigen Tischen sitzen und bei einer Tasse Kaffee oder einer Portion »Eiscreme« aus gefrorenem Sodawasser die endlosen Films, deren Inhalt selbst ein weitherziges Gemüt als »etwas sehr frei« bezeichnen müsste, vor den schaulustigen Augen vorüberziehen lässt.
An einer Straßenecke hat ein Arbeiteragent sein Geschäft errichtet. Die säuberliche Handschrift auf der riesigen Tafel verkündet die schönen Stellen, die hier zu vergeben sind. Sie schreit es ins Publikum: »A la cosecha, muchachos! – cinco pesos! cinco pesos!« Und zuweilen kommt der Agent selber an die Tür und hilft noch etwas nach mit schallender Stimme und dröhnenden Stockschlägen auf die Tafel: »Dreitausend Peone für die Ernte in Cordoba! – Fünf Pesos pro Tag! Fünf Pesos, Caballeros!«
Nicht weit davon ist ein großer Auflauf. Mit lüsternen Blicken schauen die kleinen italienischen Schuhputzer und Eisverkäufer in das vergitterte Schaufenster, hinter dem sich die Goldstücke und die Banknoten aller Herren Länder zu Haufen türmen. Es ist die Agentur der »Veloce«.
»Nach Italien – dreißig Goldpesos!« schreit das große Schild über der Tür.
Lange stehen sie davor, die großen und kleinen Kinder, und überbieten einander im Gestikulieren. Was? Für dreißig Pesos nach Italien? Hat man je so etwas gehört? Warten wir noch bis morgen! Vielleicht geht er noch weiter im Preise herunter! O dolce Italia mia!
Das sind so einige von den Dingen, die man sehen kann am Paseo de Julio, Neuyork hat seine »Bowery«, San Franzisko seine Barbarenküste, über »Whitechapel« in London brütet das Elend. In Altona und Sankt Pauli gibt es zuweilen auch allerlei zu sehen, was nichts für empfindliche Gemüter ist, aber auf dem Paseo de Julio sieht man mehr Armut und Elend, als auf all’ diesen Plätzen zusammengenommen. –
Langsam und nachdenklich, mit einem Herzen voll Zweifel und Bedenklichkeit, schlenderte ich durch diesen Jahrmarkt der Ärmlichkeit. – To be or not to be! – Hier war Arbeitsgelegenheit in Hülle und Fülle; man brauchte sich nur danach zu bücken. Von allen Wänden, von allen Tafeln, von grellen Reklameschildern, aus hundert heiseren Kehlen schrie es einem entgegen: Arbeit, Arbeit, Arbeit! – Und doch – und doch – immer wieder, wenn ich an einer solchen Tafel vorbeikam und die Löwenstimme der Agenten mir in den Ohren gellte: »A la cosecha! A la cosecha, muchachos! Cinco pesos! Cinco pesos!« musste ich einen Augenblick stehen bleiben. Fünf Pesos! Das war keine schlechte Bezahlung. Mehrmals war ich drauf und dran, einen von den zungenfertigen Menschen anzusprechen, aber immer wieder schrak ich zurück vor dem barfüßigen Gewimmel, das sich in der Türe drängte. – Ja, wenn auch nur einer von denen einen Kragen, eine Krawatte oder wenigstens doch ein Paar ordentlicher Schuhe gehabt hätte! Aber das lief ja alles in Lumpen herum, in einem Zustand der Verwahrlosung, der nur am Paseo de Julio nicht polizeiwidrig war. Ich habe nie Talent und Neigung zum Kavalier gehabt und es daher auch nie sehr weit gebracht in diesen Fertigkeiten, aber inmitten dieser grauen Ärmlichkeit kam ich mir vor wie ein pelzverbrämter, diamantensprühender Börsenjobber unter einer Gesellschaft von Waschweibern. – Nein, sagte ich mir, da gehörst du nicht hin. Wenn du dich mit denen abgibst, so bist du auch nicht besser wie die. Wer sich unter die Kleie mischt, den fressen die Schweine. Du wirst Polenta essen müssen und nachts in den Heuschobern schlafen. Sie werden deine Arbeitskraft auspressen wie eine Zitrone, und eines Tages wirst du krank und müde auf der Straße liegen; genau so ein ausgemergeltes, tiefäugiges, barfüßiges Etwas mit einem Kartoffelsack voll schmutziger Lumpen auf dem Rücken wie alle die anderen hier in der Gegend.
Schnell ging ich wieder zurück nach dem Hotel und malte bis spät in die Nacht hinein hochachtungsvolle und ergebene Briefe an deutsche Firmen, deren Namen ich mir aus dem Adressbuch herausgeschrieben hatte. Ach, es war wirklich schade um die schöne Tinte.
Soll ich erzählen von den Leiden und Freuden eines stellenlosen Handlungsgehilfen? Es ist eine gar so ärmliche und alltägliche Geschichte. Sie entbehrt so ganz der Romantik und alles dessen, was zu einer spannenden Geschichte gehört. Und dennoch –.
In manchen Städten habe ich mich schon nach Stellungen umgeschaut. In mancherlei Wetter. In der dumpfen Glut eines Neuyorker Hochsommertages; im Regen von San Francisco; in der grellen Sonne von Sidney und Melbourne; in der Steinwüste von London, wenn der dicke Kanalnebel die schmutzigen Häuserzeilen von Whitechapel samt dem Turm der St. Pauls Kathedrale verschlang. Aber solcher Sommer in Buenos Aires –.
Täglich verwandte ich mehrere Stunden an das Schreiben von Briefen, die ihn nicht erreichten. Zum mindesten hat sich keiner je die Mühe gemacht, den Empfang zu bestätigen. Als das nichts fruchtete, folgte ich dem Rat der anderen und irrte tagelang in der Stadt umher, um »die Bonzen« in ihrem Allerheiligsten aufzusuchen. Kaum einen Winkel von Buenos Aires gibt es, den ich in jenen Tagen nicht besucht hätte. Wenn ich zurückdenke an jene Wochen vergeblicher Wanderungen in der großen Stadt, so tanzen die Erinnerungen wie die Kobolde in meinem Kopfe, und es ist, als ob ich das alles erst gestern erlebt hätte. Wieder sehe ich das dampfende Asphaltpflaster in der glühenden Sommerhitze, das wimmelnde Leben in den engen Geschäftsstraßen, die rasenden Autos auf den weiten Avenidas und die weißen Paläste am Park von Palermo.
Soll ich davon erzählen? Ach, die Straßen und Städte sind überall grau für den armen Arbeitslosen! Ich weiß nur, dass in dieser weitgebauten Stadt die Straßen lang und die Entfernungen endlos sind, und dass hinter diesen endlosen Entfernungen immer und immer wieder eine neue Enttäuschung auf mich wartete. Wie ein Bettler kam ich mir vor auf meinen Wanderungen.
*
»Und ist das alles?«
»Ja.«
Der hohe Herr schaute auf die Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Einjährigenzeugnis, Diplom der Handelshochschule – das alles schien ihm nicht sonderlich zu imponieren. Es folgte eine Pause erwartungsvollen Schweigens, während dessen die grauen Augenbrauen des Prinzipals sich unheildrohend zusammenzogen. An der Decke summte der Ventilator. Im Nebenzimmer tickte die Schreibmaschine und von draußen kam durch das offene Fenster das Geschrei der Zeitungsjungen: »Le Prensa! La Ar–gen–tina!«
Langsam faltete der Herr die Papiere zusammen und überreichte sie mir wieder mit einer ganz kleinen Andeutung einer Verbeugung. »Bedaure. Adieu.«
Da stand ich nun wieder, wie schon so oft in diesen Tagen, in dem großen Treppenhaus, vor einer mit goldenen Lettern besetzten Glastüre, die hinter mir zugemacht worden war. Vor zehn Minuten war ich mit dem Fahrstuhl hinauf gefahren nach dem Büro; nun ging ich wieder zu Fuß hinunter über die vielen Stufen der breiten Steintreppe des hohen Gebäudes. Ich hatte ja so viel Zeit.
Draußen brütete noch immer die Hitze in den Straßen, und der Staub lag fingerdick auf den Marmorplatten der kleinen runden Tische unter den Baumkronen der Plaza de Mayo. Langsam bahnte ich mir einen Weg durch das Gewühl der Menschen, die sich vor dem Gebäude der »Prensa« drängten. Ein Zeitungsjunge rannte in vollem Lauf mit mir zusammen. Ein dicker Herr trat mir auf beide Füße und fluchte dabei etwas Spanisches. Aber ich achtete es nicht. Ich war viel zu sehr vertieft in den Zettel, auf dem noch eine ganze Anzahl weiterer Adressen aufgezeichnet waren. – Wohin ich mich wohl zunächst wenden sollte? Da war das Speditionsgeschäft von Chase & Co. in der »Bartolome Mitre«. Oder die Agentur von Waiß & Freitag, drunten am Hafen. Vielleicht wäre das noch am meisten zu empfehlen. – Ja, und dann würde ich wieder ein kleines Vermögen an Straßenbahngeldern verfahren. Ich würde mir die Füße wund und die Absätze krumm laufen, und sie würden mich am Ende doch alle wieder abfertigen nach der Weise, die ich schon allzu gut kannte: »Bedaure sehr.« – »Kommen Sie nächste Woche mal wieder.« – »Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!« Und das sollte nun so weiter gehen?
Ach was! Langsam zerriss ich den Zettel und streute im Fortgehen die Fetzen über die Straße. Mechanisch tappte ich weiter, ohne recht zu wissen wohin. Es war ja auch so gleichgültig. Ehe ich mich’s versah, stand ich mitten in der Vorstadt Barracas.
Es war still hier in der Gegend. Nur ab und zu rollte ein Fruchtkarren über das holperige Pflaster, oder ein grauköpfiger Italiener ging vorüber mit einem großen, glänzenden Fisch auf dem Rücken und brüllte sein »pesca’o!«, dass es weithin hallte in den engen Gassen. Hinter den dicken, gewölbten Eisenstäben, die die flachen, einstöckigen Häuser gegen die Außenwelt abschlossen, klimperte zuweilen ein verschlafener Banjo. Da und dort stand an einem Haus das Tor weit offen, und man konnte durch die Einfahrt hindurch bis in den Patio sehen, wo zwischen nickenden Palmen und farbenfrohen Oleandern ein kühlender Springbrunnen plätscherte.
Allmählich begann die dunstige Hafenatmosphäre aufzusteigen. Düstere Holzhöfe umsäumten die schattenlose Straße. Salzwasser und Teergeruch lagen in der Luft, und in der Ferne brüllten die misstönenden Sirenen vorübergleitender Dampfer. Da lag die »Boca« mit ihren langen, schwarzen Lagerschuppen, mit den gewaltigen Bretterstößen entlang der Werften und den stolzen Seglern, die mit ihrem zierlichen Wald von Masten und Raaen in den tiefblauen Abendhimmel hineinragten.
In einer ärmlichen Schifferkneipe, dicht am Kai, wo rasselnde Dampfwinden die langen Bretterbündel aus dem Bauch eines großen Trampdampfers heraufbeförderten, kehrte ich ein, denn ich war todmüde von dem Umherwandern. – Warum ich das alles erzähle? Wohl nur deshalb, weil die Erinnerung daran nach reichlich fünf Jahren noch so fest in meinem Kopfe haften geblieben ist.
Es war eine von den Kneipen, wie man sie auch an der Dittmar Koelstraße in Hamburg sehen kann. Die Wände waren bedeckt mit Bildern von Schiffen und Matrosen. Von der rauchigen Decke hing das kunstvoll gearbeitete Modell einer Viermastbark. Auf dem mächtigen Bierfass neben der Bar schnurrte eine Katze. Irgendwo im düsteren Hintergrund zirpte ein Kanarienvogel. Auf der Bar stand eine schmutzige Käseglocke, um die die Fliegen summten. Die nussbraune Dame, die mir ein Glas Wein brachte, mochte in mir eine verwandte Seele sehen. »Ah, pobrecito,« sagte sie mit wehleidiger Miene, »como está fea la vida! Wie ist das Leben so hässlich!«
Dann setzte sie sich zu mir an den Tisch und erzählte eine lange und rührselige Geschichte von einem ihrer Kunden, einem Schauermann, der an dem Morgen bei der Arbeit in den Laderaum gefallen war und sich dabei das Genick gebrochen hatte. Er hinterlasse eine Frau und sieben Kinder, und was das schlimmste wäre, von den 5000 Pesos Lebensversicherung habe er seit zwei Jahren keine Policen mehr bezahlt. – »Ah, que desgracia! Was für ein Unglück, Caballero!«
Eine ganze Stunde lang redete sie weiter in ihrem merkwürdigen tutti frutti von Englisch und Spanisch. Sie rauchte Zigaretten, sie kaute Tabak, sie spuckte auf den Boden, sie fluchte wie ein Schlächter von Billingsgate. Sie war geschminkt und gepudert und hatte gefärbte Augenbrauen. Aber ich hörte ihr dennoch zu, denn ich fühlte mich so einsam und verlassen in der großen Stadt, dass selbst eine nussbraune Dame an der schattigen Seite der Vierzig mir lieber war als gar niemand auf der weiten Welt, der sich um mich kümmerte.
Als es dunkel wurde, begann es lebendiger zu werden in der Wirtschaft. Hafenarbeiter kamen hereingestolpert und stürzten eine Caña2 in die durstige Kehle. Und dann schnell noch eine. Dann setzten sie sich zusammen an einen Tisch und packten die schmierigen Karten mit den krummen, abgearbeiteten Händen. Eine Gesellschaft von »landfeinen« Matrosen pflanzte sich vor dem Schenktisch auf. Ihre Gespräche rochen nach Salzwasser und Seeluft. Immer mehr Menschen kamen von draußen herein. Sie hockten auf den Fässern und spannen lange Garne. Sie saßen an den Tischen und spielten mit den schmierigen Karten. Die heiße Luft zitterte an der Decke und der graue Tabaksnebel verschlang alle Formen und Gestalten in dem Zimmer.
Ach, es war lange her, seit ich nichts mehr von Fallen und Brassen, von Nocks und Gordings und vom Royalraaen gehört hatte! – War es denn nur der verdammte mendocinische Rotwein, der eben in meinem Kopfe Longfellowsche Verse rezitierte?
Der düsteren Werfte gedenk’ ich,
Die tosende Brandung ich seh;
Wie der span’sche Matrose den Bart sich strich,
Die herrlichen Schiffe, sie grüßen mich
Und der Zauber der wogenden See.
»Zu welchem Schiff gehörst denn du?« redete mich ein langer Norweger an.
»Zu gar keinem.«
»Dann wird’s Zeit, dass du dich nach einem umsiehst.«
Noch immer mehr Gäste kamen von draußen herein. Matrosen, Strandläufer, Schauerleute. Ein dicker Däne hatte seine Quetschmaschine in Gang gesetzt, und in einer Ecke begleitete ihn einer auf einem verstimmten Klavier.
Once I went roaming on Radcliffroad
Pull boys, pull what you can –
Eine schlampige, zigeunerhaft aufgemachte Frauensperson tanzte dazu einen landesüblichen Tango und sammelte dann die Nickelmünzen auf einem rasselnden Tambourin. Sie mochte mich in dieser ärmlichen Gesellschaft als besonders zahlungsfähiges Objekt erspäht haben, denn das Nickelstück, das ich ihr spendete, warf sie zornig wieder auf den Tisch und überschüttete mich dabei mit einer Flut von französischen – sagen wir einmal Liebenswürdigkeiten. Es war nicht eben die Sprache Voltaires, die sie gebrauchte, aber inmitten dieser fremden Menschen kam mir das alles merkwürdig vertraut und heimatlich vor. Sie machte große Augen, als ich in derselben Sprache antwortete. »Eh bien, moi, c’est Georgette!« sagte sie, indem sie sich auf den nächsten Stuhl setzte und einen Liter Rotwein auf meine Kosten bestellte. Dann fing sie an, rührselig zu werden und erzählte von »la belle France«. Sie rauchte zahllose Zigaretten und trank Zuckerrohrschnaps und bestellte noch einen Liter Rotwein auf mein Konto. Die Dame Georgette fing an, mir fürchterlich zu werden. Beim dritten Liter Rotwein versuchte ich die Sitzung gewaltsam abzubrechen, wogegen sich Georgette energisch zur Wehr setzte.
»Was?« rief sie aus, »kein Geld hast du, und keine Arbeit kannst du finden? – Ja, nom de dieu, wo hast du dich denn danach umgesehen? Die ganze Boca ist doch voll davon. Warte einen Augenblick! Ich werde hinüber laufen zu Boston-Bill. Der wird ein Plätzchen für dich finden auf einem feinen Segelschiff, das morgen nach Hamburg fährt. Die Vorschussnote von fünf Pfund können wir gleich heute Abend verjubeln, denn das Geld brauchst du nachher doch nicht.«
Während sie davoneilte, suchte ich meine etwas in Unordnung geratenen Gedanken zusammen. Eine große Seereise hatte immer etwas Verlockendes, und ich war gerade in der Stimmung, in der man Dinge tut, an die man sonst im Traume nicht denken würde. – Aber jetzt gleich wieder zurück nach Hamburg, weil hier im Lande Argentinien vorerst nicht alles nach Wunsch gegangen war, weil man in einer Spelunke an der Wasserkante etwas mehr Rotwein getrunken hatte, als sich mit dem Durst vertragen ließ, und weil so eine hergelaufene Georgette – – nein, das wäre doch zu eigentümlich!
Es klang auch nicht sehr ermutigend, was die anderen über diese junge Dame zu sagen wussten.
»Ja, Georgette,« meinten sie, »die wird dir immer eine Stelle auf einem Schiffe finden, und wenn du ein Bischof wärest. Die arbeitet zusammen mit Schanghai-Bill, der den neuschottländischen Totseglern die Mannschaft besorgt, weil sie sonst keine finden können. Drei Stück davon liegen jetzt im Hafen. Natürlich ist die Mannschaft vollzählig ausgepickt und sie zahlen hundert Pesos Blutgeld für jeden, den sie an Bord bekommen.«
Wenn ich je noch im Zweifel gewesen wäre, so hätte diese Belehrung mich sicher zur Vernunft gebracht. Wer einmal auf Segelschiffen gefahren hat, der weiß, was es mit den Neuschottländern auf sich hat. Viel Arbeit und wenig Brot, steinharte Biskuits, die von Maden wimmeln, verfaultes Salzfleisch, das selbst bei Kap Horn zehn Meter gegen den Wind zu stinken vermag, und graues Hafermehl, das in der Suppe zu Sandkörnern verkocht. Dazu ein blaunasiger Yankeekapitän, mehr Teufel als Mensch, der Sonntags das Verdeck mit Sand und Stein schruppen lässt, und vor dem grimmigsten Wetter die Segel nicht streicht, bis mit donnerndem Knall die Masten selbst herunterkommen.
Ja, und nun würde wohl im Auftrag eines solchen blaunasigen Unmenschen so ein dicker Heuerbaas hier hereinkommen. Er würde mich eine Vorschussnote auf fünf oder noch mehr englische Pfund unterschreiben lassen und den größten Teil der Summe gleich selber einstecken. Für den Rest der Summe würde Georgette Whisky bestellen; den abscheulichen scharfen Wasserkantwhisky, der einen in einer halben Stunde toll machen konnte. Das ganze Haus, alle Vagabunden und Strandläufer an der ganzen Boca würden sich auf meine Kosten einen guten Tag machen. Es würde eine tolle Nacht geben. Und am Morgen – ach, es würde alles wieder so sein wie damals, damals an der Barbaryküste zu San Francisco. – Damals im Blauen Anker! Mich überlief es mit einer Gänsehaut, wenn ich daran dachte. Ganz still und unauffällig machte ich mich aus dem Staube. Sobald ich aber die Tür hinter mir hatte, rannte ich über die Straße, so schnell mich die Beine trugen.
Draußen war es schon ganz dunkel. Der Widerschein der Schiffslaternen zitterte auf dem Wasser. Das weiße Licht der elektrischen Bogenlampen lag kalt und still zwischen den schwarzen Bretterstößen. Ein frischer Seewind summte leise in der lautlosen Nacht. Je weiter diese Gegend hinter mir lag, je wohler wurde mir zumute.
*
Acht Tage später fand mich der Monat Dezember immer noch als armen Arbeitslosen in den staubigen Straßen jener großen Stadt, die so sehr zu Unrecht den Namen Buenos Aires (Gute Lüfte) trägt. Die Hitze war inzwischen noch unerträglicher geworden, das graue Asphaltpflaster fing an zu kochen, und der Staub lag in gelben Wolken über den Straßen.
Ein deutscher Strandläufer, der sich auskannte, hatte mir die Adresse des Schutzvereins für germanische Auswanderer verraten. »Du musst um zehn Uhr morgens hin gehen,« hatte er mir gesagt, »dann triffst du den Pastor selber an. Der ist eine gute Seele und sehr leicht zu verkohlen. Wenn du ihm sagst, dass du in Valparaiso von einem Segler durchgebrannt bist und von dort zu Fuß über die Anden gemacht hast, so wird er dir ohne weiteres fünf Pesos und eine Anweisung auf vierzehn Tage Kost und Wohnung im deutschen Seemannsheim geben. Nach acht Tagen kannst du ruhig wieder kommen und ihm ein neues Märchen erzählen, denn er ist sehr kurzsichtig und wird dich nicht wieder erkennen. Er ist ganz leicht, sage ich dir; manchen Peso habe ich ihm schon abgeluxt. Jetzt kann ich mein Gesicht dort nicht mehr zeigen. – Mittags wirst du dort Don Guillermo antreffen. Den kannst du auch noch mitnehmen, wenn du ihm einen anderen Namen angibst. Er ist aber sehr schwierig; ein ausgekochter, sehr genauer und sehr neugieriger Schiffskapitän, dem du eine ganze Ahnengalerie von Arbeitgebern vorlügen musst, ehe er dir ein paar lumpige Gastmarken für ein Nachtlogis oder eine Wassersuppe in einer Spelunke an der Boca hinwirft.«
So ging ich denn vorsichtigerweise um zehn Uhr nach dem Büro.
Der freundliche Herr in dem kleinen Hause in der Calle Viamonte betrachtete mich verwundert durch seine goldumränderten Brillengläser; etwa so wie ein grübelnder Professor, der über seinen Büchern soeben auf ein ganz großes Problem gestoßen ist.
»Wie, Sie wollen kein Geld? Und keine Unterstützung? Nur Arbeit? Das ist interessant. – Wirklich sehr interessant, sonst haben’s die Leute in der Regel nur auf meine Gastmarken abgesehen.« Noch ganz überwältigt von solcher Offenbarung schrieb er mir die Adresse einer reichen Witwe auf, die zur ersten Gesellschaft von Buenos Aires gehörte und einen Hauslehrer für ihren ungezogenen Prinzen suchte. »Sie können es einmal hier versuchen,« sagte der Pas