EILEEN WILKS
Wolf Shadow
Dunkles Vergessen
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Stefanie Zeller
Titel
Zu diesem Buch
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Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Eileen Wilks bei LYX
Impressum
EILEEN WILKS
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Stefanie Zeller
Zu diesem Buch
Bis zur Hochzeit der FBI-Agentin Lily Yu mit dem Werwolf Rule Turner sind es nur noch zwei Wochen. Doch das Familienfest tritt in den Hintergrund, als Lilys Mutter urplötzlich ihr Gedächtnis verliert und nur noch Erinnerungen aus ihrer Kindheit zurückbehält. Sie erkennt ihre eigene Familie nicht mehr, und sie ist nicht das einzige Opfer: In der ganzen Stadt werden Fälle ungewöhnlichen Gedächtnisverlusts gemeldet, und Lily ist sofort klar, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Magie ist im Spiel, und Lily und Rule versuchen verzweifelt herauszufinden, wer dahinter steckt. Dabei bekommen sie unverhofft Unterstützung von Al Drummond, ihrem toten Erzfeind, von dem sie dachten, dass sie ihn nie wiedersehen würden. Doch schnell wird klar, dass eine Macht am Werk ist, die sowohl die Welt der Lebenden als auch die der Toten ins Wanken bringen kann – und dass es Zauber gibt, die dunkler sind als alle Magie, der Lily und Rule bisher begegnet sind …
Sie blinzelte und schwankte, war so benommen, dass sie sich an der Wand abstützen musste. Konnte man das Bewusstsein verlieren, ohne hinzufallen? Dieses Gefühl hatte sie nämlich, in Ohnmacht gefallen zu sein. Was ihr noch nie passiert war, in ihrem ganzen Leben nicht, aber auf einmal schien es ihr wie Dornröschen zu gehen. Wer weiß, wie viele Jahre inzwischen vergangen waren. Nur dass sie noch auf den Beinen war, also konnten es keine Jahre gewesen sein. Die Damentoilette war gleich hinter ihr. Sie war immer noch in dem engen, kleinen Flur des …
Wo war sie?
Angst überkam sie, schnell und heiß und dunkel, flatterte in ihrem Hals mit den Flügeln wie ein gefangener Vogel. Wo war sie?
Sie wusste es nicht. Sie hatte keine Ahnung. Sie … was hatte sie getan? Sie wusste es nicht mehr. Sie erinnerte sich noch daran, dass sie gestern Abend ins Bett gegangen war, aber dass sie nicht hatte einschlafen können, nicht sofort zumindest. Am Abend vor ihrem Geburtstag einzuschlafen, war ihr schon immer schwergefallen. Sie hatte sich aufgesetzt, obwohl es längst Schlafenszeit war – eine Sünde, doch bei besonderen Gelegenheiten drückte man ein Auge zu –, und hatte in ihrem Tagebuch geschrieben, im Licht der Nachttischlampe, das warm und gelb auf die linierten Seiten fiel, die lavendelfarbene Tagesdecke bis zur Taille hochgezogen. Ihrem Tagebuch hatte sie anvertraut, was sie sonst niemandem anvertrauen konnte, nicht einmal Kathy und ganz sicher nicht ihren Schwestern. Alle sagten, sie könnten »es gar nicht erwarten« endlich Teenager zu sein, doch sie war froh, dass sie erst zwölf wurde, nicht dreizehn. Sie war noch nicht so weit, schon dreizehn zu sein, aber das war gar nicht schlimm, denn vor ihr lag noch ein ganzes Jahr, bis sie Teenager war. Ihr blieb noch reichlich Zeit.
Aber das war alles, an das sie sich erinnerte. Sie wusste zwar nicht mehr, wie sie aufgewacht war, ob sie gefrühstückt oder zu Mittag oder zu Abend gegessen hatte. War es Abendbrotzeit? Waren sie hierher gegangen statt zur Rollschuhbahn, wie sie es eigentlich vorgehabt hatten?
Hatte sie etwa ihren eigenen Geburtstag verpasst?
Trotz der Angst überkam sie Empörung. Das war nicht fair. Das war ganz und gar nicht fair. Sie verstand nicht warum, aber sie befand sich in irgendeinem Restaurant. Es roch gut – nach Ingwer und Zwiebeln und Frittierfett. Sie konnte ein bisschen von dem Raum sehen, in den der Flur führte. Ein Mann saß an einem kleinen Tisch mit Tischdecke, beugte sich vor und stach mit dem Zeigefinger in die Luft, so wie Männer es machten, wenn sie glaubten, sie wären wichtig, und die Leute ihnen zuhören sollten. Die Frau, zu der er sprach, sah gelangweilt aus. Sie waren beide weiß, aber das hier war ein chinesisches Restaurant. Das erkannte sie an den Gerüchen und den dunkelroten Wänden. Jemand, den sie von dort, wo sie stand, nicht sehen konnte, lachte schnell und bellend: Ha! Ha! Ha! Das ließ sie an Onkel Wu denken, der auch in solchen Silben gelacht hatte, nur leiser, schnaufender: Ha. Ha. Ha.
Sie atmete sehr schnell. Schnaufte wie Onkel Wu. Sie ballte die Fäuste und versuchte normal zu atmen. Sie brauchte etwas, das normal war.
Sie fühlte sich müde. Müde und irgendwie schwer, als wäre sie erkältet. Sie schniefte versuchsweise. Die Nase war nicht verstopft oder so. War sie krank gewesen? Vielleicht hat sie hohes Fieber gehabt. Eine Hirnhautentzündung. Vergaß man dann Sachen? Vielleicht hatte sie eine schlimme Hirnhautentzündung gehabt und war davon genesen, aber jetzt hatte sie einen Rückfall – deswegen war ihr so schwindelig – und –
»Entschuldigung«, sagte jemand hinter ihr.
Sie fuhr herum.
Zwei Frauen waren aus der Toilette gekommen. Sie waren ziemlich alt – vielleicht dreißig – und komisch angezogen. Beide trugen Jeans, was seltsam war. Wer trug Jeans, wenn er in ein schickes Restaurant ging? Eine hatte einen großen, weiten Pullover an, aber die andere ein enges, dehnbares T-Shirt, das einfach alles zeigte, als wäre sie eine Prostituierte. Diese Frau trug große Ohrringe und hatte superkurzes Haar wie Mia Farrow und … guter Gott. In ihrer Nase steckte ein kleiner Glitzerstein.
Ihre Mutter ließ sie keine Ohrlöcher machen, und diese Frau hatte ein Loch in der Nase!
Die beiden Frauen starrten sie komisch an. Sie errötete. Wie eine Idiotin stand sie da und versperrte ihnen den Weg. Sie trat zur Seite. Ihr Fuß stieß gegen irgendetwas. Sie blickte nach unten.
Jemand hatte seine Handtasche mitten im Flur liegen lassen. Es war eine hübsche Handtasche – schwarzes Leder, ein Leder, das so weich war, dass man es streicheln wollte. Sie sollte es jemandem sagen.
Sie hatte gerade einen unsicheren Schritt gemacht, als noch jemand in den Flur trat. Ein Mann. Er war groß und wahrscheinlich so alt wie die beiden Frauen, und er sah fantastisch aus. Wie ein Filmstar – ein bisschen wie Clint Eastwood, der immer noch ihr Lieblingsschauspieler war. Wie sehr war sie enttäuscht gewesen, als Tausend Meilen Staub abgesetzt worden war. Nur dass die Haare dieses Mannes dunkel und zerzaust waren, und er sehr dramatische Augenbrauen hatte, ganz anders als Clint.
Der Mann musterte sie und legte den Kopf schief, als wäre er verwirrt. Sie spürte ein leichtes Flattern im Magen. Dann sprach er sie an.
»Julia? Alles in Ordnung?«
Lily schob die Reste ihres Hühnchen Kung Pao auf dem Teller herum und versuchte so auszusehen, als würde sie ihrem Cousin Freddie zuhören, der voller Begeisterung über implizite Rendite, Parität und Agio sprach. Was zur Hölle war Agio? War das überhaupt ein Wort?
Sie fragte ihn nicht danach. Denn dann würde er es ihr erklären, und das konnte endlos dauern. Wahrscheinlich war es Brokersprache und hatte etwas mit Devisenhandel zu tun, seinem Fachgebiet. Auf dem er in der letzten Zeit meist für Rule tätig war. Rules zweiter Clan war nicht so wohlhabend wie der der Nokolai.
»… bin nicht überzeugt, dass der Baht sich im Aufwind befindet, aber …« Freddie brach ab und schmunzelte. »Deine Augen werden glasig.«
»Tut mir leid.« Sie und Freddie kamen nun, da er aufgehört hatte, sie um ihre Hand zu bitten, sehr viel besser miteinander aus. Dass er dabei nie erwähnt hatte, dass er schwul war, hatte sie ihm vergeben. Zumal sich herausgestellt hatte, dass er sich selbst dessen gar nicht bewusst gewesen war. Sein Coming-out sich selbst gegenüber war noch gar nicht allzu lange her. Noch war er nicht bereit, seine Familie aufzuklären … womit er seine Mutter meinte.
Lily konnte ihn verstehen. Wegen Tante Jei – die genau genommen Lilys Cousine zweiten Grades war, aber Lily und ihre Schwester nannten alle Cousinen oder Cousins ersten Grades ihrer Mutter »Tante« oder »Onkel« – gab es das passiv vor passiv-aggressiv. Sie war matt und kraftlos, brauchte viel Zuwendung und seufzte gern, eine Witwe mit nur einem Kind, das sie verhätschelte, an das sie sich klammerte und das sie unbarmherzig kontrollierte.
Armer Freddie.
Tante Jei war vermutlich der Grund, warum Rule sich entschuldigt hatte, um auf die Toilette zu gehen. Er war neben sie gesetzt worden, und selbst Rules Geduld war irgendwann erschöpft.
»Schon in Ordnung«, sagte Freddie freundlich und tätschelte ihre Hand. »Du träumst wahrscheinlich von dem großen Tag. Jetzt sind es nur noch zwei Wochen, nicht wahr?« Er strahlte sie an.
»Zwei Wochen und fünf Tage.« Nach denen, dachte sie mit einem Lächeln, Rule offiziell mit Tante Jei, Freddie und allen anderen an diesem Tisch verwandt sein würde. Armer Mann.
Sie befanden sich in dem größeren von zwei privaten Speisesälen im Golden Dragon, wo fast alle Feiern der Familie stattfanden, seit Onkel Chen der Besitzer war – noch ein »Onkel«, der eigentlich ein Cousin war. Dieses Jahr waren weniger erschienen als sonst. Keines der Kinder war hier, und Großmutters Partnerin, Li Qin, hatte sich vor zwei Tagen den Fuß gebrochen. Er war immer noch zu geschwollen, um gegipst zu werden. Da sie den Fuß so oft wie möglich hochlegen musste, hatte Großmutter darauf bestanden, dass sie zu Hause blieb. Außerdem fehlte Lilys jüngere Schwester, wenn auch aus einem ganz anderen Grund.
»Ich war kürzlich auf der Hochzeit der Tochter eines Kollegen eingeladen«, sagte Freddie gerade. »Ein schönes Mädchen. Es war eine sehr moderne Zeremonie. Sie haben ihr Gelübde selbst geschrieben, und als es Zeit für die Reden war …«
Lily nickte und ließ ihre Gedanken wandern. Ihre Mutter hatte ihr streng untersagt, großen Aufwand zu betreiben. »Deine Hochzeit steht kurz bevor, da wäre es zu viel verlangt. Alle haben genug zu tun.« Mit »alle« meinte sie sich selbst. Sie und Rule hatten den Großteil der Arbeit auf sich genommen, die ein solch großes Ereignis mit sich brachte, und Lily war ihnen wirklich dankbar dafür. Vielleicht war sie Rule tatsächlich ein bisschen dankbarer, weil es so offensichtlich war, dass ihre Mutter sich blendend amüsierte.
Lilys Vater hatte die Anweisungen seiner Frau klugerweise missachtet. Julia Yu liebte es, wenn man ihren Geburtstag mit großem Aufwand feierte.
Und dazu gehörten mit Sicherheit nun mal auch Geschenke. Lilys Blick fiel auf den Tisch hinter Freddie. Darauf lag über ein Dutzend bunt eingepackter Päckchen. Sie lächelte. Freddie verstand ihr Lächeln als Anerkennung für seine Geschichte über die Rede des Bräutigams, kicherte und begann eine neue Geschichte über jemanden, den sie nicht kannte.
Jedes Jahr behauptete Julia Yu, dass sie nichts brauche, gar nichts, aber sie wussten es besser. Sie fand es wunderbar, Geschenke zu bekommen – das bunte Papier und die Schleifen, das ganze Ritual des Auspackens. Auch Lily würde es vermissen, sollten sie tatsächlich je auf die Geschenke verzichten. Ihre Mutter war vielleicht in vielen Dingen wählerisch und perfektionistisch, doch bei Geschenken war das anders. Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. Alles, egal wie eigenartig oder bescheiden es war, wurde von ihr mit Begeisterungsrufen bedacht und hochgehalten, damit alle es bewundern konnten.
»Was hast du für Mutter?«, fragte sie, als Freddie eine Pause machte.
»Na, ein Geschenk!«
Was bedeutete, dass er es ihr liebend gern gesagt hätte, aber wollte, dass sie es aus ihm herauskitzelte. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. 20:22 Uhr. »Ich werde es wohl bald herausfinden. Dann ist sie mit Hübschmachen fertig –«
Der erste Schrei war laut, durchdringend und erschrocken. So wie auch die anderen, die darauf folgten. Lily war auf den Beinen und wühlte in ihrer Handtasche, bevor die anderen sich gefasst hatten. Sie trug weder Schulter- noch Knöchelholster, doch unbewaffnet ging sie nirgendwohin. Zurzeit hatte sie stets eine Glock 19 bei sich – robust, verlässlich, genau, und in dem Magazin waren fünfzehn Schuss. Der Abzugsweg war ein wenig lang, aber sie war leicht und lag gut in der Hand.
Als sie schließlich durch die Tür stürmte, hielt sie die Waffe schussbereit in der Hand.
Auch Barnaby und Joe waren aufgesprungen und auf dem Weg nach draußen. »Rührt euch nicht vom Fleck«, fuhr sie sie an. Die anderen beiden Wachen, Scott und Mark, befanden sich schon auf der anderen Seite des Speisesaals, so schnell wie nur Lupi es konnten. Sie bogen in den Flur ein, der zu den Toiletten führte. Lily folgte ihnen im schnellen Laufschritt, erschrockene Gäste und zwei Kellner umrundend. Als sie halb durch den Flur war, brachen die Schreie ab.
Scott erschien am Flureingang und lächelte alle an. Scott pflegte den Streber-Look. Er trug eine Brille, die er nicht brauchte, und immer ein wenig zu große Kleider, in denen seine drahtige Gestalt dünn wirkte. Wem entging, wie geschmeidig er sich bewegte, würde glauben, dass er nie etwas Anstrengenderes tat als einen Laptop zu tragen. »Ich glaube, sie hat eine Maus oder so etwas gesehen.«
Es gab ein paar nervöse Lacher. Jemand sagte: »Das muss aber eine sehr große Maus gewesen sein.« Gelächter, und alle Gäste begannen, sich zu entspannen.
Rule war da in diesem Flur. Das sagte Lily das Band der Gefährten so deutlich, als könnte sie durch die Wand sehen. Hatte irgendeine Frau mit einer Lupi-Phobie ihn gesehen und war in Panik geraten? Möglich. Sein Gesicht war bekannt. Doch was immer der Grund für die Schreie gewesen war, ihre Glock würde sie wohl nicht brauchen. Scott hatte dem Flur den Rücken zugewandt. Das würde er nicht tun, wenn er damit rechnete, schießen zu müssen.
Trotzdem behielt sie die Waffe in der gesenkten Hand. Scott warf ihr einen eigenartigen Blick zu, trat aber ohne etwas zu sagen beiseite, woraufhin sie wie angewurzelt stehen blieb.
Ein paar Meter vor ihr stand Mark. Entweder hatte er seine Waffe gar nicht erst gezogen oder bereits wieder weggesteckt. Ein Stück hinter ihm hatte Rule die Arme um Lilys Mutter gelegt. Sie schluchzte. Ihre Hände umklammerten seine Arme. Er streichelte ihr den Rücken und murmelte etwas Beruhigendes. Dann blickte er auf und begegnete Lilys Blick. Er sah verwirrt aus.
»Mutter?« Zögernd machte Lily einen Schritt nach vorn. Noch nie hatte sie ihre Mutter so aufgelöst gesehen. Niemals. Und das auch noch in der Öffentlichkeit … »Was ist los? Bist du verletzt?«
Julia Yu hob den Kopf von Rules Schulter. Mascara lief ihr in langen schwarzen Rinnsalen über das Gesicht. »Ich bin alt! Ich bin so alt!«
»Du … du siehst toll aus.«
Julia erschauderte und fing an zu weinen.
»Ich kam den Flur herunter und sah Julia«, sagte Rule vorsichtig. »Sie wirkte aufgeregt, deswegen habe ich sie gefragt, ob alles in Ordnung sei. Sie hat sich an ihr Haar gefasst, ihr Gesicht betastet und dann angefangen zu schreien.«
»Mutter –«
»Ich bin nicht deine Mutter! Ich bin niemandes Mutter! Ich bin zwölf Jahre alt, jemand hat mich in diesen schrecklich alten Körper gesteckt!«
Die vergangenen fünfzehn Monate waren schwer gewesen. Lily hatte getötet. Sie war selbst gestorben – ein Teil von ihr –, und sie hatte mitangesehen, wie jemand für sie gestorben war. Außerdem hatte sie es mit einem Wiedergänger, zu vielen Dämonen, einer Chimei, einer verrückten Telepathin und einigen äußerst bösartigen Elfen aufgenommen. Sie war buchstäblich durch die Hölle gegangen. Aber das hier …
Sie überlegte, doch ihr Kopf war wie leergefegt. Dann dachte sie an einen psychotischen Zusammenbruch. Dann an Magie. Sie schluckte schwer und steckte ihre Waffe wieder zurück in die Handtasche. »Du sagst, du seiest zwölf.«
Heftiges Nicken. »Heute ist mein Geburtstag.«
Ja, richtig. Nur dass Julia Yu heute siebenundfünfzig wurde, nicht zwölf. »Weißt du, wer ich bin?«
»N-nein. Aber du kommst mir irgendwie bekannt vor. Vielleicht sind wir uns schon mal begegnet?«
»Ich heiße Lily. Du bist Julia, richtig?«
Ihre Mutter schniefte. »Julia Lin.«
Lin. Der Mädchenname ihrer Mutter. »Ich bin FBI-Agentin. Möchtest du meine Dienstmarke sehen?«
»Eine echte FBI-Agentin?«
»Ganz echt.« Lily zog ihre Marke aus der Handtasche und hielt sie ihr hin. »Siehst du?«
Julia Yu löste ihren Klammergriff um Rules Arme, damit sie sich vorbeugen und Lilys Ausweis betrachten konnte. Doch sie griff nicht danach. »Sieht echt aus.«
»Das ist auch echt. Hast du schon gehört, dass –« Sie drehte sich um, als es hinter ihr laut wurde. Ihr Vater und zwei ihrer Cousins standen am Flureingang, und Edward Yu teilte Scott gerade mit, dass er besser daran täte, sofort beiseitezutreten.
»Edward«, sagte Rule, »gib uns noch ein paar Minuten Zeit. Bitte.«
»Ich will zu meiner Frau«, sagte Lilys Vater. »Julia – geht es dir gut?«
»Wer ist das?«, sagte Julia mit zittriger Stimme. »Das ist doch nicht dein Mann, oder? Er sieht zu alt aus.«
Beinahe hätte Lily die Beherrschung verloren. Sie schluckte, blinzelte wie verrückt und betete, dass ihre Stimme nicht brach. »Vater, bitte, nur ganz kurz. Wenn Magie im Spiel ist –«
»Magie!«, rief Julia.
Edward Yu antwortete nicht, aber er versuchte Scott wegzuschieben. Der natürlich keinen Zentimeter von der Stelle wich. Keiner von beiden war besonders breit und schwer, doch Scott war ein Lupus.
»Edward.« Die Cousins traten beiseite, um eine kleine, alte Frau durchzulassen, die sich beeindruckend aufrecht hielt. Ihr schwarzes Haar war glatt aus dem Gesicht zurückgekämmt und zu einem kunstvollen Knoten frisiert. Sie trug dunkelroten, üppig bestickten Satin. Großmutter murmelte etwas auf Chinesisch, das Lily nicht verstand, und legte ihrem Sohn die Hand auf den Arm, wobei sie in derselben Sprache hinzufügte: »Etwas Schlimmes ist geschehen. Julia erkennt dich nicht. Wir werden zurückbleiben, um sie nicht zu überfordern.«
Edward Yu runzelte heftig die Stirn. Sein Blick war wild. »Aber nicht lange. Ich werde nicht lange warten.«
Lily wandte sich wieder der Frau zu, die nicht wusste, dass sie ihre Mutter war. Die glaubte, sie sei zwölf Jahre alt. »Ich arbeite bei der Einheit Zwölf, Julia. Hast du schon davon gehört? Wir untersuchen Straftaten, die mit Magie begangen wurden.«
»Jemand hat mich mit einem Zauber belegt, ist es das? Das stimmt nicht mit mir!«
»Es ist eine Möglichkeit. Wenn du mir die Hand gibst, kann ich das feststellen.«
Julia kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Warum?«
»Ich bin eine Berührungssensitive. Wenn jemand bei dir Magie angewendet hat – einen Zauber, egal welchen – spüre ich das, wenn wir uns berühren.« Ihre Mutter war eine Null, ohne den Hauch einer Gabe. Wenn Lily Rückstände von Magie an ihr entdeckte, war daran jemand anders schuld.
Julia warf Rule einen besorgten Blick zu. Er nickte beruhigend. »Ich denke, das ist okay«, sagte sie und hielt ihr die zitternde Hand hin.
Lily ergriff sie mit beiden Händen.
Julia Yu hatte früher Klavier gespielt. Sie hatte die Hände dafür, langfingrig und anmutig. Die Nägel waren tadellos manikürt und blassrosa lackiert. Die Haut der Hand, die Lily hielt, war weich und gut gepflegt, und darauf war ein Hauch von …
Die Empfindung war so schwach, dass Lily sich nicht sicher war, ob sie sie wirklich wahrnahm. Sie schloss die Augen und versuchte alle anderen Sinne auszuschalten, konzentrierte sich auf ihre Hände … ja. Es war wie der Unterschied zwischen völlig stiller Luft und dem leisesten Atemhauch, aber es war da.
»Du hast Magie gefunden.« Julias Stimme war hoch und schnell. »Ja, das hast du. Ich kann es an deinem Gesicht sehen.«
»Ich habe etwas gefunden«, gab Lily zu und öffnete die Augen. Irgendetwas hatte sie irritiert, doch sie wusste nicht warum, wenn sie doch das, was da war, beinahe gar nicht wahrgenommen hatte. Vielleicht hatte ihr Unbehagen aber gar nichts mit ihrer Gabe zu tun, sondern mit der Hand, die sie hielt. »Ich weiß nicht, was. Es ist sehr schwach. Macht es dir etwas aus, wenn ich dein Gesicht berühre?«
»Mein Gesicht? Ich – ich glaube nicht.«
Julia Yu war gute zwölf Zentimeter größer als ihre zweite Tochter. Lily hob die Hand und legte sie an die Wange ihrer Mutter.
Auch hier war die Haut weich. Gepflegt. Hatte sie seit ihrer Kindheit überhaupt je das Gesicht ihrer Mutter berührt? Sie konnte sich nicht erinnern. Julia starrte sie mit so viel Hoffnung an, als könnte Lily durch die Berührung allein alles wieder in Ordnung bringen. Lilys Augen brannten, deshalb schloss sie sie. Ihre Hand. Sie musste sich auf ihre Hand konzentrieren.
Hier war es nicht so schwach. Immer noch kaum wahrnehmbar, vielleicht ein wenig mehr, genauso wie sie es gehofft hatte. Ein Zauber, der die Identität oder Erinnerungen beeinflusste, hätte am Kopf konzentrierter vorhanden sein müssen. Nur dass sie immer noch nicht wusste, was sie da berührte. Magie war immer irgendwie ertastbar – glatt oder rau, verschlungen oder eben, ölig oder trocken oder was auch immer. Diese hier nicht. Es war eher so, als würde man in einem dunklen Raum sein, in dem man die Hand vor Augen nicht sehen konnte, und trotzdem wissen, dass da etwas war. Ohne jemanden zu hören oder etwas zu riechen. Vielleicht spürte man eine Bewegung der Luft oder die Wärme eines anderen Körpers, doch ohne dass man es sich bewusst machte. Man wusste einfach, dass da jemand war.
Lily öffnete die Augen und zog die Hand zurück. Ihre rechte Hand. Nicht die, an der Rules Diamant war. Die mit dem Ring, in den sie das toltoi hatte einarbeiten lassen, den Talisman, den der Clan ihr überreicht hatte, als sie offiziell eine Nokolai geworden war. Das Zeichen der Dame, nannten sie es. »Ich glaube …« Gott, sie durfte nicht weinen. Nicht jetzt. Jetzt musste sie die Polizistin sein, nicht die Tochter. Sie bemühte sich um eine feste Stimme. Das war es, was die Leute von einer Polizistin erwarteten – Entschlossenheit, Autorität, selbst wenn besagte Polizistin völlig ratlos war und sich am liebsten in einer Ecke verkrochen hätte. »Ich habe etwas gefunden.«
»Kannst du den Zauber wegnehmen? Machen, dass er verschwindet?«
»Nein, ich bin keine Zauberin. Aber wir holen jemanden, der einer ist. Jemand, der sehr viel mehr darüber weiß als ich.« Lily versuchte beruhigend zu lächeln, wusste aber sofort, dass sie kläglich versagt hatte. »Rule –«
»Ich rufe Cullen an.« Als er Julia vorsichtig seinen Arm entziehen wollte, klammerte sie sich an ihm fest. »Ich bin ja hier«, sagte er besänftigend. »Ich halte dich fest. Ich muss einen Freund von mir anrufen. Er kennt sich sehr gut mit Magie aus.«
Cullen Seabourne war ein Fall für sich, der einzige Lupus auf der Welt, der eine magische Gabe besaß, die zudem noch äußerst selten war. Er war ein Zauberer, der Magie sehen konnte, so wie Lily sie erspüren konnte. Er würde wissen, was zu tun war.
Denn Lily wusste es ganz sicher nicht. Sie tat einen zittrigen Atemzug. Was jetzt? Was würde sie tun, wenn dies irgendjemand wäre, eine Fremde?
»Lily«, sagte Großmutter. »Du wirst uns jetzt sagen, was du gefunden hast.«
Nun gut. Ja, das war das Einzige, was sie tun konnte. Aber zunächst … »Gleich. Rule, ich muss deinen Leuten einige Anweisungen geben.«
Er hatte das Handy am Ohr. Er nickte.
»Scott, verriegle die Ausgänge des Restaurants. Niemand darf hinaus. Julia, du solltest dich lieber setzen. Du stehst unter Schock. Großmutter, vielleicht könntest du sie –«
»Was hast du gefunden? Was stimmt nicht mit Julia?« Nun konnte ihr Vater nicht mehr länger an sich halten. Sobald er seine Anweisung von Lily bekommen hatte, war Scott losgelaufen und hatte damit die Verteidigung des Flurs Mark überlassen, der sich allerdings genauso wenig rührte, als Edward Yu versuchte, ihn zur Seite zu schieben. Die Hände ihres Vaters ballten sich zu Fäusten. »Lassen Sie mich vorbei.«
»Vater, ich weiß nicht genau, was mit ihr nicht stimmt, aber ich weiß, dass dies eine Angelegenheit für die Einheit ist. Ich muss mit Onkel Chen reden. Kannst du ihn bitte herbringen?«
Er presste die Lippen aufeinander. Er warf seiner Frau einen langen Blick zu, nickte dann, drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die sich am Flureingang versammelt hatte. Mittlerweile waren es nicht mehr nur Verwandte – einige Gäste hatten beschlossen nachzusehen, was da vor sich ging.
»Alle anderen – geht zurück an eure Tische. Und zwar sofort.« Das letzte Wort klang wie ein Peitschenhieb. Einige Leute wichen zurück. Niemand von ihrer Familie rührte sich. »Mark, halte diesen Flur frei. Jeder, der sich nicht setzt –« Schnell formulierte sie noch einmal neu. »Jeder außer Großmutter, der sich nicht setzt, wird höflich, aber entschieden an seinen Tisch geführt.«
»Sei nicht albern.« Das war Paul, ihr Schwager. »Du kannst doch nicht wollen, dass er uns allen gegenüber handgreiflich wird.«
»Dies ist ein Tatort. Ich meine genau das, was ich sage. Bitte hol Susan her.« Lilys ältere Schwester war Dermatologin, womit das hier ganz und gar nicht ihr Fachgebiet war, doch sie konnte sich wenigstens darum kümmern, dass ihre Mutter nicht in eine Schockstarre fiel oder Ähnliches.
Dass er einen Auftrag bekam, milderte Pauls Empörung. Er runzelte die Stirn, um sie wissen zu lassen, dass er ihr Verhalten nicht guthieß, dann aber verschwand er, um Susan zu holen.
»Cullen ist auf dem Weg«, sagte Rule.
Gott sei Dank, auch wenn es eine Weile dauern würde, bis er hier war. Er befand sich auf dem Clangut der Nokolai, ein gutes Stück außerhalb von San Diego. »Großmutter, kannst du Mu – Julia – bitte in die Damentoilette bringen, damit sie sich hinsetzen kann?« Dort drinnen gab es zwei Stühle.
»Wer sind all diese Leute?«, sagte Julia klagend. »Ich dachte, ich wäre hier mit meiner Familie, aber ich sehe sie nicht. Ist meine Mutter hier? Du musst sie anrufen. Mrs Franklin Lin. Sie wird sich Sorgen machen. Ruf sie lieber gleich an.«
Lily begegnete Großmutters Blick. Die Mutter ihrer Mutter war vor fünfundvierzig Jahren gestorben … zwei Monate nach Julias zwölftem Geburtstag.
Großmutter trat vor. »Erlaube mir, dass ich mich darum kümmere. Ich bin Madame Yu. Ich bin nicht deine Großmutter, aber du kannst mich so nennen, wenn du möchtest. Komm.« Sie legte einen Arm um Julias Taille, und zog sie sanft aber unerbittlich von Rule weg. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als die Jüngere. »Du musst dich jetzt setzen. Jemand wird dir ein Glas Wasser bringen.«
»Kann ich eine Coke haben?«, fragte Julia, während sie in die Damentoilette geleitet wurde.
»Dann eben ein Glas Coca-Cola. Heute Abend machen wir uns keine Sorgen um Koffein.«
Die Tür der Damentoilette schloss sich hinter ihnen.