Lisa Elsässer
Feuer
ist eine
seltsame
Sache
Erzählungen
Der Verlag dankt für die finanzielle Unterstützung:
© 2013 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Umschlagbild: photocase.com / raperonzolo
ISBN 978-3-85869-576-5
1. Auflage 2013
Ich widme dieses Buch meinem Mann
und meinem Sohn.
Seit Tagen liegt beim Hauseingang auf der Treppe eine Münze. Ich hebe sie nicht auf.
Sie gehört mir nicht.
Vielleicht gehört sie einem Hausbewohner, der gerade in den Ferien weilt.
Oder einem Bewohner, dem eine Münze nichts bedeutet.
Einem alten Menschen, der sich nicht mehr bücken kann.
Einem Kind, das um seine fehlende Münze weint.
An der Sonne schreit die Münze.
Nachts schläft sie unbehelligt, und wahrscheinlich friert sie.
Ich hebe sie nicht auf.
Ich denke an den Abwesenden.
Denke an den Schnöden.
An den alten Menschen.
Das Kind.
Ich denke, jeder von ihnen hat eine Geschichte.
Über jeden, dem eine Münze fehlt, kann ich eine Geschichte schreiben.
Ich kann über die Treppe schreiben, die seit Tagen mit dieser verlorenen Münze lebt.
Über die Sonne, die die Münze zum Schreien bringt.
Über die Nacht, in der die Münze schläft und friert.
Ich kann sogar über mich schreiben, meine tägliche Begegnung mit dieser Münze auf der Treppe.
Aufheben werde ich die Münze nicht, die nicht mir gehört.
Nur die Geschichten um die Münze gehören mir, die stille Hoffnung, dass sie noch lange auf der Treppe liegt.
Ich werde sie auflesen, ans Licht halten und nachts, wenn alle schlafen, mit ihnen frieren oder lachen.
Es war nicht Sonntag, und an Werktagen ging man nicht fort. Obwohl nicht Sonntag war, trugen wir, meine Schwester und ich, die schönen Kleider: rotweiß gestreifte Röckchen, weiße Blusen, weiße Kniesocken und Schuhe, die vor uns mehrmals schon getragen, geflickt und neu besohlt worden waren. Es war, als ob wir auf den Jahrmarkt gehen würden. Die Mutter trug ein dunkelgraues Kleid. Sie hatte kein Jahrmarktgesicht und sagte, dass die Tante krank sei, sie sagte, sie liegt im Sterben. Wir waren zu klein. Krank, das konnten wir verstehen. Sterben, das war ein Wort aus einer andern Welt. Trotz dieser Worte war dieser Werktag für uns ein Sonntag: Mitgehen, mitdürfen war alles, was zählte.
Wir stiegen ins Postauto. Meine Schwester und ich zankten uns um den Fensterplatz. Die Mutter setzte sich in die Mitte. Ihr Gesicht sah aus wie ihr Kleid, dunkel und traurig. Auf halbem Weg wechselten wir den Platz. Mutter blieb ungewohnt ruhig, als wir, die Schwester und ich, nach vielen Straßenkurven weiß geworden waren wie die Blusen und die durchsäuerte Morgenmilch, die Brotbrocken in einen hellbraunen, alten Papiersack erbrachen, in dem der Kartoffelstaub aufwirbelte wie eine vergessene Wolke. Schön der Reihe nach, sagte sie nur. Halb gefüllt platzte plötzlich der Papiersack an einer Naht. Wie ein angestochener Ballon fiel er in sich zusammen.
Sie putzte uns den Mund mit einem weißen, weichen Taschentuch, das sie, schön gefaltet, aus der Tasche genommen hatte, und zögerte, weil sie, wie sie meinte, kein zweites bei sich hätte. Und es stinkt jetzt, sagte meine Schwester, du musst es hierlassen und zwischen die Sitze einklemmen, ich will es nicht mehr riechen.
Über den wilden Bergbach führte eine Brücke. Sie hatte ein eisernes Geländer, durch das man den Kopf schieben konnte, um das Sprudeln besser zu sehen. Mutter kam und zog uns unzimperlich weg. Wollt ihr ertrinken! Sie hatte kurz mit einer Bekannten, die ihr entgegenkam, ein paar Worte gewechselt und uns aus den Augen gelassen.
Im Vorgarten des alten Hauses blühten Wildrosen und Steinastern. Auf der Holzbank, die ihren Rücken an die Hausmauer lehnte, saß ein Mann. Er rauchte eine Pfeife, zog geräuschvoll daran, öffnete immer wieder den silbernen Deckel, füllte zuerst mit der Hand etwas Wohlriechendes hinein, stopfte mit einem Gegenstand nach, der aussah wie ein kleiner Löffel, zündete das in der Pfeife Liegende an und blies den Qualm in die blaue Luft. Tabak ist das, erklärte die Mutter. Sie setzte sich zum Mann auf die Holzbank. Kurz hielt sie seine große, schwielige Hand. Der Hund hatte aufgehört zu bellen, ließ sich kraulen und gab eigenartige, lang gezogene Laute von sich, streckte dabei seine Zunge aus dem Mund, was uns immer verboten war.
Sie liegt in der Stube, sagte der Mann, der unser Onkel war. Sie hat deinen Namen den ganzen Morgen schon gemurmelt. Meine Schwester und ich hatten den Onkel noch nie gesehen.
Die Stube war ein großer Raum. In einer Ecke standen ein alter Holztisch und Stühle. Eine hellblau gekleidete, steinerne Madonna lichtete die Ecke, neben ihr brannte eine Kerze, die in einem dunkelroten, mit weißen Kreuzen verzierten Plastikkübelchen friedlich flackerte. Ist Erstaugust, fragte ich meine Mutter.
Auf einer Seite reihte sich Fenster an Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen. Das Rauschen des Bachs war zu hören.
Mutter sagte, das ist der Schächen.
Unser Schächen, fragte ich ungläubig. Der sah doch in unserem Dorf ganz anders aus. Lieblicher, breiter und mit riesigen Steinen durchsetzt, auf die wir uns sommers setzten, wenn die Schneeschmelze vorbei war.
Ja, unser Schächen. Sonst schien die Welt weggesperrt.
Ein grüner Kachelofen ragte in den Raum.
Auf der andern Seite stand das alte, hohe Bett, in dem die Tante lag. Ich sah ein spitzes, gelbbleiches Gesicht, das tief in den Kissen ruhte, die Haare, wie graue Fäden, klebten feucht an ihrem Kopf und einige auf den Wangen. Sie sah aus wie eine Hexe, und in der langen, knöchernen Hand hielt sie einen hölzernen Rosenkranz. Ich sah, wie sie den Daumen, als wäre es die größte Anstrengung, von einer Holzkugel zur nächsten schob und dabei immer das Gleiche flüsterte, das ich nicht verstehen konnte, es nur am Gesang erkannte, so schien es mir, ein Singen.
Emma, flüsterte die Tante. So hieß meine Mutter. Ich kannte sie nur als Mutter, und der Name Emma befremdete mich. Emma oder Mutter setzte sich zu ihr ans Bett. Der Hund schlief neben ihren Füßen. Hie und da strich er seine Schnauze über ihren Unterschenkel, hinterließ Geifer an ihrem Strumpf. Mutter sagte einmal, dass Hunde besser hören als Menschen. So sagte ich nicht laut, er solle seine Schnauze von Mutters Strümpfen nehmen. Mir grauste es, ich konnte nicht verstehen, dass Mutter das einfach geschehen ließ.
Wir spielten nebenan auf dem Holzboden mit unseren Puppen. Wenn die Hexe im Bett stöhnte, kippten wir die Puppen. Sie weinten. Wir legten den Puppen nasse, kalte Tücher auf die Stirn, wie Emma das bei ihrer Schwester tat, flößten ihnen Wasser ein, das unten gleich wieder herauskam, befeuchteten ihnen die Lippen, murmelten die Gebete nach, die die Tante langsam und stöhnend meiner Mutter nachsprach.
Nein, sagte die Mutter, ich habe keine weißen Hemdchen für die Puppen; und Kerzen auf den Boden stellen, das geht auch nicht.
Irgendwann kam der Onkel mit einer schweren, alten Eisenpfanne in der Hand an den Tisch, stellte sie auf einen runden, braunen Korkuntersatz, der an einigen Stellen verbrannt aussah. Obenauf brutzelte Käse, schlug Blasen. Mit einem großen Holzlöffel rührte der Onkel in der Pfanne und füllte die Teller. Geraffelte Kartoffeln lagen unter dem geschmolzenen Käse. Dazu aßen wir dunkles Brot. Wir tranken aus Emailkacheln kaltes Wasser. Emma und der Onkel tranken aus ihren Gläsern eine hellrote Flüssigkeit, die aussah wie der Himbeersirup, den es manchmal an Sonntagen zu Hause gab. Auf unser Bitten goss Mutter uns einen Gutsch davon ins Wasser. Wir probierten und ließen das Wasser stehen. Die Puppen schliefen ohne Kerzenschein in ihren farbigen Kleidern auf dem Holzboden, während wir mit dem Onkel am Tisch saßen und aßen. Das leise Stöhnen aus der Ecke, wo das breite Bett stand, in dem die Tante lag, begleitete das Kauen auf dem Brot und unterbrach es immer wieder.
Ich bringe ihr auch ein Stück vom Brot, sagte ich zu Emma, meiner Mutter, dann hört sie auf zu stöhnen. Emma sagte: Sie kann nichts mehr essen.
Nach dem Nachtessen setzte sich die Mutter wieder ans Bett, nachdem sie dem Onkel die Teller in die dunkle Küche getragen hatte, wo er am Steinbecken stand und abwesend mit einer Bürste über die Teller strich. Mutter hatte mir ein Tuch in die Hand gedrückt. Ich nahm den gewaschenen Teller in die Hand, schaute ihn an und sagte zum Onkel: Er ist noch schmutzig!
So, so, meinst du? Ich glaubte ein müdes Lächeln in seinen Mundwinkeln zu sehen, und so gab ich ihm jeden Teller wieder zurück, obwohl sie sauber waren. Zum Schluss bat ich um einen Besen, wischte den Küchenboden, und er sagte: gutes Kind!
Im Schein der Kerze, in der inzwischen ganz eingebrochenen Dunkelheit, schien das Gesicht der Tante noch größer, unwirklicher und gespenstischer. Der Onkel saß auf der Kachelofenbank. Er starrte in die Nacht.
Später lagen meine Schwester und ich oben in der Kammer, im fremden, hohen Bett. Wir hielten die sterbenden Puppen im Arm. Meine Schwester, die ich durch Kneifen in ihre Wange wach zu halten versuchte, steckte, wie jeden Abend, ihren Daumen in den Mund und sog an ihm wie an einer Schoppenflasche. Um den Zeigefinger der andern Hand kringelte sie ihr Haar. Sie schlief sofort ein. Ich hörte dem tosenden Bach zu.
Auf dem Fußboden sah ich einen schmalen Streifen Licht. Leise stand ich auf und legte mich bäuchlings auf das Holz. Onkel auf der Ofenbank schnäuzte in ein Taschentuch. Dann fuhr er mit dem gleichen Tuch über seinen Kopf. Ich horchte angestrengt und wartete auf die Seufzer der Tante, auf Mutters weiche Stimme. Es war still. Plötzlich erlosch das Licht, ich schlich ins Bett, stellte mich schlafend.
Mutter legte sich zu uns ins Bett. Ich hörte ihr leises Schniefen, spürte das leichte Zittern an ihrem Körper. Kalt war es nicht. Ich glaube, sie hat geweint. Als sie eingeschlafen war und ihre ruhigen Atemzüge zu hören waren, strich ich ihr sachte übers Barchentnachthemd. Es fühlte sich an wie Haut, war weich und hatte einen angenehmen Duft. Nicht so wie gestern das steife Nachthemd von der Tante. Ich hörte Mutter nicht aufstehen. Am nächsten Morgen lag die Tante, weiß im Gesicht und ruhig, mit einem schwarzen Gewand bekleidet im Bett. Ihre Hände gefaltet auf einem weißen, gestärkten Leintuch, die Haare ordentlich zu einem Zopf geflochten, hatte sie nun ein weiches, freundliches Gesicht. Jetzt saß auch der Onkel an ihrem Bett. Er hatte einen Rosenkranz um seine Hand gewickelt, die Tote hatte ein kleines Kreuz zwischen ihren steifen Fingern. Er schien auf etwas zu warten, gab Laute von sich wie abends zuvor der Hund. Meine kleine Schwester sagte erstaunt zur Mutter: Onkel tönt wie der Hund. Mit dem Zeigefinger auf dem Mund hieß sie sie schweigen. Emma legte ihm kurz ihre Hand auf eine Schulter. Er wurde ruhig.
Die Mutter sagte, jetzt beten wir.
Ich bin gerne auf Friedhöfen. Ich spaziere durch die Reihen der Gräber. Sie sind wie das, was man sich von der Ewigkeit vorzustellen vermag: ruhiges, friedliches Nebeneinander. Die Toten haben ihre Namen zurückgelassen. Die Namen sind in Steine gemeißelt, sie stehen auf Tafeln, mit Fotos daneben, auf denen sie so aussehen, dass niemand an ihren Tod zu glauben vermag. Wer du und was du warst, hat drüben, oben, unten oder im All keine Bedeutung. Endlich fällt sie weg.
Verwegene Gedanken sind erlaubt: Gott sei Dank hat es diesen Lump so früh erwischt, oder, schade um ihn, bloß dreißig Jahre, und so weiter.
Niemand auf dem Friedhof stört dich in deiner Zwiesprache.
Das war nicht immer so, dass Friedhöfe mich faszinierten. Als Kind habe ich die Märchen geglaubt, die mir erzählt wurden. Man dürfe kein Bein auf ein Grab stellen, so sagten sie, die Toten würden uns hinabziehen. Eine Art lebendiges Verschwinden in der Unterwelt. So stellte ich mir das vor. Etwas Besseres ist den Erziehern nicht eingefallen. So hatten sie alle die Gewissheit, dass der Friedhof und die Toten nicht zum Tollhaus versteckter Spiele wurden. Obwohl sich Sträucher und Steine, halbe Felsblöcke und Rosenranken bestens dazu geeignet hätten, sozusagen über den Toten das Leben auszureizen, es auszukosten im Wissen um sein Ende.
Im Herbst, im November, Allerseelen hieß der Tag, an dem man der Verstorbenen gedachte, bekam der Friedhof eine freundliche Seite. Ein einziges großes Lichtermeer, das Frieden verströmte.
Ich bin auf dem Friedhof. Da liegt Benjamin begraben, ein Schulfreund meines Bruders. Gefallen von der Höhe eines unbezwingbaren Berges. Er war, als Einzelkind, oft bei uns zu Hause. So viele waren wir, dass es auf diesen einen, Benjamin, auch nicht mehr ankam.
Hier liegt Martha, die Haushälterin und Magd einer Großfamilie war, fünf Gräber weiter die Frau, nach deren Tod sie die Mutterrolle übernahm. Zwischen zwei Unbekannten liegt ein entfernt Bekannter. Ich mochte ihn nicht. Ein verkniffener, paranoider Mensch, der im Tresor nicht das Geld versteckte, das man nach seinem Ableben dort suchte, sondern das nicht gelebte Leben in Form von Hochglanzpornografie. Kaum berührte man die Sträucher auf seinem Grundstück, rief er die Polizei. Und einmal, als wir beim Eindunkeln in seinem blau gestrichenen Steinbecken planschten, das uns vor allem an heißen Tagen in seinen Garten lockte, drückte er voller Wut unsere Köpfe tiefer und legte den dafür zugeschnittenen Gitterrost auf das Steinbecken. Wie Häftlinge streckten wir unsere Finger durch den Rost und riefen nach Hilfe, während er hinter sich die Türe schloss.
Gott gebe ihm den Frieden, steht auf dem Stein.
Nie vergesse ich, bei Heinrich geweihtes Wasser zu spritzen. Besser wären ein paar Tropfen Alkohol, Kirsch oder Birne. Es waren seine Lieblingsgetränke, die ihn ins Grab brachten. Heinrich, ein gebücktes Männchen mit einem schwarzen Hut, unter dem seine weißen Haare nach allen Seiten abstanden, kam früher oft zu uns zu Besuch. Er wohnte im Bürgerheim, war aber tagsüber immer unterwegs. Er wusste genau, wo er willkommen war und wo er regelmäßig abgewiesen wurde.
Er saß mit uns am Tisch, roch nach Alkohol. Brosamen vom Frühstück hingen in seinem ungewaschenen, weißen Bart. Er verniedlichte den Namen meiner Mutter, indem er ein –li an ihren Namen hängte, und so gewann er ihr Herz. Hast du Zwetschgenwasser für mich, ich habe heute noch keinen Tropfen vom Gebrannten gehabt. Er kicherte listig. Marieli und ich lachten in seinen Atem.
Heinrich brachte es fertig, dass Mutter und ich zusammen lachen konnten. Sie goss ihm den Schnaps in den Kaffee und holte ihre selbst gebackenen Birnweggen, setzte ihm ein Stück auf den Teller, und manchmal meinte er, er hätte noch nie in seinem Leben so gute Birnweggen gegessen, ob er noch ein zweites Stück haben könne. Klar, sagte Marieli, ich mache dann wieder neue Weggen.
Meine Erinnerung an Heinrich ist so wach, als wäre er erst gestern gestorben oder gar nicht.
Zuletzt, immer zuletzt, suche ich die Kindergräber auf. Weiße Holzkreuze stehen dort. Die toten Kinder liegen auf diesem Friedhof getrennt von den toten Erwachsenen. Auch die Selbstmörder haben ihre eigene Ecke.
Ich weiß, wo das Grab von Antonella ist. Jetzt stehen dort frische Blumen. Antonella ist schon lange tot. Sie starb mit zwölf Jahren. In ihrem Grab liegt ein anderes Kind. Ich gehe trotzdem immer dorthin. Ich werde ruhig an ihrem Grab.
Niemand sagte uns, wie es wirklich war. Der Platz in der alten Schulbank blieb eines Tages leer. Nach einer Woche war sie weg aus unseren Köpfen. Die leere Bank schon immer leer und auch das Tintenfass.
Sie hatte etwas Provozierendes und zugleich Mitleiderregendes an sich. Leuchtend rote dicke Haare, Sommersprossen im Gesicht. Sie wirkte unbeweglich und plump, hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht. Selbst dann, wenn wir alle – ausnahmslos – mit unserem Spott über sie herfielen, zeigte sie sich nicht anders, was uns nur noch mehr anstachelte, sie zu plagen und zu triezen. Ihr Vater hatte eine Südländerin geheiratet, die in einer Dorfkneipe im Service arbeitete. Mit Neid und Verachtung plapperten wir die immer noch kursierenden Sprüche nach. Eine Ausländerin im Dorf, und erst noch eine, die einen Bauern heiratete, bekam das lebenslänglich zu spüren. Können die ihren Kindern nicht gewöhnliche Namen geben!, hieß es. Sie gehörte nicht dazu und Antonella somit auch nicht. Nur als Zielscheibe kindlicher Boshaftigkeit war sie geduldet. Ich wusste nichts über ihren Schmerz. Ich wusste aber genug davon, dass ich froh war, Antonella in der Nähe zu wissen. So war er nicht auf mich gelenkt. Sie zeigte ihn aber nicht und ließ alles mit sich geschehen.
Sie fehlte nicht. Die Bank blieb leer. Niemand sagte etwas. Ein paar Monate später war sie tot.
Weil das damals so üblich war, sich von den Toten in ihrem Haus zu verabschieden, und man diesem Übel nicht ausweichen konnte, saß auch ich in der alten Bauernstube, wo sie drei Tage lang in einem weißen Sarg aufgebahrt lag. Sie hatte ein friedliches, bleiches Gesicht, auf dem nun die Sommersprossen wie aufgemalt schienen. Der Kuckuck schnellte aus der Uhr, die an der Wand hing, und schrie achtmal sein Kuckuck, Kuckuck. Ich erschrak, dass es draußen schon Nacht geworden war. Ich spritzte Weihwasser auf die Blumen, auf Antonella. Wie Tränen hingen die Tropfen auf ihrem Gesicht und kullerten langsam in den Sarg. Antonellas Mutter fasste meine Hand und strich mir über den Handrücken mit der andern Hand. Reden konnte sie nicht.