Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Die Autorin

Die Romane von Kira Licht bei LYX

Impressum

Cover

KIRA LICHT

Süße Sünden

Roman

Zu diesem Buch

Eigentlich könnte es für Maya nicht besser laufen: Sie führt ein wunderschönes Café im Herzen Münchens. Ihre Kuchen und Desserts gelten als Geheimtipp unter den ansässigen Naschkatzen. Und ihre besten Freundinnen, Sabine und Johanna, würden mit ihr durch dick und dünn gehen … Wenn da nur nicht das Problem mit den Männern wäre! Die glänzen in Mayas Leben zurzeit nämlich vor allem durch eins: Abwesenheit. Zwar hat die junge Münchnerin schon seit Langem ein Auge auf Max, den Inhaber des Sportgeschäfts gegenüber, geworfen, doch ist es ihr noch nicht gelungen, in seiner Gegenwart mehr als nur ein scheues »Hallo« hervorzubringen. So geht das nicht weiter, beschließen Sabine und Jo und buchen kurzerhand einen Wochenendurlaub in einem angesagten »Single-Hotel«. Dort soll Maya das Einmaleins des Flirtens lernen und endlich ihre Schüchternheit ablegen! Maya ist zwar skeptisch, dass Kurse wie »Die Magie der Körpersprache« ihr wirklich dabei helfen werden, Max’ Herz zu erobern, willigt aber schließlich ein – zumal sie der Meinung ist, dass Sabine, die sich schon längst von ihrem spießigen Freund hätte trennen sollen, und Jo, die bei dem Wort »Beziehung« Schnappatmung bekommt, selbst noch das eine oder andere über die Liebe lernen können …

Kapitel 1

»Plan X für Mr M«

»Ich glaube, ich bin ein Hobbit«, sagte ich und wackelte mit meinen nackten Zehen. »Ich habe Haare auf den Füßen.«

»Hast du nicht«, erwiderte Sabine, ohne hinzusehen. Sie ­hatte ihre Nase in einen ihrer intellektuellen Schmöker gesteckt und schien an einer Diskussion über meine Körperbehaarung nicht interessiert.

Ich schielte auf den in dezentem Cremeweiß gehaltenen Einband. Die Philosophie der Seele.

Du liebe Zeit. Allein der Titel würde mich abschrecken. Meine beste Freundin hingegen schien regelrecht aufzublühen, je komplexer Satzbau und Gedanken wurden.

Sabine und ich kannten uns seit dem Gymnasium. Sie war schon immer so verliebt in philosophische Literatur gewesen. Damals, in der fünften Klasse, hatte sie mich ziemlich beeindruckt, als sie Textstellen aus Der kleine Prinz rezitieren konnte. Wir hatten mit ein paar Freunden am ersten Tag unserer gymnasialen Laufbahn auf dem Schulhof herumgestanden. Zu unseren Füßen verwandelte der Schneematsch sich in eine graue Pampe.

Ich stöhnte darüber, dass ich morgens immer früher aufstehen musste als meine Mitschüler, da ich vor dem Unterricht noch mit meinem Hund Teddy Gassi gehen musste. Sabine betrachtete mich ernst, rückte ihre Brille zurecht, und in ihrem flachsblonden Haar schimmerten einzelne Schneeflocken.

»Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, macht deine Rose erst so wichtig«, erwiderte sie mit hoher Kinderstimme.

Sie erntete eine volle Minute Stille, dann brach Gelächter los. Sabine warf einen leicht überheblichen Blick in die Runde und zog dann ein zerfleddertes Buch aus ihrem rosafarbenen Ranzen.

»Hier.«

Ich hatte von dem »Kleinen Prinzen« gehört, ihn aber noch nicht gelesen.

»Danke«, sagte ich etwas perplex. Sabine nickte mir zu, und ihr Blick sagte, dass ich wohl in dieser illustren Runde aus Zehnjährigen die Einzige war, der sie zutraute, ihrem überragenden IQ von einhundertsiebenundsechzig würdig zu sein.

Erst als Teddy zehn Jahre später starb, wurde mir klar, wie recht Sabine damit gehabt hatte. Teddy war meine »Rose« gewesen, und all die vorher nur so widerwillig spazierten Minuten mit ihm waren zu kostbaren Erinnerungen geworden.

»Noch etwas Eistee?«, fragte ich, um nicht weiter in Nostalgie zu schwelgen.

»Gerne, Liebes.« Sabine sah kurz auf und lächelte mir zu. Die Brille war mittlerweile verschwunden und die Zöpfe abgeschnitten, doch ihr Gesicht erinnerte mich immer noch an das kleine ernste Mädchen vom Schulhof.

Ich goss uns Tee nach und lehnte mich dann wieder in meinem Liegestuhl zurück. Die Julisonne schien hell und warm auf München hinunter, ich lag mit meiner besten Freundin faul auf meinem Balkon herum, und mein eigenes Café hatte heute, wie jeden Montag, Ruhetag. Wenn nur …

»Was macht der stramme Max?«, fragte Sabine in diesem Moment. Etwas unbehaglich sah ich sie von der Seite an. Führte ein IQ über hundertsechzig auch dazu, dass man Gedanken lesen konnte?

»Nenn ihn nicht so.«

Sie drehte sich zu mir, ihr Blick war unverkennbar neugierig. »Na gut. Wie geht es Maximilian Weber?«

Max war der Besitzer des neu eröffneten Sportgeschäfts gegenüber, und ich war ein kleines bisschen verknallt in ihn. Okay, vielleicht ein wenig mehr als nur ein kleines bisschen. Eher ein großes bisschen. Geführt hatten all diese großen oder kleinen Gefühle jedoch zu nichts. Ich verfiel in eine elektrisierte Schockstarre, sobald er mich mal freundlich grüßte. Einmal hatte er sogar gewunken, und ich hatte ihn wahnsinnig um diese lässige Geste beneidet, bevor ich mit hochrotem Kopf hinter meiner Theke untergetaucht war. Er war aber auch ein Bild von einem Mann! Knapp ein Meter neunzig groß, immer leicht gebräunte Haut, dichte braune Haare, feurig dunkle Augen und ein Dreitagebart, der mich ganz schwach machte. Gekrönt wurde dieses »römische Göttergesicht« von einer herrlich sportlichen Figur, die kein bisschen aufgeblasen wirkte. Dieser Mann hatte Traumtyp-Qualitäten. Kein Wunder also, dass er vergeben war.

Ich seufzte leise. »Gestern hat sie wieder die Kinder vorbeigebracht.«

»Hast du mal gesehen, dass sie sich geküsst haben oder so?« Ich hatte Sabine vor vollendete Tatsachen stellen wollen, doch sie war in Bezug auf Max’ Beziehungsstatus skeptisch geblieben.

»Nein. Aber würdest du deinem besten Kumpel deine Kinder anvertrauen?«

»Klar doch. Du bist mein bester Kumpel. Du könntest doch auf zwei kleine Kinder aufpassen?«

»Aber er ist ein Mann!«

»Männer können also nicht auf Kinder aufpassen?«

»Doch! Aber eben nur, wenn sie Väter sind.«

»Jetzt mach mal nen Punkt«, schnaufte Sabine und legte sogar Die Philosophie der Seele beiseite. »Er passt hin und wieder mal auf zwei Kinder auf. Er nimmt sie weder mit zu sich nach Hause, noch kommt er morgens mit ihnen zusammen. Vielleicht sind er und diese Frau getrennt? Er ist Ende dreißig, da kann so was schon mal vorkommen.«

Ich brummte ein paar unverständliche Widerworte.

»Das sind alles Schutzbehauptungen«, holte Sabine noch weiter aus. »Du sagst dir, dass er vergeben ist und Kinder hat. Damit schiebst du deine moralischen Grundsätze in den Vordergrund und hast einen Vorwand, ihn niemals ansprechen zu müssen.«

Unten auf der Straße hörte man das tiefe Grollen eines Motors mit ungezügelten PS.

»Jo kommt.«

Ich stand auf und lehnte mich über das Geländer, um seitlich am Haus vorbei einen kleinen Blick auf die Straße zu erhaschen. Leider lag mein Balkon nicht nach vorn, sondern zum Nachbarhaus hin, das nur durch zwei Einfahrten räumlich von »meinem« Haus getrennt worden war.

»Du lenkst ab!«, sagte Sabine noch, da sah ich Jo wie immer viel zu schnell vorbeibrausen. Sie fuhr ein dunkelgrünes Mustang-Cabrio, und dieser Oldtimer war ihr größter Schatz. Jo bestellte die Ersatzteile in den USA und reparierte alles weitestgehend selbst. Sabine hatte den Wagen mal spaßeshalber als »Abschleppdienst« betitelt. Wie immer hatte sie damit irgendwie recht gehabt. Das Auto war eine Aufreißer-Karre und Jo der weibliche Don Juan von München.

Kurz darauf klingelte es. Sabine und ich blieben liegen, denn wir drei hatten alle Schlüssel zu den Wohnungen der jeweils anderen.

»Bonjour, Ladys«, schnurrte Jo mit Samtstimme und lehnte sich lächelnd an die Brüstung.

»Wie geht’s, du Held?« Sabine zwinkerte ihr komplizenhaft zu. »Sag nicht, dass du bis gerade gearbeitet hast. Es ist doch schon kurz vor sechzehn Uhr.«

»Doch, doch«, grinste Jo und schob sich eine goldgerahmte Pilotenbrille in den Ausschnitt ihres »Guns-N’-Roses«-T-Shirts. Sie war die einzige Frau, an der eine Röhrenjeans kombiniert mit flachen Schuhen nicht nach »Fleischwurst« aussah.

Sabine und ich hatten Jo mal auf einer Party kennengelernt, als wir alle noch in die Oberstufe gingen. Ihr rabenschwarzer Pagenkopf war damals genauso revolutionär wie ihr Schneewittchen-Teint gewesen. Zu dieser Zeit wollten wir alle aussehen wie »La Lopez«, die gerade ihr erstes Album herausgebracht hatte und sich sonnengebräunt und mit Wallemähne in all ihrer Kurvigkeit auf dem Cover räkelte. Jos Outfit – die zerlöchertste Levis, die ich jemals gesehen hatte, ein weites verblichenes Shirt undefinierbarer Farbe und ziemlich kaputte knöchelhohe Docs – war Grunge deluxe, und mit ihrer knabenhaften, langbeinigen Figur und ihrem »Ihr-könnt-mich-alle-mal«-Blick war sie einfach unwiderstehlich. Die Typen aus meiner Stufe glotzten sie an, als sie den verrauchten Partykeller betrat, und mehr als einer warf gleich einen zweiten Blick hinterher. Jo stakste auf ihren langen Beinen zur Bar, nahm sich ein Bier und öffnete es dann ganz fachmännisch mit einem herumliegenden Feuerzeug. Der herumfliegende Kronkorken traf einen Typen im Nacken. Der sah sich erbost um, doch nach einem Blick aus den veilchenblauen Augen seines Gegenübers grinste er nur etwas überfordert. Jo grinste nicht zurück, sie drehte sich einfach weg und badete in den Blicken der Menge.

Nachdem sie erfolglos an Sabine herumgebaggert und deren damaligen Freund zu einem Eifersuchtsanfall getrieben hatte, beschlossen wir, dass Johanna van Tessel zwar völlig verrückt, aber trotzdem sehr liebenswert war. Als auch die Fronten geklärt waren – Sabine und ich nur hetero, Jo nur lesbisch – trafen wir uns immer öfter und wurden schließlich die besten Freundinnen.

»Was macht der stramme Max?«

»Jetzt nennst du ihn auch schon so!«, motzte ich. »Hat sie dir das beigebracht?« Ich zeigte anklagend auf Sabine, die mir prompt einen Vogel zeigte.

»Es liegt bei dem Namen einfach nahe«, sagte Jo und lehnte sich so weit übers Geländer Richtung Straße, dass ich fürchtete, sie würde jeden Moment hinunterfallen.

»Komm da weg und setz dich«, bat ich. »Das kann man ja nicht mit ansehen.«

Jo ließ sich auf den Fußteil meiner Liege plumpsen, und ich verstrubbelte ihre ohnehin wild abstehende Pixie-Frisur.

»Was macht das Musik-Business?«

»Langweilige Musiker, unzuverlässige Plattenfirmen, dröge Interviews … willst du noch mehr wissen?«, erwiderte Jo und tat leidend. In Wirklichkeit wussten wir alle, dass Jo, die als freie Musikjournalistin unter anderem für den Rolling Stone schrieb, das mit Abstand aufregendste Leben von uns dreien führte. Sabine als Programmchefin eines kleinen Kinderbuchverlags und ich als Cafébesitzerin konnten da nicht mithalten. Sie traf Newcomer und Stars, reiste zu Konzerten und schrieb über Songs, die erst Wochen später erscheinen würden.

»Maya will von ihrer Vorstellung, dass er vergeben ist und Kinder hat, einfach nicht ablassen, damit sie ihn nicht ansprechen muss«, griff Sabine das Thema »Max« wieder auf.

»Warum fragt sie ihn nicht einfach?«

»Keine Ahnung?«

»Hallo? Redet nicht über mich, als wäre ich nicht da. Ich kann doch wohl schlecht in seinen Laden marschieren und ihn zu seinen persönlichen Verhältnissen befragen?«

»Warum schlägst du dann nicht einfach vor, dass ihr mal zusammen etwas trinken geht? Wenn er verheiratet ist, sollte er absagen.«

»Sollte …«, unkte ich.

»Er sieht eigentlich nicht wie ein Fremdgeher aus«, meinte Jo.

»Die meisten Fremdgeher sehen nicht wie Fremdgeher aus, das macht es ja so schlimm.«

»So wird das nie etwas.« Jo schob sich die schwarzen Flip- Flops von den Füßen. »Dann verkauf deinen Laden und geh ins Kloster.«

»Ha!«, juchzte Sabine und begann in ihrer großen himmelblauen Basttasche zu kramen. »Das ist mein Stichwort!« Sie zog ein paar ausgedruckte Blätter hervor, die sie dann an Jo und mich weiterreichte.

»Ein Single-Hotel?« Jo rümpfte die Nase.

»Ja! Ein kleines, feines Hotel in der Nähe der österreichischen Grenze. Das Angebot gilt allerdings nur, wenn man zu dritt anreist. Fünf Tage, inklusive aller Kurse!«

»Kurse?« Ich blätterte durch die Seiten. »Ich fürchte, ich komme nicht ganz mit. Geht es um Wellness oder Yoga?«

»Nein, es geht um so eine Art Nachhilfe in der ­Partnerfindung.«

Ich ließ die Papiere sinken. »Wie bitte?«

»Na, für dich!«, sagte Sabine ganz euphorisch. »Dort lernt man, wie man Männer kennenlernt, wie man sich optimal stylt, wie man Konversation betreibt und so weiter.«

»Klingt eher nach einem Ausbildungslager für Callgirls«, brummte ich und stupste Jo an. »Was meinst du dazu?«

Sie zog ein Gesicht.

»Fünf Tage im Nirgendwo mit verhaltensgestörten Heteros? Ich kann mir nichts Aufregenderes vorstellen.«

»Das ist nichts für mich.« Ich hoffte, meine endgültige Miene würde reichen, um Sabine von ihrer wahnwitzigen Idee abzubringen.

»Doch, es wird dir gefallen.«

Okay, so einfach ließ sich Sabine wohl nicht überzeugen.

»Ich kann mein Café nicht allein lassen.«

»Wie lange hast du keinen Urlaub mehr gemacht, hm? Seit drei Jahren bestimmt, oder?«

»Das ist mir egal. Das Café ist mein Lebenstraum. Da brauche ich keinen Urlaub.«

»Jeder Mensch muss hin und wieder raus, Maya«, sagte Jo.

»Und du hättest da Lust zu, ja? Eben klangst du nicht begeistert«, schoss ich zurück.

»Wann soll das denn stattfinden?« Jo drehte sich zu Sabine.

»Nicht dieses, sondern nächstes Wochenende.«

»Da kann ich nicht.« Jo schien erleichtert. »Da hab ich zwei superwichtige Konzerte, wo ich hin muss.«

»Siehst du«, sagte ich triumphierend zu Sabine. »Jo kann nicht, ich kann nicht, Thema erledigt.«

Sabine wurde etwas blass unter ihrer Sommerbräune.

»Sei nicht böse«, lenkte ich ein, weil ich sah, dass meine letzten Worte sie verletzt hatten. »Vielleicht verreisen wir ein anderes Mal. Und so ein schlimmer Fall bin ich nun auch nicht!« Ich lachte um die Stimmung etwas aufzuheitern. »Oder?«

Sabine sah zweifelnd zu Jo, die unbehaglich auf der Liege herumrutschte.

»Oder?«

Sabine schüttelte fast unmerklich den Kopf, riss mir die Papiere aus der Hand und stopfte sie zurück in ihre Tasche. Dann griff sie nach Philosophie der Seele. Also konzentrierte ich all meine fragenden Blicke auf Jo.

»Na, wenn du das sagst«, meinte Jo schließlich.

»Ja, genau das sage ich.« Ich lehnte mich auf meiner Liege zurück und beschloss, nicht wieder an diesen albernen Kurztrip zur Schulung meiner Selbstvermarktungsfähigkeiten zu denken.

Kapitel 2

»Tortenweisheiten«

Jeder Dienstag war die Vorstufe zur Hölle. Damit meinte ich nicht die brennenden Qualen eines Fegefeuers oder das drohende Jüngste Gericht. Meine persönliche Hölle war ein unschuldig weißer Wecker, der um Punkt vier Uhr dreißig ein apokalyptisches Gebimmel startete, das vermutlich selbst Tote wiederbeleben konnte. Grund für diese unmenschliche Zeit war der Münchener Großmarkt. Jeden Dienstag kaufte ich dort das Obst für die gesamte Woche ein. Wollte man die volle Auswahl haben, musste man früh dort sein. Für mich war es jeden Dienstag ein Kampf, mitten in der Nacht aufzustehen.

»Mjjaaaaaaaaa …«, murmelte ich schlaftrunken und schlug im Halbdunkel nach dem aufdringlichen Krachmacher. Ich traf ihn, nur leider nicht an der richtigen Stelle. Er purzelte von meinem Nachtisch, landete polternd auf den Holzdielen … und plärrte weiter. Ich seufzte tief, schob meine Decken zur Seite und begab mich auf Tauschstation. Gerade als ich kopfüber aus dem Bett hing, begann mein Handy zu piepen. Ich hatte es zur Sicherheit auch aktiviert, sollte ich es schaffen, den Wecker im Halbschlaf zum Schweigen zu bringen. Als notorischer »Verschlafer« hatte man so seine Tricks.

»Dieser verdammte … nächstes Mal … blöde Dienstage … niemand so früh …!« Ich glitt mit der rechten Hand suchend über den Fußboden, während meine Linke nach dem Handy neben meinem Kopfkissen tastete, als das Festnetztelefon im Flur zu klingeln begann. Ich verlor das Gleichgewicht, rutschte aus dem Bett, und das metallene Gehäuse des Weckers bohrte sich schmerzhaft in meine Hüfte.

»Och manno …!« Wütend berappelte ich mich, stieß den Übeltäter von mir und kam fluchend auf die Beine. Ich stürzte in den Flur, ohne mir an einem der Türrahmen weitere Blessuren zuzufügen, und nahm ab.

»Das ist Ihr freundlicher Weckdienst!«

Wie konnte man zu so einer unmenschlichen Zeit so gute Laune haben?

»Maya? Hallo?«, schallte Sabines fröhliche Stimme durch den Hörer. »Schläfst du noch?«

»Ja.«

»Kommt der Krach aus deiner Wohnung?«

Ich drehte mich in Richtung Schlafzimmer, in dem sich Wecker und Handy zu einem Orchester aus Wecksignalen zusammengetan hatten.

»Ja.«

»Ich bin mir sicher, beide Geräte haben einen Knopf zum Ausschalten. Vielleicht solltest du das mal versu­chen.«

»Ja.« Ich seufzte und gähnte gleichzeitig.

»Kann ich jetzt auflegen, ohne dass du wieder ins Bett gehst?«

»Ja.«

»Prima. Dann sprechen wir uns später noch mal zu einer Tageszeit, in der du mehr als ›Ja‹ sagen kannst, okay?«

»Ja.«

»Gut, dann bis dahin!«

»Danke …«, flüsterte ich.

Sabine lachte. »Gerne! Es ist immer wieder ein Erlebnis!« Dann klickte es in der Leitung. Ich stellte das Telefon zurück in die Ladeschale, knipste das Licht an und begab mich zurück ins Schlafzimmer, um endlich für Ruhe zu sorgen.

Eine gute Stunde später war ich startklar. Als ich das Shirt mit dem tiefen V-Ausschnitt übergestreift hatte, waren meine Gedanken zu Max gewandert. Ob es ihm wohl gefallen würde? Ich hatte den üppigen Busen meiner italienischen Mama geerbt, und trotz aller anderen Komplexe war ich stolz darauf. Ich mochte mein Dekolleté. Es war eines der wenigen weiblichen Attribute, die ich an mir vorbehaltlos leiden konnte.

Jeans und cremefarbene Ballerinas komplettierten mein Outfit, und wenig später schloss ich die Tür meines blaugrau lackierten VW-Bullis auf. Der Motor bockte, und die ganze Kiste wackelte, stotterte und hustete, bis ich einen Gang einlegte und langsam vom Hof rollte. Der Wagen bestand hauptsächlich aus sorgsam übermaltem Rost, und vor jeder anstehenden TÜV-Prüfung musste ich eine Baldriankur machen. Wenn der Prüfer mit ernstem Gesicht auf mich zukam, wurde mir schlecht, und ich rechnete mit dem Schlimmsten. Doch bisher hatte ich Glück gehabt, und Gonzo – so nannten wir den ­Bulli – war mit Ach und Krach für weitere zwei Jahre zugelassen worden.

Auf der Fahrt ging ich im Kopf noch mal meine Einkaufsliste durch. Meine Speisekarte bestand aus den »Klassikern«, also den Desserts, die permanent auf der Karte waren, und einer Saisonkarte, die wechselnde Gerichte enthielt. Ich stellte sie immer am Monatsanfang zusammen und passte sie den jeweiligen Jahreszeiten an.

Bis zum Großmarkt in Sendling brauchte ich eine halbe Stunde.

Ich hatte Glück und konnte bei einem meiner Lieblings-Obsthändler eine Kiste Granatäpfel der Handelsklasse A zu einem sehr guten Preis kaufen. Dazu kamen noch eine Kiste Himbeeren, zwei Kisten Erdbeeren, eine Kiste Rhabarber, eine Kiste Äpfel und eine Kiste Schwarze Johannisbeeren.

Um halb acht war ich wieder zu Hause. Ich entlud den Bulli und betrat das Café durch den Hintereingang auf dem Garagenhof. Die Kisten mit dem Obst stellte ich in die Kühlkammer und machte mir dann einen zweiten Kaffee. Um Punkt acht Uhr erschien meine Küchenhilfe Mechthild.

»Morgen, Chefin«, sagte sie, obwohl ich vergeblich versucht hatte, ihr diese Anrede abzugewöhnen. Mechthild war Ende vierzig, sah aber deutlich älter aus. Sie hatte vier Kinder, die alle noch zu Hause wohnten, und einen Mann, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, in der kleinen Wohnung auf die Möbel aufzupassen. Laut Mechthild suchte er schon ewig nach einem Job »in einer leitenden Position«. Was genau ihr Göttergatte leiten wollte, war bisher allerdings ungeklärt geblieben. Ihre vier Kinder, alles junge Kerle zwischen siebzehn und fünfund­zwanzig, arbeiteten nicht, weil alle ihre Ausbildung geschmissen hatten und lieber zu Hause Computer spielten. Hinzu kamen noch drei Katzen, die der Familie »zugelaufen« waren. Ich fragte mich immer noch, wie das möglich war, wenn man im siebten Stock eines Hochhauses wohnte. Zu guter Letzt war da noch der dreibeinige Familienhund, der auf den wunderbaren Namen »Stinker« hörte. Stinker war nicht immer gehandicapt gewesen. Mechthilds Erzählungen nach hatte der Hund das vierte Bein »irgendwann mal beim Spielen mit den Kindern« eingebüßt. Ich hatte mir verboten, näher darüber nachzudenken.

»Guten Morgen, Mechthild.« Ich deutete lächelnd mit dem Kopf in Richtung der billigen Filterkaffeemaschine, die in einer Ecke der Küche stand. Mechthild war eine der genügsamsten Menschen, die ich je kennengelernt hatte. Nur beim Thema Kaffee war sie eigen. Wobei »eigen« in diesem Falle nicht mit »anspruchsvoll« gleichzusetzen war. Ich hatte für viel Geld eine original italienische Profi-Kaffeemaschine für mein Café erstanden. Bediente man sie, fühlte man sich wie im Kesselraum einer altmodischen Lokomotive. Alles zischte, Dampf stieg empor, und Kondenswasser hing in silbrigen Tropfen auf den verchromten Außenwänden. Die Maschine war ein richtiger Hingucker und auch der Kaffee ganz ausgezeichnet.

Mechthild mochte meine »Grande Maschina«, wie ich sie heimlich nannte, jedoch nicht.

»Ich bediene doch kein Raumschiff, um an eine Tasse ­Kaffee zu kommen«, hatte sie bei dem ersten Aufeinandertreffen gemurmelt und misstrauisch die vielen kleinen Knöpfe beäugt.

Ich hatte ihr eine Tasse Kaffee gebrüht in der Hoffnung, sie überzeugen zu können. Doch vergeblich.

Mechthild zog ein Gesicht und deklarierte meinen Eins a italienischen Kaffee als »Gebräu«.

Beim nächsten Mal brachte sie sich eine Maschine mit, die einem in jedem Supermarkt für zehn Euro hinterhergeworfen wird. Anstatt einer Packung Arabica-Bohnen schleppte sie ein gemahlenes Pulver an, das zwar wie Kaffeemehl aussah, aber garantiert nur einen geringen Anteil Bohnen enthielt. Anhand der Konsistenz tippte ich auf gemahlene Spazierstöcke oder ähnliche Absonderlichkeiten.

Mechthild kippte ein halbes Kilo davon in den Papierfilter, und die gesamte Küche roch kurz darauf wie eine Ammoniakfabrik. Nun war ich es, die die Nase rümpfte.

»Endlich richtiger Kaffee«, sagte Mechthild in ihrer bekannt temperamentlosen Art. Sie bot mir etwas an, doch ich winkte dankend ab. Mechthild zuckte die Schultern, und ihr Blick sagte: »Das Mädchen hat halt keine Ahnung«. Dann leerte sie den ersten Becher der scharf riechenden Brühe auf ex.

»Die gleiche Karte wie letzte Woche?«, fragte Mechthild und kippte wieder jenes undefinierbare Pulver in den Filter.

»Genau. Ich würde sagen, ich fange mit dem New-York-Cheesecake an, und du machst den Brownieteig. Das Rezept hängt am Kühlschrank.«

Mechthild nickte, knipste das Radio an, und schweigend begaben wir uns an die Arbeit.

Wir stellten morgens alles selbst her, und wenn etwas im Laufe des Tages ausverkauft war, konnte man es eben nicht mehr bestellen. Hier galt: Wenn weg – dann weg. Anfangs hatte ich mich oft finanziell übernommen, weil ich zu viel vorbereitet hatte und dann auf den Resten sitzen geblieben war. Nun bot ich weniger an, und der Laden lief noch besser als vorher. Die »künstliche Verknappung« schien die Leute regelrecht anzustacheln.

Als ich das Baiser für den Milchreis zubereiten wollte, passierte das Unglück. Ich hatte einen der beiden Schneebesen nicht richtig fixiert, und wild drehend löste er sich aus der Verankerung und flog quer durch die Küche. Ich ließ vor Schreck das Handrührgerät los, und ein Regenschauer aus zähem Eiweiß regnete auf mich hinab. Mechthild unterdrückte ein Grinsen.

»Verflucht!« Ärgerlich strich ich durch meine verklebten Haare. Dann wanderte mein Blick zur Küchenuhr. Es war bereits kurz vor zehn Uhr. Um elf Uhr öffnete das Café, und ich hatte keine Zeit, einen Abstecher in meine Wohnung zu machen, um mir die Haare zu waschen.

»Das trocknet«, sagte Mechthild und schnippelte weiter den Rhabarber.

»Na super«, murmelte ich und begab mich auf die Suche nach dem verschwundenen Schneebesen.

Als ich um fünf Minuten nach elf hinter meiner Theke stand, galt meine Aufmerksamkeit allein einem Paar breiter Schultern, die auf der Straßenseite gegenüber einen Schriftzug auf der Glasfront des Sportgeschäfts anbrachten.

Das Eiweiß in meinen Haaren war mittlerweile getrocknet, und dank der ungewollten Proteinkur standen sie nun in wirren Wellen von meinem Kopf ab.

»Uiuiuiii …«, murmelte ich anerkennend, als das Paar ­breite Schultern die Arme hob und einen weiteren Schriftzug anpasste.

Dieser Max war echt eine Augenweide. Die Jeans saß perfekt, und das sportliche Shirt betonte seine Figur. Er legte den Kopf schief und betrachtete sein Werk. Ich betrachtete den knackigen Hintern in seiner Jeans.

Drei junge Mädchen betraten das Café. Sie bestellten alle einen Milchkaffee und die Zitronenmuffins mit Joghurt-Ganache.

»Ach … und noch zwei Kaffee zum Spenden«, sagte eine der drei. Die anderen beiden sahen sie fragend an.

»Zum Spenden?«, fragte die eine.

»Hier kann man Kaffee oder auch Gerichte der Speisekarte spenden«, erklärte ich. »Das ist eine Idee, die ich aus Italien kenne. Man bezahlt das, was man anderen spenden möchte. Kommt nun zum Beispiel jemand in das Café, der kaum Geld hat, kann er oder sie fragen, ob Besucher etwas gespendet haben. Dann bekommt derjenige das umsonst. Deine Freundin spendet zwei Kaffee. Kommen nun zwei Menschen, die kein Geld für Kaffee haben, bekommen sie den Kaffee, den deine Freundin bezahlt hat.« Ich hielt eine rote Kladde hoch. »Hier tragen wir alle Spenden ein und haken sie ab, wenn ein anderer sie einlöst.«

»Klingt super«, sagte das Mädchen. »Ich spende auch zwei Kaffee.«

»Ich auch!«, sagte die Dritte schnell.

»Danke euch«, lächelte ich. »Dann bezahlt jetzt jede ihren Muffin und drei Kaffee.«

Die drei klimperten mit ihrem Geld.

»Echt cool …«, sagte eine, als sie ihre Teller und Becher hinaustrugen, um sich auf eine der kleinen Bänke vor dem Café zu quetschen.

Dann erklang ein tiefes Motorengeräusch: Jo, die fast jeden Morgen vorbeikam. Ich lehnte mich über die Theke, um nach ihr Ausschau zu halten, und da brauste sie auch schon an mir vorbei. Zu schnell, wie immer.

Jo warf sich mit dem Wagen in die Parklücke, die direkt vor dem Café lag. Rückwärts und so rasant, dass es das halbe Café mitbekam. Max, der gerade den letzten Schriftzug mit einem Plastikspatel fixierte, hob interessiert den Kopf.

Oh nein. Mir schwante nichts Gutes.

Jo stellte den Motor ab und stieg dann aus. Die bordeauxfarbene Röhrenjeans saß so tief, dass ihre spitzen Beckenknochen über den Bund ragten. Sie schob sich die Pilotenbrille ein bisschen höher über den Nasenrücken und fuhr sich dann ordnend durch ihr Haar.

Sie sah nicht, was ich sah, und deshalb zuckte sie kurz zusammen, als Max sie ansprach. Er hatte den Spatel beiseitegelegt, war über die Straße spaziert und schien nichts dabei zu finden, Jo einfach anzuquatschen.

Die beiden verstanden sich sofort prächtig. Ihrer Gestik nach zu urteilen, entspann sich gerade eine lockere Fachsimpelei über Oldtimer und deren besonderen Reiz. Max schien beeindruckt davon, was Jo wohl von sich gab, denn ich sah, wie er ein paar Mal anerkennend nickte. Schließlich wurde sogar die Motorhaube geöffnet. Während Max das blitzblanke Innenleben bewunderte, gestikulierte Jo wild in meine Richtung. Ich schüttelte abwehrend den Kopf. Niemals besaß ich die Lässigkeit, einfach nach draußen zu spazieren und mich in die Unterhaltung einzumischen. Jo hob die Hände zum Himmel, als bete sie um Geduld. Die Gruppe junger Mädchen, die sich auf die Bank vor dem Café gequetscht hatte, kicherte. In diesem Moment tauchte Max wieder auf und ließ die Motorhaube fast ehrfürchtig zuschnappen. Ich beobachtete, wie die Muskeln an seinen Armen hervortraten, als er vorsichtig das Metall herunterdrückte.

Doch dann tat Jo etwas, das mein Herz einen Moment aussetzen ließ. Sie sagte etwas zu Max und winkte mir dann durch die Scheibe zu. Ich schluckte deutlich hörbar, bevor ich zu einer Salzsäule erstarrte. Max reckte den Kopf, lächelte und hob dann grüßend die Hand.

Wo war das große schwarze Loch im Boden, wenn man es brauchte?

Ungelenk hob ich ebenfalls die Hand. Sie fühlte sich an wie ein Fremdkörper. Jo grinste bis zu den Ohren und wiederholte dann die einladende Geste, die mich nach draußen locken sollte.

Niemals. Es würde der peinlichste Auftritt meines Lebens werden. Und dann erst meine Haare!

Also riss ich alle auf der Theke herumstehenden dreckigen Teller an mich und deutete mit dem Kopf entschuldigend Richtung Küche. Max lächelte ein zweites Mal, während Jo stumm das Wort »Loser« mit den Lippen formte.

Bloß weg von hier. Wenn ich mich schon blamierte, weil ich keinen vernünftigen Satz herausbrachte, dann doch wenigstens mit perfekt sitzenden Haaren. Schöne Haare konnten so manches rausreißen, dessen war ich mir sicher.

Als ich zurück aus der Küche kam, lehnte Jo an der Theke.

»Du hast Glück, dass ein Angestellter Max in den Laden geholt hat.« Sie sah mich spitzbübisch an. »Sonst hätte ich ihn nämlich mal mit reingenommen.«

»Untersteh dich.« Mit einem Klirren ließ ich einen Satz kleiner Teller auf die Theke fallen. »Hast du meine Haare gesehen?«

Jo lehnte sich vor und kniff die Augen zu Schlitzen. »Was ist mit ihnen?«

»Ich sehe aus, als hätte ich mit dem Kopf in der Fritteuse geschlafen. Heute Morgen gab es ein kleines Küchenmalheur, und seitdem stehen sie zu Berge, als wäre ich die 1b-Version von Albert Einstein.«

»Du übertreibst.« Jo ließ den Blick müßig über meine Gäste schweifen. »Wer interessiert sich für deine Haare, wenn er auf deinen Busen gucken kann?«

»Jo!«

»Na, komm schon …« Sie drehte sich wieder zu mir und grinste. »Willst du mir allen Ernstes verkaufen, dass du die beiden Dinger heute Morgen ganz ohne Hintergedanken so aufs Tablett gelegt hast?«

»Du bist unmöglich.«

Jo zuckte die Schultern. »Und du eine kleine Heuchlerin, wenn du immer noch behauptest, dass du beim Anziehen nicht an den strammen Max gedacht hast.«

»Vielleicht ein bisschen«, gab ich zu. »Aber nicht viel.«

»Natürlich.«

Während Jo weiter meine Gäste abcheckte, machte ich ihr einen Espresso und ein Nutella-Brioche.

»Wohl bekomms.«

Jo fischte einen grausam verknitterten Zehner aus der Münztasche ihrer Jeans. »Stimmt so.«

»Du sollst nicht immer Trinkgeld geben, Jo.«

»Und du sollst mir nicht immer sagen, was ich tun soll.« Damit war das Thema für sie erledigt. Ich packte das Geld in die Kasse und fütterte die gemeinsame Trinkgeldspardose mit dem Differenzbetrag. Jo biss in das Brötchen und nippte dann an ihrem Espresso.

»Maya …« Sie schluckte den Bissen hinunter. »So wird das nie etwas.«

»Ich weiß.«

»Das war eine ideale Vorlage. Ich habe ihm gesagt, dass ich meine beste Freundin Maya besuche, der das Café gehört. Er schien nicht überrascht. Er kannte deinen Namen schon! Du hättest dich einfach neben mich stellen können, und ich hätte dich in das Gespräch mit eingebunden. Was ist so schwer daran, einfach ›Hallo‹ zu sagen? Er tut dir doch nichts. Max war total locker und entspannt. Eben so wie normale Leute sich ganz ungezwungen hin und wieder unterhalten. Ein ›Hallo, ich bin Maya‹ ist doch kein Heiratsantrag.«

Eine ganze Weile schob ich ausweichend Papierservietten von links nach rechts. Jo fixierte mich immer noch.

»Aber meine Haare …«, murmelte ich schließlich.

»Deine Haare!« Jo knallte die Espressotasse zurück auf die Theke. »Ist das dein Ernst? Deine Haare?«

»Ja!«

»Okay, weißt du was? Wir fahren in dieses Hotel für die Gestörten. Denn wenn eine wirklich Nachhilfe braucht, dann bist du das!«

»Ich will da nicht hin.«

»Doch, willst du.« Jo zückte ihr Handy. »Ich rufe jetzt in diesem Moment Sabine an und sage, sie soll buchen.«

»Nein!« Ich wollte ihr das Handy aus der Hand schnappen, doch Jo griff sich den Rest des Brioches und flüchtete aus dem Lokal.

»Jo!«

Sie winkte lässig, dann verschwand sie auf die Straße. Noch bevor sie im Cabrio saß, begann sie zu telefonieren.

»Na super …« Ich stützte mich auf die Theke und sah Jo dabei zu, wie sie ihr Telefon in die Freisprechanlage stellte und dabei unablässig redete. Ohne noch einmal zu mir zu gucken, gab sie Gas, schoss aus der Parklücke und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich schielte zu Max’ Sportgeschäft hinüber, doch auch er war nicht zu sehen. Missmutig ließ ich den Kopf hängen. Was hatte mir Sabine da bloß eingebrockt?

Kapitel 3

»Little Queenie«

Um kurz vor zwölf Uhr betrat meine Vollzeitkraft das Café.

»Hallo, Maya!« Thea lächelte und ließ eine große dunkle Sonnenbrille in ihrer Umhängetasche verschwinden. In ihrem langen, buntgemusterten Sommerkleid sah sie aus wie ein Schmetterling, der sich nur zufällig in meinen Laden verirrt hatte. Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und in den dunkelblonden Längen blitzte ein kupferfarbener Schimmer wie Zuckerguss aus purem Bernstein.

»Hi, Thea! Wie war der freie Tag?«

»Ach, frag nicht …« Sie lachte, machte eine wegwerfende Geste und ging an der Theke entlang, um in dem Personalraum neben der Küche ihre Tasche abzulegen.

»Ich habe geputzt. Aber erzähl das bloß niemandem. Bei dem schönen Wetter sollte man sich schämen, überhaupt ans Reinemachen zu denken.«

Thea verschwand in der Küche. Ich sah ihr nach und schüttelte lächelnd den Kopf.

Thea, die mit vollem Namen Theodora Helene Kellinghusen hieß, war der gerade zwanzig Jahre alt gewordene Spross einer Hamburger Akademikerfamilie. Die Mutter, eine blondgesträhnte Endvierzigerin mit stahlhartem Blick, war Professorin für Wirtschaftsmathematik. Der Vater ein international forschender Neurobiologe. Ihre beiden älteren Brüder hatten beide Medizin studiert und waren auf dem besten Weg, der Familie mit ihren glänzenden Karrieren alle Ehre zu machen. Genau diesen Plan hatte man auch mit der Jüngsten gehabt.

Thea, die von dieser Idee von Anfang an wenig begeistert war, wählte die Stadt, die ihrer Meinung nach am weitesten entfernt von Hamburg lag: München. Zwar beugte sie sich dem Drängen ihrer Eltern, ebenfalls Medizin zu studieren, doch in Wahrheit hatte sie die Uni nur einmal von innen gesehen, nämlich am Tag der Einschreibung.

Stattdessen hatte sie beschlossen, sich einen Job zu suchen und so lange zu arbeiten, bis sie sich sicher war, was sie mal werden wollte. Zurzeit schwankte sie zwischen dem Wunsch, Grundschullehrerin oder Juristin zu werden.

Ich wusste, dass ihre Eltern sie unterstützten, denn Thea hatte mal erwähnt, dass sie den Betrag jeden Monat sparte. Das, was sie als Vollzeitkraft bei mir verdiente, reichte, um ihr 1-Zimmer-Appartment und die übrigen Kosten zu bezahlen. Sie wollte das Geld ihrer Eltern nicht ausgeben, da diese es »unter einer falschen Prämisse« zahlten, wie sie mal erklärt hatte.

Sollte die Seifenblase ihres angeblichen Medizinstudiums platzen, wollte sie ihren Eltern das Geld an diesem Punkt zurückzahlen können. Sie sprach nie darüber, aber ich spürte, dass sie den Tag fürchtete, an dem sie ihren Eltern die Wahrheit sagen müsste.

»Was steht an?« Thea war aus der Küche zurück in den Gastraum geflattert. Da es noch relativ leer war, beschloss ich, sie zur Bank zu schicken. Ich hatte die Einnahmen von Freitag, Samstag und Sonntag in meiner Handtasche dabei.

»Gehst du bitte an meine Handtasche und nimmst dir die graue Geldtasche da heraus? Die Einnahmen müssen noch eingezahlt werden.«

»Klar!« Sie lächelte und tat, wie ihr geheißen. Zwei Minuten später verließ sie das Café. Das Geld war sicher verstaut in ihrer Umhängetasche, sie hatte ihre große Sonnenbrille auf der Nase und sich aus dem Kühlschrank eine Handvoll Rhabarberstückchen geschnappt. Ich wusste, ich konnte ihr vertrauen, und nur deshalb überließ ich es ihr hin und wieder, die Einnahmen zur Bank zu bringen. Thea, behütet aufgewachsen und unter dem Schutz zweier älterer Brüder stehend, war in Herz und Gemüt so rein wie frisch gefallener Schnee.

Die Art, wie sie alles um sich herum mit unvoreingenommener Neugier betrachtete, verriet einem, dass ihr noch nichts Böses geschehen war. Obwohl es hin und wieder männliche Kandidaten gab, die unter einem Vorwand das Café belagerten, wurde nie etwas aus diesen Avancen. Thea interessierte sich kein bisschen für Männer.

Sie schien noch viel zu beschäftigt, jeden Tag aufs Neue herauszufinden, wer sie eigentlich war und was sie von ihrem Leben wollte, dass es in ihrer Nähe einfach keinen Platz für eine zweite Person gab. Insgeheim war ich ein bisschen dankbar dafür, auch wenn es vermutlich egoistisch war. Thea war mir in den zwei Jahren, in denen sie für mich arbeitete, so ans Herz gewachsen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie es sein würde, wenn sie sich tatsächlich für ein Studienfach entschieden hätte.

Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als sich eine Gruppe Menschen vor meiner Außentheke zusammenballte. So formell wie sie gekleidet waren, schätzte ich, dass sie in einer Bank oder Versicherung arbeiteten. Die Frauen trugen Kostüme in gedeckten Farben, die Männer alle Anzüge und Krawatte. Sie alle bestellten die belegten Brioches, die ich direkt an der Theke zubereitete. Nachdem ich kassiert hatte, war Thea auch schon wieder da.

»Holst du bitte noch Brioches?«, bat ich sie. Ich hatte auf einen Schlag elf der süßen französischen Brötchen verkauft.

Thea schleppte den Nachschub an und gegen halb zwei füllte sich der Laden. Viele ließen ein herzhaftes Mittagessen zugunsten einer süßen Versuchung aus meiner Küche aus. Der Renner war heute der warme Milchreis mit Baiserhaube und frischen Waldfrüchten, aber auch das geschichtete Rhabarberkompott mit Vanillepudding und Biskuits im Glas verkaufte sich hervorragend.

Thea, Mechthild und ich waren über zwei Stunden lang so mit unseren Gästen beschäftigt, dass ich es nicht mal mehr schaffte, einen einzigen sehnsüchtigen Gedanken an Max zu verschwenden.

Um kurz nach sechzehn Uhr tauchten drei Frauen im Café auf, die so rasant gekleidet waren, dass einige meiner Gäste spontan Löffel oder Gabel beiseite legten, um die drei Erscheinungen anzustarren. Ich hingegen winkte ihnen erfreut zu, denn sie waren gern gesehene Stammgäste.

»Hallo, meine Damen! Wie laufen die Geschäfte?«

Die drei waren Verkäuferinnen in einer Übergrößen-Boutique namens »Little Queenie«, die vier Läden entfernt lag. Hier war »Klotzen statt Kleckern« Programm, und wer hoffte, etwas Weites zum Kaschieren zu finden, hatte sich eindeutig in den falschen Laden gewagt. Im »Little Queenie« wurde gezeigt, was man hatte.

Passend zum Sortiment der Boutique trugen die Verkäuferinnen alles hauteng auf Figur geschnitten und dazu goldig schimmernde, monströs große Accessoires deren steinchenbesetzte Details einen fast erblinden ließen. Im »Queenie« hatten die Achtziger überlebt, zumindest was die dramatischen Frisuren anging. Haarspray war ganz klar obligatorisch. Toupieren gehörte zum guten Ton und wer keine Ahnung hatte, wie man sich eine Dallas-Betonfrisur zauberte, hatte als Verkäuferin hier nichts verloren. Schuhe mit Absatz waren übrigens Pflicht.

Das »Little Queenie« war mittlerweile aufgrund seines außergewöhnlich mutigen Konzepts so oft im Fernsehen gewesen, dass die drei Verkäuferinnen und Tamara Devaulangé, die Besitzerin der Boutique, kleine Stars geworden waren.

Ursi, die Älteste im Team, lehnte sich über die Theke, um mir ein schallendes Bussi zu verpassen.

»Schätzelein! Hier ist ja vielleicht etwas los! Du wirst noch Millionärin und wir müssen jeden Mittwoch hungern, weil du dein Café schließen und dich in Miami zur Ruhe setzen wirst!«

Sie löste sich von mir und ihre pechschwarz gefärbte Mähne hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Stattdessen hatte sie an meinen Ohren geknistert wie Backpapier, als Ursi sich an mich gedrückt hatte. Ursi war vor über zwanzig Jahren der Liebe wegen von Köln nach Bayern gezogen, doch den »Kölsche Dialekt« hatte sie nie ganz verloren. Alles, was sie sagte, klang auf liebenswerte Art nach Büttenrede.

»Stimmt, heute ist richtig was los!«, lachte ich und musterte sie unauffällig.

Ursi trug ein rasant geblümtes Longtop, das sich wie ein Schlauch um ihre üppige Größe 56 spannte. Dazu eine Röhrenjeans, die mehr aus Löchern als aus Stoff bestand und goldene High Heels, deren Absatzhöhe ich auf circa zwölf cm schätzte. Die dicken goldenen Ringe an ihren Fingern hätten auch jedem Gangster Rapper alle Ehre gemacht. Auch ihre beiden Kolleginnen, Diana und Inge, waren mehr als auffällig zurechtgemacht. Diana trug ein hautenges weißes Rüschenminikleid, eine weiße Strumpfhose, die aus einem großflächigen Rosenmuster bestand, ein rotes Bolerojäckchen und rote Pumps. Ihre blonden Haare hatte sie zu einer Farrah-Fawcett-Gedenkfrisur frisiert.

Inge trug Leggings aus dunkelbraunem Lederimitat, darüber eine beigefarbene Bluse und ein aufwändig besticktes Korsett aus Satin, das ihren ohnehin sehr großen Busen bis fast unter das Kinn drückte. Ich war froh, dass sie wenigstens die halbwegs züchtig geschlossene Bluse darunter trug, denn sonst hätte man sie vermutlich irgendwann auf der Straße wegen »Erregung öffentlichen Ärgernisses« verhaftet. Ihre karamellbraunen Haare waren zu Locken gedreht und die Fransen ihres Ponys reichten ihr fast bis auf die Spitze ihrer zierliche Barbie-Nase.

»Kinder, was nehmen wir denn heute?«, überlegte Ursi gerade laut, während ich mich auch noch von Inge und Diana küssen und mit Lippenstift bekleben ließ. Inge angelte sich eine Serviette auf der Theke und wischte mir die roten und pinkfarbenen Spuren lachend ab.

»Tja, was nehmen wir denn?«, griff Diana ihre Frage auf. »Tamara will den New-York-Cheesecake mit dem Limettensorbet.« Sie überflog die Tafel mit der Saisonkarte. »Ich glaube, mich macht der Mandarinen-Cupcake mit dem Kefir-Icing schwach.« Sie sah zu mir. »Kannst du mir direkt zwei geben, Maya? Einer ist keiner, das sagt man doch.« Sie kicherte und schien überhaupt kein schlechtes Gewissen bezüglich der Kalorien zu haben, was ich ehrlich bewundernswert fand.

»Sehr gerne, Diana.«

»Wie muss ich mir denn den Granatapfelburger vorstellen, Schätzelein?«, wollte Ursi wissen und schielte Richtung Küche. »Das ist aber doch etwas Süßes, oder?«

»Genau. Ich habe die Granatapfelkerne mit Kirschsaft und Gelatine angedickt und dann in Formen gefüllt, damit sie nachher so rund und platt wie Hamburger-Pattys aussehen. Das Brötchen ist aus süßem Hefeteig. Dazu kommt noch Vanillesoße, Kirschsoße und karamellisierte Mandelsplitter.«

»Haha!«, lachte Diana. »Die Vanillesoße für die Mayonnaise, die Kirschsoße als Ketchup und die Mandelsplitter ersetzen die gerösteten Zwiebelflocken. Du hast Ideen, Maya!«

»Danke …«, erwiderte ich etwas verlegen.

»Den nehme ich!«, sagte Ursi zeitgleich.

»Für mich den Milchreis, Maya«, bestellte Inge.

»Also nein, das geht nicht!«, protestierte Diana. »Den nimmst du immer. Jetzt probierst du mal etwas Neues aus. Sei nicht so langweilig. Hier: Erfrischungskuchen mit Orangenfilets und Buttermilcheis. Klingt doch großartig!«

»Ich hätte aber gern den Milchreis.« Inge schien die Ruhe selbst.

»Aber …«, protestierte Diana weiter.

»Dann nimmst du den Erfrischungskuchen beim nächsten Mal«, fiel Ursi ihr ins Wort. »Schluss jetzt.«

»Also einmal den Granatapfelburger, einmal den Cheesecake, zweimal die Muffins und einmal den Milchreis.« Ich notierte mir die Bestellungen auf einen Zettel und reichte den Durchschlag zu Mechthild in die Küche.

Während die drei Grazien munter weiterdiskutierten, bereitete ich mit Mechthild die Bestellungen zu. Dann stellte ich die Teller auf zwei große Tabletts. Da die Mädels vom »Little Queenie« zuverlässige Stammgäste waren, gab ich ihnen die Speisen auf Tellern und nicht in meinen To-go-Packungen mit. Es sah einfach hübscher aus und da eine der Damen das Geschirr abends immer wieder zurückbrachte, machte ich mir keine Sorgen.

Sie bezahlten, fütterten unser Trinkgeld-Sparschwein und ich bekam wieder Küsschen, bevor sie in einer Wolke aus Haarspray und blumigem Parfüm davonstöckelten. Es dauerte geschlagene zehn Minuten, bis sich die anderen Gäste von dem Auftritt erholt hatten. Thea grinste bis zu den Ohren, als sie mit einem Tablett leeren Geschirrs von draußen hereinkam.

»Komm mal her …«, lachte ich, griff nach einem Blatt Küchenrolle und wischte ihr die Lippenstiftreste von den Wangen. »So kannst du nicht herumlaufen.«

»Ich liebe die Queenies!« Thea nahm das Tablett von der Theke und die Grübchen über ihren Mundwinkeln ließen sie noch jünger wirken. »Sie sind echt cool.«

»Stimmt.« Ich hätte wirklich gern gewusst, wo sie ihr Selbstbewusstsein kauften. Dort hätte ich dann nämlich auch gerne mal großzügig zugeschlagen. Beim Thema »Selbstbewusstsein« wanderte mein Blick wie automatisch zu dem Sportgeschäft auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich seufzte leise.

Als hätte Max meine Gedanken an ihn gespürt, tauchte er im Türrahmen seines Ladens auf. Langsam wich ich so weit zurück, dass er mich hinter der Theke nicht mehr sehen konnte. Ich beobachtete ihn, wie er die Front meines Cafés musterte. Den altgoldenen Schriftzug, die stilisierten Muffins in Cremeweiß, die Holzbänke vor dem Eingang. Er lächelte und ein fast versonnener Ausdruck trat in sein Gesicht. Ich schluckte. Verdammt, er sah einfach so gut aus. Obwohl ich wirklich einiges darum gegeben hätte, ihn endlich kennenzulernen, wusste ich, dass meine Hemmungen größer waren. Wäre ich etwas »freier«, selbstbewusster und cooler gewesen, ich wäre schon längst mit einem Tablett Muffins in seinen Laden marschiert, hätte »Hi, du bist neu hier, herzlich willkommen und ich bin übrigens die Maya« geflötet und ihn ab dann nicht mehr aus den Klauen gelassen. Stattdessen kauerte ich wie ein verschrecktes Kätzchen hinter meiner Theke und ärgerte mich über mich selbst. Zum ersten Mal, seit Sabine mit dem Vorschlag des »Single-Hotels« angekommen war, fragte ich mich, ob ich tatsächlich ein wenig Nachhilfe gebrauchen konnte.