Knut Diers
Wer mordet schon auf Sylt?
11 Krimis und 125 Freizeittipps
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © refresh(PIX) – Fotolia.com
und © ryszard filipowicz – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4982-6
Mörderische Energie entlädt sich zwischen Kampen und List
Anna von Grüning hat sich aus ihrer Penthousewohnung am Alsterufer geschlichen und die erste Bahn an diesem Samstagmorgen in Hamburg-Altona in letzter Minute erreicht. Drei Stunden bis zum Bahnhof in Westerland – drei Stunden, um ihre wirren Gedanken zu sortieren, ihr Leben zu ordnen.
Sie war sich so sicher: Von Thomas scheiden lassen, ihm das am Freitagabend sagen, Samstag nach Sylt fahren und endlich den Traum ihres Lebens leben. Mit Florian ganz neu anfangen. Irgendwo. Keine Lügen mehr. Nicht Thomas gegenüber, aber erst recht nicht sich selbst gegenüber. Lange genug hat sie sich selbst etwas vorgemacht und versucht, in der Hamburger High Society glücklich zu werden. Und jetzt das.
Sie schaltet ihr Smartphone ein. Es zeigt sofort eine neue Kurznachricht an. ›Anna, du bist und bleibst meine große Liebe. Dass du seit fünf Jahren ein Verhältnis hast, wie gesagt, ich weiß es schon lange. Es hat mich erst sehr gekränkt, aber wir waren doch trotzdem glücklich zusammen. Und als ich dann in deinen E-Mails und SMS an ihn las, dass du mich ja auch weiterhin liebst, habe ich mich damit abgefunden. Glaube mir, jedes Mal, wenn du nach Sylt fuhrst, brach mir das Herz. Und jedes Mal, wenn du wieder da warst, war ich so erleichtert, dich wiederzuhaben. Die Angst, du könntest eines Tages bei dem Surfer bleiben, stieg jedes Mal zu dir mit in den Zug. Bitte, lass uns doch so weitermachen. Ich bin mit allem einverstanden. Nur bitte, verlass mich nicht! Dein Thomas‹
Anna drückt auf ›antworten‹. Tränen laufen ihr über die Wangen, während sie hastig tippt: ›Brauche jetzt Zeit. Melde mich. Es tut mir alles so leid. Deine Anna.‹ Sie öffnet WhatsApp. Florian war zuletzt um 4.41 Uhr online. Immer dieses sinnlose ›Durch-die-Clubs-Ziehen‹, denkt sich Anna und schreibt: ›Ich lasse mich scheiden. Thomas weiß von uns seit Jahren. Lass uns irgendwo neu anfangen. Bin schon um 9.35 Uhr auf der Insel. Holst du mich ausnahmsweise ab?‹ Nur ein paar Sekunden später sieht Anna, dass Florian ihre Nachricht liest, aber, ohne zu antworten, wieder offline geht.
Erst als der Zug auf den Hindenburgdamm gleitet, löst sich ihr starrer Blick vom Telefon, schweift über das Wasser und weiter bis zur Insel. Das Meer, der Strand, die Insel – Sehnsuchtsorte. Die Balance von Ebbe und Flut, sie möge in mein Leben zurückkommen. Ja, denkt sie bei sich, das ist ein passender Wunsch für meine Yoga-Woche und einen Neuanfang mit Florian.
Tief enttäuscht, dass Florian nicht am Bahnhof ist und sich noch nicht einmal gemeldet hat, steigt Anna in den Bus der Linie 1. Kurz bevor sie an der Kampener Vogelkoje 1 aussteigt und das »Tal der Ahnungslosen« erreicht, wie sie das Klappholttal ohne Handyempfang immer nennt, vibriert ihr Smartphone.
›Bist du wahnsinnig? Wenn du dich scheiden lässt, kriegst du doch keinen Cent von ihm. Wovon sollten wir dann leben! Dein mickriges Budget vom Hotel reicht doch hinten und vorne nicht!!! Und wie gering meine Einnahmen aus den Surf- und Yogakursen sind, weißt du doch selber!!! Ohne sein Geld geht mit uns gar nichts!!! Mach doch nicht alles kaputt. Ich bin um 16.00 Uhr im Westwind.‹
Beim Lesen der Kurznachricht kann Anna Florians Wut und Schreien förmlich hören. Enttäuscht, entsetzt, entmutigt steigt sie aus und geht die letzten 800 Meter bis zur Volkshochschule Klappholttal 2 zu Fuß. Ging es ihm also doch nur um ihr oder besser gesagt um das Geld von Thomas? Das hat ihr Mann ja gestern Abend auch behauptet.
»Moin, Anna, du bist aber heute früh hier. Du musst ja mitten in der Nacht aufgebrochen sein. Aber du hast Glück, deine Hütte Westwind ist schon gereinigt. Hier ist der Schlüssel.« Die Mitarbeiterin an der Rezeption schiebt ihr Schlüssel und Kurkarte über den Tresen und schaut ihr in die Augen. »Oder willst du dich erst einmal setzen und einen stärkenden Tee trinken? Sieht aus, als könntest du den gebrauchen.«
»Ach, Enna, du bist ein Schatz. Aber ich möchte lieber alleine sein. Ein Gang am Strand und der Wind bläst meinen Kummer bestimmt schnell zum Festland zurück«, antwortet Anna und glaubt davon selber kein Wort.
Schleppend quält sie sich die letzten Meter zu ihrer kleinen Holzhütte. Westwind liegt romantisch etwas abseits in den Dünen. Sie hört dort das Meer beständig rauschen, kann die Sonne vom Bett aus aufgehen sehen und ist in weniger als zwei Minuten am Strand. Besser kann man auf Sylt nicht wohnen!, denkt sie sich jedes Mal, wenn sie hier ankommt. Gut, die so genannten Hamburger Freunde sehen das anders. Das Wasser im Waschbecken ist kalt, Dusche und Toilette sind draußen und müssen auch mit anderen geteilt werden. Handyempfang, mobiles Internet, Wellness, sogar Heizung – alles Fehlanzeige. Aber gerade das macht für Anna den Reiz aus. Nicht erreichbar. Stille. Abschalten. Neue Eindrücke und Einsichten gewinnen. Obwohl sie auch zum Arbeiten hier ist, liegt ihr Ziel doch ganz klar auf »Downshifting«: Raus aus dem Hamsterrad, rein ins Leben.
»Los, bewegen und durchatmen, das tut dir jetzt gut«, motiviert sie sich selber und schnappt sich die Nordic-Walking-Stöcke. Zeilen eines Gedichts von Erich Fried kommen ihr am Dünenaufgang in den Sinn: »Wenn man ans Meer kommt, soll man zu schweigen beginnen, bei den letzten Grashalmen soll man den Faden verlieren und den Salzschaum und das scharfe Zischen des Windes einatmen und ausatmen und wieder einatmen.« Anna atmet tatsächlich tief durch und überlegt, wie das Gedicht weitergeht. »Dann soll man aufhören zu sollen und nichts mehr wollen wollen, nur Meer.«
Der Nachrichtensignalton ihres Telefons katapultiert sie zurück in die Realität. ›Liebe Anna, es gibt etwas, was du über Florian wissen solltest, bevor du weitere Entscheidungen triffst. Ich bin auf dem Weg zu dir. Heute Abend 20.00 Uhr in deiner Hütte? In Liebe, Thomas.‹ Der Mobilfunkempfang zwischen Klappholttal und Kampen glückt nur an wenigen Stellen, und dann auch nur direkt am Wasser. Ein Blick aufs Telefon zeigt ihr die Empfangsstärke: ein Balken. Sie schreibt zurück: ›Keine gute Idee. Lass mir Zeit. ICH MELDE MICH!‹
Anna dreht um, vorbei mit Ein- und Ausatmen, vorbei mit ihrer Zuversicht. Gedankenblitze explodieren. Sie beginnt zu grübeln: Was soll das bedeuten – es gibt etwas, das du über Florian wissen solltest? Thomas ist kein Bluffer. Er kann zwar geschickt verhandeln, weiß seine Vorteile zu nutzen und ist vielleicht auch in seinen Insolvenzverwaltungen nicht immer ganz ehrlich, aber falsche Behauptungen? Nein, das passt ganz und gar nicht zu ihm. Anna überlegt weiter: Sollte ich Thomas doch anrufen oder erst mit Florian sprechen?
Ein Paar, das so laut streitet, dass Anna sogar einige Wortfetzen davon mitbekommt, erweckt ihre Aufmerksamkeit. Sie ist sich sicher, dass sie dieses ungleiche Paar auf ihrem Hinweg am Strand noch sehr geschmeidige Tai-Chi-Bewegungen hat ausführen sehen. Und jetzt scheinen sie sich über Geld zu streiten. Die große Frau macht dem kleinen Mann ganz offensichtlich und wild gestikulierend Vorwürfe. So ist das wohl, denkt Anna auch gleich wieder an ihren eigenen Stress. Die besten Entspannungstechniken taugen nichts, wenn es im Leben zu stürmisch wird.
»Atemlos durch die Nacht«, dröhnt es über die Kopfhörer in seinen Ohren, seine Gedanken sind noch beim gestrigen Abend. Ja, das war wirklich großes Kino beim Fackelumzug in Hörnum. Besser hätte er sein erstes Date nicht planen können und heute Abend würden sie sich schon wieder treffen, zur Mittsommernachtsparty an der Buhne 16 3 . Schade, dass ich so früh gehen musste, geht es ihm passend zum Lied durch den Kopf, während er Ausschau nach seinem Hund Armani hält. Er ruft und ruft, aber sein Jack-Russel-Terrier ist nirgends zu sehen. Ungewöhnlich, hört der doch sonst aufs Wort. Eimo Ott stoppt, stellt die Musik auf seinem Smartphone aus. Armanis Bellen ist jetzt nicht mehr zu überhören. Eimo läuft in die Richtung des kläffenden Hundes, den er schon von Weitem vor einem Strandkorb stehen sieht, starr, mit aufgestellten Nackenhaaren. Eimo schwant Böses, er beginnt zu rennen. Atemlos kommt er am Strandkorb an. Armani hört auf zu bellen, Eimo stockt der Atem. Leblos sitzt dort ein Mann, blauviolette Flecken im Gesicht, geronnenes Blut am linken Mundwinkel. Eimo berührt den Mann kurz. »Oh je, Armani, der ist mausetot. Da rufen wir am besten gleich mal die Polizei.« Reflexartig zieht er sein Smartphone aus der Armmanschette. Kein Empfang. Er rennt zum Wasser, Armani rührt sich nicht vom Fleck. Und er hat Glück: Ein Balken zeigt die Empfangsstärke.
Schlaftrunken tastet sich die Hand von Henry Hansen, dem Chef der Kriminalpolizei in Westerland, zum Ausstellknopf des Weckers. Doch das Ding hört nicht auf zu klingeln. »Mist!«, entfährt es ihm. »Das ist das Diensthandy, und das um 6.30 Uhr.« Hellwach rennt er ins Wohnzimmer, greift zum Telefon und hört: »Chef, es gibt einen Toten, am Strand vor Buhne 16. Ich bin schon auf dem Weg. Soll ich Wienke auch anrufen?« Es ist seine junge, smarte Kollegin Merle Petersen. Die 25-jährige Polizeimeisterin hatte Rufbereitschaft und war zuerst vom Notruf erreicht worden. Wienke Sondermann ist die ehrgeizige 32-jährige Kollegin der beiden.
»Wienke?«, Henry überlegt kurz. »Ach, Clock acht, Dach erwacht! (Wecker acht Uhr in der Früh, Zeit zum Aufstehen) Die lass doch ruhig ausschlafen.«
»Na, da wird Wienke aber ›not amused‹ sein, Chef«, versucht Merle, ihren Chef umzustimmen. »Sie wissen doch, dass sie sich schnell zurückgesetzt fühlt, wenn sie nicht sofort informiert wird.«
»Laat man loopen, Merle. Wir sehen uns in 15 Minuten am Strand!«, kontert Henry und legt auf.
Als Hansen gegen 7.00 Uhr am Strand eintrifft, kommt Merle ihm schon entgegen. Die Kollegen der Spurensicherung sind ebenfalls gerade gekommen. »Moin, Chef, Sie sind ja fix hier, alle Achtung, so früh am Morgen. Also, der Tote heißt Thomas Huber, ist 60 Jahre alt, wohnt in Hamburg. Ist scheinbar in der Strandperle in Kampen abgestiegen. Zumindest habe ich eine Visitenkarte der Touristinformation mit dem Namen und der Telefonnummer des Hotels bei ihm gefunden. Ich tippe mal, dass der schon mehr als acht Stunden tot ist. Totenflecken und Leichenstarre lassen das vermuten. Und sieht ganz so aus, als sei der nicht so ganz auf natürlichem Wege von uns gegangen …«
Hansen erfährt weiter von Merle: »Sein Handy ist noch an, das ist noch so ein altes Nokia-Ding, wie ich es mal vor fünf Jahren hatte. Aber das müsste bald geladen werden, sonst verabschiedet es sich und wir müssen aufwändig das Passwort rausfinden oder auf die lahmen Kollegen warten. Chef, soll ich es mal in eine Plastiktüte packen und mitnehmen?« Hansen spürt die enorme Energie seiner Ermittlerkollegin. »Ich habe bestimmt zu Hause noch das Ladekabel dazu rumliegen«, sprüht es aus Merle heraus.
»Gar nicht schlecht«, sagt Hansen zufrieden. »Sei aber vorsichtig, dass du nichts verwischst. Fahr am besten gleich zurück und guck mal, was du alles aus dem Ding da rausholen kannst. Ich horche mich im Anschluss in der Strandperle um und wir treffen uns dann im Büro.«
»Ach, und Merle«, hängt Henry noch dran, »ruf Wienke dann langsam mal an und sag ihr, dass ich ihren Schönheitsschlaf nicht stören wollte und sie doch sicher erst ihre beiden Prinzessinnen zur Schule bringen musste.«
Kriminalmeisterin Wienke Sondermann, alleinerziehende Mutter der beiden Töchter Nele (sechs Jahre) und Nora (acht Jahre), die sie »meine Prinzessinnen« nennt, tobt innerlich, als sie von Merle erfährt, dass der Chef sie nicht am Tatort haben wollte. Sie versucht aber, sich nichts anmerken zu lassen. Der nutzt ja jede Gelegenheit, mich außen vor zu lassen. Aber meine Zeit wird schon noch kommen, denkt sie und wendet sich an ihre junge Kollegin. »Merle, ich kümmere mich um das Telefon, durchforste du mal das Netz nach dem Toten.«
Gegen 9.00 Uhr betritt Hansen fröhlich pfeifend das Büro. »Na, Mädels, was habt ihr Neues zu berichten? Kommt doch gleich mal mit Tee in mein Büro zur kleinen Lagebesprechung.« »Ach, soll ich etwa auch dabei sein?«, fragt Wienke eine Spur zu schnippisch.
»Ach Wienke, all up Stee (alles in Ordnung), krieg dich mal wieder ein«, wiegelt Hansen die Anspielung seiner Mitarbeiterin ab. Die norddeutsche Variante einer Mischung aus Robert Redford und Derrick, wegen seiner Größe von 1,93 Meter auch »der Leuchtturm« genannt, baut gern sylterfriesische Redewendungen in seine Sätze ein. Dabei ist er ein »Zugereister« und beherrscht das Sölring gar nicht richtig. In Büsum an der schleswig-holsteinischen Westküste aufgewachsen, lebt der 49-Jährige jetzt aber schon seit mehr als zehn Jahren auf Sylt.
»Also«, beginnt Hansen seine Erklärungen, »der Tote, Thomas Huber, hat gestern um 14.05 Uhr in der Strandperle eingecheckt. Danach ist er gleich mit dem Auto weitergefahren. Er war sehr wortkarg, fragte nur, ob die Surfschule in Munkmarsch immer besetzt sei. Auf die Mitarbeiter an der Rezeption machte er einen verwirrten Eindruck. Gebucht hatte die Touristinformation in Kampen das Zimmer für ihn. Den Mitarbeiter dort konnte ich aber noch nicht befragen. Der hat heute Spätschicht, da fahre ich dann heute Mittag gleich noch mal hin. Die Spurensicherung kümmert sich schon um das Zimmer.« Er blickt zu Merle und Wienke. »Und was habt ihr schon?«
»Also, Chef«, berichtet Merle, »das Telefon des Toten hat Wienke durchsucht, ich war derweil im Netz unterwegs. Der 60-Jährige war Insolvenzverwalter, scheinbar einer der größten in Hamburg. Der hat im Moment fünf Fälle in der Mache. Auf der Internetseite rühmt er sich damit, dass, wartet mal, das muss ich ablesen, also, dass ›Sanierung vor Zerschlagung geht, um die bestmögliche Erhaltung von Arbeitsplätzen zu garantieren‹. Was immer das bedeutet. Außerdem war er Mitglied im Lions Club, spielte Tennis im Club an der Alster und ist Mitglied im RothenbaumClub, so einem Business-Netzwerk auf exklusivem Niveau. Aber er ist auch im Vorstand der Obdachlosenhilfe in Hamburg. Steht alles auf seiner Internetseite und bei XING.«
Jetzt genießt Wienke ihren Auftritt: »Er ist verheiratet mit Anna von Grüning. Die beiden hatten gestern regen Verkehr, allerdings nur per SMS. Ich hab die Ehefrau mal schnell gegoogelt, sie ist 20 Jahre jünger als er, freiberuflich als Mediendesignerin tätig, wollte sich wegen eines Surflehrers, der Florian heißt, von ihm trennen. In der Surfschule in Munkmarsch arbeitet übrigens ein Florian. Meine Prinzessinnen lernen bei dem. Ich kenne ihn aber nicht weiter.«
»Stopp mal, Wienke, den kenne ich doch«, versucht Merle, den Redefluss ihrer Kollegin zu unterbrechen.
»Lass mich doch erst mal ausreden, Merle«, entgegnet Wienke und doziert weiter. »Unser Toter wusste von der Affäre, hatte sich damit sogar schon seit Jahren abgefunden. Wenn ich mal mutmaßen darf: Der ist entweder blind vor Liebe oder will den schönen Schein in der Hamburger High Society wahren. In der letzten SMS schreibt er, dass er auf dem Weg nach Sylt ist und seine Anna um 20.00 Uhr in, wie er schreibt, ›ihrer Hütte‹ treffen will. Angeblich weiß er etwas über den Lover, das er ihr unbedingt persönlich sagen will. Sie antwortete da nur kurz und knapp mit: ›Keine gute Idee. Lass mir Zeit. ICH MELDE MICH!‹ Das war gestern Mittag um 12.45 Uhr. Danach gibt es keine weiteren Nachrichten. So, und wenn ich jetzt noch mal scharf nachdenke, dann muss er die Nachricht vom Autozug aus gesendet haben. Vom Bahnhof ist er dann zur Touristinformation, von dort zur Strandperle und anschließend, nehme ich mal an, hat er dem Surflehrer Florian einen Besuch abgestattet. Also, Merle, was ist das für ’n Typ?«
»Na ja, ein cooler, etwas älter als ich, vielleicht so Ende zwanzig. Der ist nicht nur Surflehrer, der gibt auch Yogakurse am Strand und neuerdings auf Surfbrettern. ›SUP-Yoga‹ nennt er das. Angeblich der neueste Trend. In Hamburg sollen die Frauen darauf total abfahren. Die fahren allerdings auch auf ihn ab. Hein Ingwersen, ihr wisst schon, mein Kumpel, der hat doch neulich sein Burger-Mobil gestartet. Das ist der letzte Schrei in den USA – Food Truck. Ein schickes Fahrzeug, dieses fahrbare Restaurant, sage ich euch. Er wechselt mehrmals am Tag seinen Standort. Hier auf der App kannst du sehen, wo er gerade ist. So, mein Hein hat mir mal erzählt, dass der Florian seit Jahren was mit ’ner reichen älteren Frau aus Hamburg haben soll. Ich weiß das nicht. Ich sehe den immer nur alleine oder in Gesellschaft von so Geleckten, diesen ›Von-Beruf-Sohn-Typen‹.«
Langsam gelingt es Hansen, sich in das Gespräch wieder einzumischen. »Klasse, Mädels, das sieht doch schon richtig gut aus. Wienke, wir beide statten dem Florian mal einen Besuch ab.«
»Der müsste in einer halben Stunde mit seiner Yogastunde am Strand in Hörnum fertig sein«, unterbricht Merle ihren Chef. »Ich habe mir auf seiner Internetseite gerade seine aktuellen Kurse angesehen. Und übrigens: Im Impressum steht: ›Verantwortlich im Sinne von irgendeinem Paragrafen: Mediendesign Andersartig, Inhaberin Anna von Grüning‹.«
»Na dann, schwing deine Hufe, Wienke. Ich fahre«, freut sich Hansen über seinen kleinen Seitenhieb Richtung Wienke, die in seinen Augen ja nicht gerade die Schnellste ist. »Merle, fahr du nach Kampen in die Touristinformation und befrage den Mitarbeiter, der unseren Toten gestern in der Strandperle eingebucht hat. Der Mitarbeiter heißt Tjark Tietgen. Und frage ihn, ob ihm irgendwas Besonderes aufgefallen ist an dem Gast.«
»Ist schon klar, Chef«, antwortet Merle genervt. »Ich bin ja keine Anfängerin! Wartet aber noch mal kurz!«, ruft Merle ihre beiden Kollegen zurück. »Diese Anna von Grüning hat auf ihrer Seite andersartig.com genau drei Kunden als Referenz genannt: FloYo-Sylt, das ist unser Florian, mit Nachnamen übrigens van Buren, dann Soziale Sanierung Huber mit Sitz in Hamburg und München sowie das Hotel Fährmann in Munkmarsch.«
»Gar nicht schlecht, Merle«, äfft Wienke ihren Chef nach. »Da können wir ja auch gleich im Fährmann noch nach der von Grüning fragen. Vielleicht wissen die ja, wo die Villa der Ehefrau ist. Ihr Telefon ist nämlich seit Stunden nicht erreichbar. Da meldet sich noch nicht mal die Mailbox.«
Hansen parkt das Auto gegenüber dem Hotel Fährmann am Yachthafen in Munkmarsch.
»Ich war ja ewig nicht mehr hier. Seit wann ist denn hier Sandstrand, Wienke?«, ist Hansen überrascht, als sie in der kleinen, ruhigen Bucht ankommen.
»Ach Chef, das stand doch andauernd in den Sylter Nachrichten. Den haben sie aufgeschüttet, damit man auch hier am Watt mal die Füße in den Sand halten kann.«
An der Surfschule Munkmarsch 4 ist nicht viel los. Drei Steh-Paddler mühen sich auf dem Wattenmeer ab, am Strand entdeckt Hansen einen jungen, durchtrainierten Typen. »Moin, Moin, wir suchen Florian van Buren«, spricht Hansen den Surfer an. »Können Sie uns weiterhelfen?«
»Ja klar, das bin ich. Was kann ich für Sie tun?«, antwortet der junge Mann fröhlich.
»Wir sind von der Polizei und müssen dringend mit Ihnen sprechen, Herr van Buren. Mein Name ist Henry Hansen und das ist meine Kollegin Wienke Sondermann«, stellt Hansen sich und seine Kollegin vor.
Beim Wort »Polizei« meint Wienke ein leichtes Zucken im Gesicht des Mannes bemerkt zu haben.
»Und was wollen Sie von mir? Ich habe nicht viel Zeit«, entgegnet der Surfer schon nicht mehr ganz so fröhlich.
»Kennen Sie einen Thomas Huber?«, fragt Hansen bohrenden Blickes.
»Na ja, kennen ist zu viel gesagt. Ich weiß, wer er ist«, antwortet Florian knapp und setzt ein »Warum fragen Sie?« hinterher.
»Die Fragen stelle ich hier, junger Mann. Also, was wissen Sie über Thomas Huber?«, stellt Hansen die Machtverhältnisse klar.
Florian überlegt verdächtig lange, bevor er schließlich sagt: »Er ist der Mann einer Bekannten von mir, Anna von Grüning. Die beiden wohnen in Hamburg. Er ist Rechtsanwalt. Den Typ selber habe ich noch nie gesehen. Angeblich mag er Sylt nicht.« Florian schließt bewusst teilnahmslos seinen Neoprenanzug. Jetzt will er zum Surfkursus.
»Und Anna von Grüning, was können Sie uns über die erzählen?«, geht Wienke dazwischen.
»Anna betreut meine Internet- und Facebook-Seite. Die ist super kreativ. Ihre Ideen sind für mich Gold wert. Ohne sie hätte ich mich vor sieben Jahren nie selbstständig gemacht. Wir lernten uns kennen, als ich noch halbtags im Fährmann arbeitete, für das sie damals die Internetseiten neu gestaltet hat. Das muss so vor acht Jahren gewesen sein. Wir waren uns gleich sympathisch. Sie kommt seit Jahren so alle zwei Monate jeweils für eine Woche auf die Insel, ›um sich von ihren Champagner-Freunden zu erholen‹, wie sie immer zu sagen pflegt. Und, ähm, also«, druckst Florian herum, »wir verbringen dann auch viel Zeit zusammen, na ja, also, wie soll ich es sagen, eher die Nächte.«
»Und in welcher Villa durften Sie diese Nächte genießen, Herr van Buren? Oder anders: Wo können wir Frau von Grüning jetzt finden? Wir würden ihr nämlich gerne vom Tod ihres Ehemannes berichten, können sie aber nicht erreichen«, setzt Wienke jetzt zum Angriff an und überrascht damit auch ihren Chef.
Dem Surfer entgleiten nicht nur die Gesichtszüge. Während Hansen sich noch fragt, ob dieses übertrieben wirkende Schockiertsein gespielt oder echt ist, nuschelt Florian betroffen: »Was? Tot? Der? Neeee! Wie ist er denn gestorben?«
»Dazu können wir Ihnen jetzt noch nichts sagen.« Hansen sieht kurz und bestimmt zu seiner jungen Kollegin, um sie von weiteren Äußerungen abzuhalten. »Wo können wir Frau von Grüning denn nun finden?«
»Anna ist im Klappholttal, Akademie am Meer, Hütte Westwind, direkt am Strandübergang«, antwortet Florian.
»Vielen Dank, Herr van Buren. Sie haben uns sehr geholfen«, lobt Hansen ihn. »Eine Frage hätte ich noch. Wo waren Sie, na, sagen wir, gestern zwischen 15.00 Uhr und 5.30 Uhr heute morgen? Reine Routine.«
Florian überlegt für Wienke wieder eine Spur zu lang, und antwortet dann:
»Um 15.00 Uhr endete meine Surfstunde für Kids hier in der Bucht. Bis die alle ihr Zeug zusammengerafft hatten und ich zuschließen konnte, war es so 15.45 Uhr. Um 16.00 Uhr war ich mit Anna in ihrer Hütte verabredet. Ich war ein paar Minuten zu spät bei ihr, aber dann haben wir den ganzen Nachmittag, den Abend und die Nacht zusammen verbracht. Wir haben um 9.00 Uhr noch im Uthland, dem Speisesaal der Akademie, zusammen gefrühstückt. Danach bin ich in meine Wohnung gefahren«, berichtet Florian und scheint erfreut zu sein, den geforderten Zeitraum lückenlos belegen zu können.
»Danke, Herr van Buren«, mischt sich Wienke jetzt wieder ein. »Wo können wir Sie denn heute Nachmittag erreichen, wenn wir noch Fragen haben sollten?«
»Ich werde bis 15.00 Uhr wohl hier sein, danach am Strand von Hörnum, anschließend bin ich zu Hause. Rufen Sie mich einfach an«, schießt es aus Florian heraus, der froh zu sein scheint, die beiden nun endlich los zu sein.
»Die Villa ist ’ne Holzhütte«, amüsiert sich Hansen im Auto. »Ich fasse es nicht. Da könnte die sich wohl in jede Suite auf der Insel einmieten – wahrscheinlich hätte der liebende, gehörnte Ehemann ihr sogar ’ne Villa in Kampen gekauft – und die übernachtet so spartanisch. Ich dachte bisher, ins Klappholttal zieht es nur Spinner oder Menschen, die sich nichts anderes leisten können. Unglaublich.«
»Ach, Chef, Sie haben echt keine Ahnung. Vom Leben nicht und von Frauen ja erst recht nicht«, freut sich Wienke über ihren zweiten Punktgewinn heute gegen Hansen. »Es gibt Menschen, für die ist eine Woche dort der reinste Luxus. ›Analog‹ ist das neue ›Bio‹, schon gehört? ›Achtsamkeit‹ heißt das neue Schlagwort. Zu sich finden, das geht doch da wohl am besten. Alles Neuland für Sie, Chef?«, macht sich Wienke jetzt ein wenig lustig über Hansen, der das geflissentlich überhört und ein neues Thema beginnt.
»Wenn wir die von Grüning in ihrer Hüttenvilla antreffen, Wienke, dann erzählst du ihr am besten vom Tod ihres Mannes. So von Frau zu Frau. Okay?« Es ärgert Wienke zwar, dass Hansen sich vor schwierigen Gesprächen drückt, aber ein wenig freut es sie auch, sich wieder beweisen zu können. Wienke versäumt es dann auch nie, dem »lieben Roman im Landeskriminalamt in Kiel« von ihren Fähigkeiten und so nebenbei auch von Hansens Unzulänglichkeiten zu erzählen. Mit dem Polizeioberrat Doktor Roman Sattler, dem von Hansen wegen seiner in den Befehlston abgleitenden Launen so verabscheuten Vorgesetzten, verbindet Wienke eine gewisse Vertrautheit, seit sie eine Bildungsurlaubswoche »Yoga im Polizeialltag« zusammen belegt haben. Er ist wie Hansen 49 Jahre alt, wirkt aber sehr förmlich.
An der Rezeption der Akademie am Meer herrscht großer Trubel. »Pardon, aber heute ist großer Anreisetag. 150 Ornithologen flattern ein«, entschuldigt sich Enna in vertrautem Ton bei der ihr vertrauten Wienke. »Also, nicht dass wir 150 ankommende Gäste nicht bewältigen würden, ganz im Gegenteil. Aber – O r n i t h o l o g e n.« Enna scheint das Wort zu buchstabieren. »Die sind schon etwas besonders. Aber alle auf ihre Art auch wieder total liebenswert«, ergänzt Enna schnell. »Also, was kann ich für euch tun?«, flötet sie beschwingt.
»Wir würden gern mit Anna von Grüning sprechen. Sie ist doch euer Gast, oder?«, fragt Wienke bewusst neutral. »Ach, die Anna, die Arme. Dass ihr jetzt nach ihr fragt, verheißt ja auch nichts Gutes«, fährt es aus Enna heraus. Wienke legt ihre Hand auf Ennas Schulter und flüstert: »Na, Enna, dann erzähl doch mal.«
»Seit bestimmt zehn Jahren kommt sie zu uns, so alle zwei bis drei Monate. Sie sucht sich immer irgendwelche Yoga- und Meditationskurse aus. Manchmal auch Mal- oder Singworkshops. Als Alibi hat sie ihre Arbeit. Sie macht was mit Internet für das Hotel Fährmann. Aber das könnte sie bestimmt auch von zu Hause aus. Sie bucht immer ein Doppelzimmer, und sobald wir ab April unsere Hütten in den Dünen vermieten, nimmt sie die Westwind-Hütte. Die Nächte verbringt sie meistens mit ihrem Florian, einem Surflehrer aus Munkmarsch. Wir wissen hier alle, dass sie verheiratet ist, aber wir machen da weiter kein Buhei von. Das ist einfach so. Seit Jahren. Seit gestern ist sie wieder hier.« Enna unterbricht ihren Redefluss kurz und seufzt. »Da machte sie mir gar keinen guten Eindruck. Jetzt habe ich so viel gequasselt, weshalb seid ihr eigentlich hier?«
»Das können wir dir noch nicht verraten, Enna. Aber zeig uns doch erst mal, wo wir ihre Hütte finden«, antwortet Wienke.
»Ich bring euch schnell hin. So viel Zeit muss sein«, sagt Enna.
Anna von Grüning sitzt im Sonnenschein vor ihrer kleinen Holzhütte. Sie umklammert einen leeren Becher mit beiden Händen und blickt gedankenverloren in die Dünen. Enna räuspert sich. »Anna, du hast Besuch. Hier sind zwei …«
Wienke unterbricht sie.
»Guten Tag, Frau von Grüning. Ich bin Wienke Sondermann, das hier ist mein Kollege Henry Hansen. Wir sind von der Polizei und würden gerne mit Ihnen reden. Dürfen wir uns kurz zu Ihnen setzen?«
Anna starrt Wienke entsetzt an. »Ähm, ja natürlich.«
Wienke atmet tief, wendet sich Anna direkt zu und beginnt:
»Frau von Grüning, wir haben eine schlimme Nachricht für Sie. Ihr Mann ist tot. Ein Jogger fand ihn heute Morgen um 6.05 Uhr in einem Strandkorb nahe der Buhne 16. Mehr wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht.«
Anna sackt in sich zusammen. »Hat er sich umgebracht?«, flüstert sie kaum hörbar.
»Es tut uns leid, Frau von Grüning, aber zu den Umständen wissen wir noch gar nichts. Aber darf ich fragen, wie Sie auf den Gedanken kommen?«
Schluchzend beginnt Anna zu erzählen: »Ich bin schuld. Oh mein Gott, wie konnte ich nur so egoistisch sein. Ich …«, stockt sie kurz, »ich betrüge meinen Mann seit Jahren. Freitagabend habe ich es ihm endlich gestanden, ich sprach von Scheidung. Samstag bin ich dann früh zum Bahnhof. Ich dachte, eine Woche, in der jeder in Ruhe nachdenken kann, würde …« Tränen überströmen Annas Gesicht, der Satz bleibt unvollendet.
Wienke legt mitfühlend eine Hand auf Annas Schulter. »Ja, lassen Sie Ihre Tränen ruhig laufen, Frau von Grüning. Aber machen Sie sich keine Vorwürfe. Noch wissen wir ja gar nichts.«
In dem Moment kommt Enna um die Ecke. »Eure Kollegin Merle rief in der Rezeption an. Eure Handys haben hier ja keinen Empfang. Sie sagt, ihr sollt möglichst schnell in die Strandperle kommen.«
Hansen überlegt kurz und wendet sich zu Wienke.
»Bleib du doch noch hier und kümmere dich um Frau von Grüning, ich fahre zu Merle.«
Aufgeregt empfängt Merle ihren Chef im weitläufigen Foyer der Strandperle. »Die Spurensicherung ist im Zimmer des Opfers oben fertig. Ich muss Ihnen da was zeigen«, sprudelt es aus ihr heraus.
»Thomas Huber, der Tote, der hatte offensichtlich Morddrohungen erhalten von jemandem, der sich in so ’ner Insolvenzgeschichte betrogen fühlt. Polizeilich gemeldet hat er aber nichts. Das habe ich schon gecheckt. Aber eine Detektei hat er eingeschaltet. Hier, sehen Sie sich die E-Mails auf dem Laptop an.« Merle dreht das Gerät zu Hansen, zeigt auf den Bildschirm und sagt: »Ab hier wird es interessant.«
Hansen liest den Abschnitt laut vor: »Die zusammengeklebten Zeitungsschnipsel deuten auf ein eher ungeplantes Vorgehen hin. Die ausgeschnittenen Wörter kommen alle aus Bild der Woche. Wir gehen davon aus, dass da ein Anleger nur mal seinen Frust loswerden wollte. Lassen Sie uns wissen, falls Sie doch noch weitere Drohungen erhalten.
Zu Ihrem zweiten Fall haben wir auch bereits ein erstes Zwischenergebnis und den ›schwarzen Fleck‹, wie Sie ihn sich wünschten, gefunden. Florian van Buren konsumiert regelmäßig Cannabis. Weitere Untersuchungen lassen vermuten, dass er damit auch einen regen Handel betreibt. Wöchentlich Flüge von Hamburg nach Amsterdam, immer nur für einen Tag, deuten darauf hin. Unser Büro in Holland verfolgt die Spur weiter. Die exklusive Mietwohnung mit 2.000 Euro Kaltmiete ist mit ein bisschen Surfen und Kopfstandmachen kaum finanzierbar. Wir forschen noch nach anderen Geldquellen und melden uns dann wieder.«
Hansen blickt von der E-Mail hoch.
»Wow, das ist ja der Hammer, Merle. Von wann ist das?«
»Letzten Sonntag wurde die Nachricht abgeschickt. Dass der Florian mal ’nen Joint raucht, habe ich irgendwie vermutet, aber Drogenhändler? Das glaube ich nicht.«
»Ach Merle, du wirst noch viele Überraschungen in deiner Karriere erleben – leider«, seufzt Hansen. »Den knöpfe ich mir am besten gleich noch mal vor. Ich hole nur vorher noch Wienke aus dem Klappholttal ab. Fahr du doch zurück ins Büro und setze dich mit den Kollegen in Hamburg in Verbindung. Die sollen mal die Wohnung in Augenschein nehmen und die Mitarbeiter der Kanzlei befragen. Vielleicht kannst du ja bei Hein vorbeifahren und uns drei Burger holen. Du hast doch sicher noch nichts gegessen und Wienke hat bestimmt auch Hunger. Ich lad euch ein. Ich nehm den mit Lachs, Erdbeeren und Pfirsich und falls die Erdbeeren nicht frisch sind, den Dry-Aged-Beef-Burger. Und für Wienke kannst du mit dem vegetarischen Cajun-Burger nichts falsch machen, oder? Hast du eigentlich den Typen aus der Touristinformation gesprochen?«
»Nee, der hat sich heute Morgen krank gemeldet. Ich wollte ihn jetzt mal zu Hause aufsuchen. Ist das okay, Chef?«, fragt Merle ihren Chef Hansen, während sie schon auf dem Weg zum Parkplatz ist. Sie hört ein »Ja!«.
»Die von Grüning hat mir am Ende ihr ganzes Herz ausgeschüttet. Der Florian will gar keine gemeinsame Zukunft mit ihr, war total sauer, dass sie sich scheiden lassen will, weil sie dann nämlich nicht einen Cent von ihrem Mann bekommt – wegen Gütertrennung. Sie haben dann wohl den ganzen Abend und die halbe Nacht geredet und Florian war dann plötzlich ganz begeistert von einer gemeinsamen Zukunft und doch irgendwie einverstanden. Aber sie ist trotzdem total fertig, dass es ihm nur ums Geld geht«, platzt es aus Wienke heraus, als Hansen sie abholt. Er erzählt ihr dafür:
»Und besagter Florian raucht gerne mal einen Joint, vielleicht handelt er sogar mit dem Zeug. Auf jeden Fall kann der seinen Lebensstil und die teure Mietwohnung mit Surfen und Turnen am Strand bestimmt nicht finanzieren.«
Dann fragt er Wienke, weil er meint, dass sie sich mit Trennungen auskennt: »Wie ist denn das bei Gütertrennung eigentlich, erbt die von Grüning überhaupt was?«
»Ja klar«, sagt Wienke, »die Ehe ist ja kinderlos, da wird sie wohl Alleinerbin sein. Es sei denn, es gibt ein Testament oder Kinder aus anderen Ehen. Selbst dann hätte sie ihren Pflichtteil sicher.«
Es ist schon 19.00 Uhr, als sich alle wieder in Hansens Büro zur Lagebesprechung treffen. Merle stellt die Burger auf den Tisch, auf die sich alle sofort stürzen. »Mann o Mann, die sind ja echt genial«, lobt Hansen und klopft sich genießerisch auf den Bauch, dann wischt er sich mit dem Handrücken über die Lippen. Selbst Wienke, die sonst eher auf leichte asiatische Küche steht, ist von ihrem Veggie-Burger begeistert.
»Dem coolen Surfer nutzt also ein toter Ehemann mehr als ein geschiedener«, wirft Hansen eine gewagte Vermutung in den Raum.
»Na ja«, entgegnet Wienke, »die von Grüning sagt aber auch, dass sie gestern von 16.00 Uhr an bis heute 9.00 Uhr die ganze Zeit mit Florian zusammen gewesen ist.«
»Vielleicht stecken die ja auch unter einer Decke. Auf jeden Fall stinkt das doch zum Himmel«, spielt Hansen auf seinen guten Spürsinn an.
»Mädels, heute kommen wir nicht mehr weiter. Lasst uns Schluss machen, der Tag war lang genug. Lust auf einen Feierabendchampagner? Ich lade euch ein!«
»Cool!«, entfährt es Merle. »Ich bin dabei. Und du, Wienke?«
»Ja, klasse, mein Babysitter ist noch bis 20.00 Uhr da. Wieder ins syltstar? Dann habe ich es auch nicht so weit und kann zu Fuß gehen.«
Ninjutsu
Hansen ist sprachlos. Was würden wir nur ohne diese junge Polizistin und ihr Netzwerk machen?, geht es ihm kurz durch den Kopf. »Also dann, her mit dem Typen aufs Revier.«
»Herr Tietgen, Sie haben ja vorgestern den Herrn Thomas Huber in der Strandperle eingebucht, wollen sich aber nicht mehr an den Gast erinnern. Wir haben aber Grund zu der Annahme, dass Sie diesen Herrn am selben Abend um 19.30 Uhr vor der Strandperle getroffen haben und mit diesem dann zum Strand gegangen sind«, konfrontiert Hansen den wirklich kleinen Mann mit seiner Vermutung.
»Nein, ich bin gestern um 17.00 Uhr nach Dienstschluss direkt nach Hause gefahren. Mir ging es nicht gut und ich habe mich gleich ins Bett gelegt, meine Frau kann das bezeugen. Heute Morgen hatte ich aber immer noch Kopfschmerzen und habe mich deshalb ja auch krankgemeldet«, trägt Tietgen teilnahmslos eine scheinbar vorformulierte Antwort vor.
»So, so, Kopfschmerzen. Haben Sie die vielleicht eher von einer Schlägerei mit Herrn Huber? Und haben Sie da vielleicht ein wenig zu doll zugeschlagen? So als erfahrener Kampfsportler sollte Ihnen das ja nicht schwerfallen«, mischt sich Merle in das Gespräch ein.
Tietgen wird wieder ganz blass, so wie gestern in seiner Wohnung, und schweigt.
Hansen unterbricht das Schweigen: »Herr Tietgen, machen Sie es sich doch nicht unnötig schwer. Sie wurden eindeutig erkannt gestern Abend«, blufft Hansen. »Also, was wollten Sie von Herrn Huber? Und ich weise Sie schon mal darauf hin, dass es Ihnen nach dem Gesetz freisteht, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Sie können außerdem zuvor und jederzeit einen von Ihnen zu wählenden Verteidiger befragen sowie einzelne Beweiserhebungen zu Ihrer Entlastung beantragen«, trägt Hansen den Spruch vor, den er im Schlaf aufsagen kann.
»Ich brauche keinen Anwalt. Der Halsabschneider hat selber Schuld. Als der im Kaamp-Hüs 5 vor mir stand und ich dann den Namen dazu las, wusste ich sofort, wer das ist. 30.000 Euro habe ich bei so ’ner Windfirma angelegt, ›Windreichtum‹ heißen die. Angelegt ist übertrieben – in den Wind geschossen. Sieben Prozent Rendite haben die mir versprochen. Dass auch alles weg sein kann, davon war nie die Rede. Ich meine, Wind, also, der weht doch immer. Wie blöd muss die Geschäftsleitung sein, damit pleitezugehen? Aber pleite sind die ja auch gar nicht, die Firma macht einfach weiter wie bisher, nur mit anderem Namen. Nur die Ersparnisse der kleinen Leute, die die eingesammelt haben, die sind weg. Dass so was in Deutschland zulässig ist, werde ich nie begreifen!«, redet sich Tietgen in Rage. »Meine Frau macht mir seitdem das Leben zur Hölle. Und der feine Insolvenzverwalter, dieser Pinkel, brüstet sich mit seiner ›sozialen Sanierung‹, weil fast alle Arbeitsplätze erhalten geblieben sind, inklusive die der unfähigen Geschäftsführung. ›Windreichtum‹ hieß wohl eher Reichtum für die Abzocker. So ein Insolvenzverwalter steckt sich doch erst einmal selbst die Taschen voll. Ich wollte dem nur mal ordentlich meine Meinung sagen, diesem Huber, und bin nach Dienstschluss zum Hotel gefahren. Da habe ich gewartet, dass er irgendwann das Hotel verlässt. Er ging Richtung Strand, ich tat so, als ob ich auch gerade runter zum Wasser wollte, und begleitete ihn. Unten am Steg habe ich ihn dann gefragt, wie man sich so fühlt, wenn man Hunderte Kleinanleger um ihre Ersparnisse bringt, und ob man noch ruhig schlafen kann. Der hat mich aber ganz abschätzig angeraunzt, dass ich ihn zufrieden lassen solle und er gerade ganz andere Sorgen habe als so ein paar Kröten. Da ist mir der Kragen geplatzt. ›So ein paar Kröten‹ – und ich habe ihn mir vorgeknöpft. Angeschrien habe ich ihn. Aber er hat nur gelacht. Dann habe ich zugeschlagen. Erst hierhin …«, Tietgen zeigt auf den Punkt zwischen den Augenbrauen, »und dann dahin. Auf den linken unteren Rippenbogen. Der war sofort bewusstlos. Da habe ich ihn in einen Strandkorb gesetzt, der direkt hinter uns stand. Kann ich doch nicht ahnen, dass der gleich tot ist. Dieses Weichei.«
Hansen ist erleichtert. »Damit ist der Fall wohl gelöst. Festnehmen!«, sagt er nur. Zwar wehrt sich Tietgen zunächst, aber ihm wird rasch klar, dass seine Erklärungen einem Geständnis gleichkommen. Doch erst sechs Monate später ist der Fall dann wirklich abgeschlossen: Merle betritt triumphierend das Büro von Hansen und hält ihm die aktuelle Ausgabe der Sylter Nachrichten vor die Nase. »Hier, Chef, so viel zu meinem Glauben und Ihrer Nase!«
Hansen überfliegt die kurze Meldung: »Verfahren gegen Sylter Surflehrer eingestellt. Der Prozess gegen den Surflehrer Florian v. B., der wegen Drogenhandels angeklagt war, ist gestern im Amtsgericht von Niebüll eingestellt worden. Es gebe erhebliche Schwierigkeiten in der Beweislage, sagte Richterin Gesa Geerdsen während der Urteilsverkündung. Eine ganze Menge belaste ihn, so die Richterin, aber es bestünden zu viele offene Fragen. Deshalb sei im Zweifel für den Angeklagten entschieden worden, sagt sie.«
»Na ja, Merle«, fügt Hansen an, »ein Freispruch sieht anders aus.« Aber die Kollegen, die dann den Drogenfall übernommen haben, sind offenbar nicht viel weitergekommen. »Was macht eigentlich Anna von Grüning, weißt du was von ihr?«
Merle denkt kurz nach: »Ja, soweit ich weiß, kommt die nach wie vor in ihre Westwind-Hütte, ich hatte Enna mal gefragt, aber das mit dem Surflehrer, das hat sich erledigt.«