Titel
Widmung
Eins
Zwei
Drei
Vier
Artefakt
Verstrichene Zeit
Fünf
Sechs
Artefakt
Artefakt
Sieben
Acht
Brasilien
Los Angeles
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Artefakt
Sechzehn
Siebzehn
Artefakt
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Spielstand
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreissig
Einunddreissig
Zweiunddreissig
Dreiunddreissig
Zwei Jahre danach
Zwölf Jahre danach
Über den Autor
Impressum
MICHAEL GRANT
Aus dem Englischen
von Simon Weinert
Für Katherine, Jake und Julia
EINS
Als es anfing, aß Sandra Piper gerade mit Freunden zu Abend.
Bei einem Produzentenfreund in Malibu saß sie auf der Teakholzterrasse und kostete geeisten Hummer. Mit dabei waren eine ehemalige zweite Hauptrolle namens Wade Talon (in Sandras Augen ein lächerlicher Künstlername), ihr derzeitiger Regisseur Quentin (einen Nachnamen brauchte es nicht), eine ziemlich reiche und prachtvoll tätowierte Frau namens Lystra Reid, die die seltsame Angewohnheit hatte, an alle möglichen Sätze ein »Ja« anzuhängen, und ein außerordentlich durchtrainierter, großer und breitschultriger Mann, dessen Namen Sandra immer vergaß. Er hieß aber wohl Noble oder so ähnlich.
Andachtsvoll hörte Noble zu, während die berühmteren Leute am Tisch sich über ihre Arbeit und gemeinsame Freunde und noch mehr Arbeit unterhielten. Im Grunde drehte sich letztlich alles um die Arbeit.
Sandra war für den Oscar nominiert worden. Als »Beste Hauptdarstellerin«. Die Konkurrenz war hart. Ihre eigenen Chancen standen laut den Buchmachern mit sechs zu eins eher schlecht. Schlecht, aber nicht unmöglich. Und obwohl Sandra Piper Mutter von zwei Kindern war, mit ihren über dreißig Jahren mit beiden Beinen im Leben stand, einen Master in Volkswirtschaft hatte und nicht mehr als exakt zweimal Gras geraucht hatte und immer nur höchstens zwei Gläser Wein trank, zog sie in Erwägung, Mr Breitschulter zu verführen. Mr Verlegen-Grins. Mr Große-Aber-Zärtliche-Hände.
Denn er zeigte eindeutig Interesse, und sie war seit zwei Jahren geschieden und während der ganzen Zeit mit niemandem ausgegangen. Außerdem war sie erschöpft von den langen Tagen am Set. Dazu kam, dass ihr Sohn Quarle (drei Jahre alt) eben erst von einer heftigen zweiwöchigen Grippe genesen war.
Und was hatte sie schon davon, Amerikas Liebling zu sein, wenn sie nicht auch mal flachgelegt wurde? Würde ein männlicher Schauspieler in dieser Lage auch nur eine Sekunde zögern? Nun, manch einer vielleicht schon. Aber viele nicht. Warum also sollte sie zögern? Hatte Quentin Noble nicht gerade aus diesem Grund eingeladen … Nein, halt, jetzt erinnerte sie sich. Er hieß Nolan. Egal. War er nicht zu ihrem, ähm, Vergnügen hier?
Es sei denn. Oh, sollte er hier etwa mit dieser Lystra-Tussi aufgekreuzt sein? War er ihretwegen hier? Sie war eher in seinem Alter, zwar keine Schönheit, aber ansehnlich genug, wenn man bedachte, dass sie mit Hollywood nichts zu tun hatte, sondern im Gesundheitssektor Milliarden gescheffelt hatte.
Nein. Nein, der junge Mr Stahlkörper warf Lystra keine Blicke zu. Er warf der zukünftigen Oscar-Preisträgerin in der Kategorie »Beste Hauptdarstellerin« Blicke zu. Aha.
Doch mit einem Seufzen verpuffte die Fantasievorstellung, als würde man aus einem Ballon die Luft ablassen. Sie schüttelte den Kopf, ganz leicht, damit niemand es bemerkte, und atmete tief ein. Sie musste Quinn (sieben Jahre alt) bei ihrem bescheuerten Kalifornien-Missionsprojekt helfen, das ihre Tochter morgen abgeben musste.
Meine Güte, war sie langweilig. Langweilig und verantwortungsbewusst und ganz bestimmt Amerikas Liebling, aber wenn es darauf ankam, war sie vor allem Mutter.
Plötzlich zuckte ihre Hand, und sie stieß ihr Weinglas um. Der letzte Schluck Wein ergoss sich über das Holz, was niemanden aus der Ruhe brachte.
»Entschuldigt. Ich bin nur …«
Sandra runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Was ist los, Sandy?«, fragte Wade.
»Ich bin nur …« Wieder schüttelte sie den Kopf und zog die Brauen zusammen, obwohl sie davon Falten auf ihrer alterslosen Stirn bekommen würde. »Oh, mein Gott, habt ihr etwas in den Wein getan? Ich … ich sehe etwas.«
Nolan sah sie unter langen Wimpern hervor an, die sie an der Wange gekitzelt hätten (oder auch an anderen Stellen, wenn sie die Initiative ergriffen hätte), und fragte: »Fühlst du dich nicht wohl?«
»Es ist …« Sie lachte. »Das klingt verrückt. Es ist, als könnte ich etwas sehen, was gar nicht da ist. Ich bin …« Sie wandte den Blick von ihnen ab und sah auf den schwarzen Pazifik hinaus. Vielleicht war das, was sie sah, nur eine Spiegelung von den Weingläsern.
Aber nein. Es war immer noch da. Es war, als hätte sie ein zweites Augenpaar und als würden diese Augen in einem Winkel ihres Gesichtsfelds auf einen kleinen Fernsehbildschirm blicken.
»Ich sehe etwas wie, wie … ganz flach, aber krass.« Dann sog sie keuchend die Luft ein. »Oh, mein Gott, noch eins. Wie ein Fenster in meinem Kopf.«
»Vielleicht solltest du dich hinlegen«, schlug Nolan vor.
»Oder noch ein Glas Wein trinken«, sagte Quentin lachend. Doch jetzt sah auch er sie von der Seite an und wirkte besorgt.
»Es sind zwei … Oh! Oh! Oh! Da ist ein riesiges Insekt! Ich verliere den Verstand. Vielleicht habe ich einen Schlaganfall.«
»Ich rufe den Notarzt«, sagte Nolan und zog sein Handy heraus.
»Grundgütiger! Es ist ein großer Käfer. Ich kann ihn sehen. Er dreht sich um, er kommt auf mich zu … Oh, oh mein Gott, ich glaube, dass ich ihn bewege! Ich glaube, ich mache, dass er sich bewegt!«
Abrupt rückte sie vom Tisch ab. Gläser klirrten und kippten um. Wade sprang auf und ergriff ihren Arm, als sie von ihrem Stuhl aufsprang.
»Es hat Augen! Es hat Augen! Oh Gott, oh Gott! Mein Gesicht! Meine Augen! Das sind meine Augen!«
Sie schob Wade grob zur Seite. Erschrocken und beschämt über ihr Benehmen, setzte sie ein flüchtiges Lächeln auf und streckte beschwichtigend die Hand aus. »Ich glaube, ich brauche Hilfe«, sagte sie. »Ich gehe lieber mal zum Arzt.«
»Das wäre das Beste«, sagte Lystra Reid kühl, bevor sie, als wäre es ihr nachträglich eingefallen, hinzufügte: »Ja.« Sie stand auf und lehnte sich an das Geländer, von wo aus sie alles gleichmütig beobachtete.
Wenigstens machte sie kein Foto, um es nachher zu twittern.
»Der Notarzt ist unterwegs«, vermeldete Nolan.
Und Sandra dachte: Na, jetzt wird er bestimmt nicht mehr mit mir schlafen wollen. Doch der Gedanke kam und ging innerhalb eines Herzschlags, denn auf dem unheimlichen Bild im Bild in ihrem Kopf geschah etwas anderes. Sie sah einen fallenden Tropfen Flüssigkeit, der eine Million Liter umfassen musste. Er war weitaus größer als die furchtbaren Käfer, die ihr Gesicht, ihre Augen trugen. Diese Insektenalbträume, die sie mit ihren eigenen verdammten Augen anglotzten.
Der Tropfen landete. Die Flüssigkeit umspülte die beiden Käfer, hüllte sie ein. Und augenblicklich begann sie, die Insektenbeine zu zersetzen. Sie fraß Löcher in die Insektenpanzer, brannte ihnen die verzerrten Imitationen von Sandras eigenen Gesichtszügen aus den Köpfen. Wie alte Filmrollen, die im Projektor Blasen werfen, karamellisieren und sich auflösen.
Die Bilder in ihrem Kopf erloschen.
Sie waren so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren.
Sandra sah jetzt nur noch durch ihre eigenen Augen, sah nur noch, was wirklich war.
Sie lachte. »Ha, ha, ha, ha. Hahahahahahaha!«
Und dann schrie sie. »Ahhh! Aaaaahhhh! Ihr seid Teufel! Teufel!«
Nolan trat vor, um sie zu packen, denn sie kletterte umständlich auf den Tisch. Sie rutschte aus, schlug sich das Knie an der Kante, betrachtete das Blut und schrie, kreischte wie eine Wahnsinnige.
Dann schnappte sie sich ein Messer. Kein besonders großes, nur ein Tafelmesser mit Spitze und leichtem Sägeschliff. Damit stach sie Nolan in den kräftigen Bizeps.
Der muskulöse Mann schrie auf, was weiblicher klang, als man erwartet hätte.
»Ha! Ha, Teufel!«, kreischte Sandra, zufrieden und fasziniert vom Anblick des Blutes.
Wade und Quentin traten den Rückzug an und achteten darauf, dass der Tisch zwischen ihnen und der Frau war, die keine besonders guten Chancen hatte, den Oscar zu gewinnen.
In Sandras Augen jedoch wichen sie nicht vor ihr zurück, sondern kamen auf sie zu, mit gefletschten Reißzähnen, Krallenfingern und flüssigem Feuer, das ihnen aus den Augenhöhlen troff. Immer ging es um die Augen, sie waren dort, in den Augen, die Dämonen.
Sandra Piper drehte das Messer um und stieß es sich in den Bauch. Es ging nicht weit hinein. Zwar blutete die Wunde, aber es entstand nur ein münzgroßer Fleck.
»Hey, hey, hey!«, rief Quentin.
»Nein, nein, lass das, hör sofort auf!«, sagte Wade.
Nolan näherte sich erneut, um ihr das Messer aus der Hand zu nehmen, doch diesmal war er auf der Hut.
Sandra spuckte ihn an. »Ha!«, bellte sie und stieß sich das Messer ins Auge. Ins linke Auge. Als sie es herauszog, war es mit Blut und klebrigem Schleim verschmiert.
Schreckensschreie waren zu hören, und jetzt sah auch Sandra, dass sie zurückwichen, die Teufel. Es funktionierte. Ha! Flieht, Teufel, flieht!
Dann rammte sie sich das Messer ins andere Auge und schob es durch berstende Knochen bis zum Griff hinein. Dann drehte sie das Messer herum, als wolle sie ihr Gehirn verquirlen.
Ihre Knie knickten ein. Das Messer fiel ihr aus der Hand.
»Bescheuertes Missionsprojekt«, sagte sie. Dann fiel sie auf den Rücken, lachte und heulte, lachte und heulte. »Teufel! Teu…«
Schließlich nahm Lystra Reid ihr das Messer aus der Hand. Und sie legte eine Serviette über die blutigen Krater in Sandras Gesicht.
Nicht, dass Sandra es gesehen hätte.
ZWEI
Ihr Name war Sadie McLure. Sie hatte braunes Haar, eine langweilige Frisur und kluge, skeptisch blickende braune Augen, die je nach Beleuchtung golden oder sogar grün schimmerten. Wangen und Nase waren mit Sommersprossen gesprenkelt. Die hatte sie immer gehasst, denn mit ihnen ging immer das Wort »süß« einher, und sie wollte nicht, dass die Leute sie süß fanden. Süß war ein verniedlichendes Wort.
Die Sommersprossen unterhielten eine zweite Niederlassung auf ihrer Brust und kleinere Dependancen auf ihren Schultern. Im Moment waren fast all ihre Sommersprossen durch kräftige Sonnenbräune kaschiert.
Ihr Name war Sadie McLure, aber in gewissen Kreisen nannte sie sich Plath, nach der großen Dichterin, die sich auf tragische Weise das Leben genommen hatte.
Es war ihr Nom de Guerre. Ihr BZRK-Name. Der Name, der trotzig verkündete, dass die Zukunft für sie als Mitglied von BZRK nur zwei mögliche Schicksale bereithielt: Wahnsinn oder Tod.
Sie verfügte über Kapital in Milliardenhöhe. Sie verfügte ebenso über eine kleine, aber schlagkräftige Privatarmee in Form des Sicherheitspersonals von McLure Labs unter der Leitung eines gewissen Mr Stern. (Bestimmt hatte sie seinen Vornamen irgendwann einmal gehört, aber hängen geblieben waren bei ihr nur Mr und Stern.)
Sadie hatte schreckliche Dinge erlebt, oh ja. Als Plath hatte sie auch schreckliche Dinge getan, und ihr war Schreckliches angetan worden.
Sie war sechzehn Jahre alt.
Seit dem bizarren, schicksalhaften Tag, an dem das Puppenschiff den Hafen von Hongkong niedergebrannt hatte, war ein Monat vergangen. Ein Monat, seit die Präsidentin der Vereinigten Staaten sich vor laufender Kamera den Kopf weggepustet hatte, nachdem sie (zu Recht) des Mordes an ihrem Ehemann verdächtigt worden war.
Ein Monat, seit Sadie als Plath ihre Bioten in Vincents Hirn geschickt hatte, um den durch den Tod seiner Bioten hervorgerufenen Wahnsinn mit Säure wegzuätzen.
Der große Vorteil von Bioten gegenüber ihren mechanischen Konkurrenten, den Nanobots, war die besonders enge Verbindung zwischen Twitcher und Biot. Das war gleichzeitig aber auch der größte Nachteil. Denn durch die enge Bindung zwischen Schöpfer und Geschöpf führte der Verlust eines Biots in einen Strudel aus Wahnsinn.
Vincent war in diesen Strudel geraten, nachdem er einen seiner Bioten verloren hatte und der andere verletzt worden war.
Sadies verzweifelter Wunsch, Vincent zu retten, hatte sie zu der verbissenen Mission veranlasst, Teile seines Gehirns abzuätzen. Aber im Augenblick war dieser schreckliche Tag vor einem Monat verdrängt, wenn nicht gar vergessen, und Sadie tat etwas, was alles andere als schrecklich war. Sie lag unter Palmen auf einem weißen Sandstrand. Vor ihr, auf einer Bastmatte, wie die Einheimischen sie benutzten, war ein Picknick ausgebreitet. Es gab kaltes Brathähnchen, kalten Hummer und eine Schüssel mit vanillierten Früchten, wie man sie hier auf Madagaskar zubereitete.
Es gab auch eine Flasche Weißwein, die inzwischen leer war, und eine Flasche Wodka, die nur zum Teil leer war.
Und es gab einen Jungen.
Er war wie Sadie nackt. Sein Name war Noah, doch benutzte er wie Sadie manchmal einen Nom de Guerre: Keats.
Ob sie nun Plath und Keats oder Sadie und Noah waren, sie lag auf ihm, und er war in ihr. Sie grinsten beide, denn die Asche des Joints in Sadies Mund war auf Noahs Nasenspitze gelandet, und als sie sie wegblasen wollte, musste er niesen. Das fanden sie beide lustig, also lachten sie. Und diese Bauchdeckenbewegung löste interessante Nebeneffekte aus.
»Lach noch mal«, sagte Noah.
»Noch nicht«, sagte Sadie.
»Du quälst mich.«
»Ich lehre dich Ausdauer«, sagte sie mit schwerer Zunge.
»Ich stehe am Rand einer Klippe«, sagte er, und als er die Augen schloss, bekam sein Lächeln etwas Träumerisches. »Wenn du lachst … oder sonst eine Bewegung machst … oder auch nur tief einatmest, dann falle ich … mmmm … von … der Klippe.«
»Du nimmst eine Klippe als Metapher?«, fragte sie und musste kichern.
Mehr brauchte es nicht.
Sie betrachtete sein Gesicht, während er sich aufbäumte, zuckte und bebte und schließlich wieder erschlaffte. In den ersten Sekunden wirkten seine Züge eher tierisch als menschlich, und die Geräusche, die er von sich gab, waren eindeutig keine geistreichen Scherze. Noch nicht einmal halb besoffene und bekiffte Scherze. Dann aber wurde sein wilder Blick sanfter, bis er einem jener Heiligen auf irgendwelchen Renaissancegemälden glich.
Und dann lachte auch er.
Und er machte die tiefblauen Augen auf und sagte: »Geh noch nicht.«
Er blieb in ihr, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Denn er war auch in ihrem Kopf, und das nicht nur metaphorisch. Als ein winziges Geschöpf, kleiner als der Punkt hinter einem Satz – ein Geschöpf aus einem exotischen DNA-Gebräu, das unter anderem Noahs Erbgut beinhaltete –, saß er tief in Sadies Gehirn. Es war ein Biot. Einer von Noahs Bioten, denn Bioten gehörten unumstößlich zu ihren Schöpfern. Er trug die Bezeichnung K2. Keats 2. Sein anderer Biot, K1, schwamm in einer winzigen Ampulle, die in der zugeknöpften Tasche seiner Shorts steckte, die … er sah sich um … irgendwo dort drüben lag.
K2s Job bestand darin, das zerbrechliche Geflecht, das sorgfältig um eine Schwellung einer Arterie in Sadies Gehirn gesponnen war, aufrechtzuerhalten. Gut möglich, dass das Aneurysma nicht platzen würde, wenn man nichts unternahm. Genauso gut konnte es aber auch jeden Augenblick platzen, was für Sadie ziemlich sicher das Todesurteil bedeuten würde, und ihr Tod würde sich womöglich über mehrere qualvolle Stunden hinziehen.
Den letzten Monat hatte Noah fast pausenlos daran gearbeitet, die Teflonhülle um die tödliche Schwellung herum zu verstärken. Es war eine mühsame Arbeit. Die Fasern mussten durch Sadies Auge hinein und dann den Sehnerv hinabtransportiert, schließlich über die sumpfigen Hügel und durch die tiefen Täler ihres Gehirns geschleppt werden. Für einen Biot ein ziemlich weiter Weg. Am Ende musste man die Fasern behutsam verweben. Wie beim Korbflechten.
Während des ganzen Vorgangs hatte Noah eine Art Bild im Bild vor Augen, ein unscharfes Bild mit künstlich verstärkten Farben. Es war wie in einem Film mit 3D-Effekten, aber mit ganz flachen Farben ohne Übergänge und durch eine schmutzige Linse gefilmt.
Noah hatte einen Grad der Vertrautheit mit Sadie, der für Menschen, die sich nicht drunten im Fleisch bewegten, unvorstellbar war. Wenn sie erregt wurde, spürte er, wie die Arterie unter den sechs Füßen seines Biots schneller und kräftiger pumpte.
Aber er hatte nicht nur die relativ eintönige, von Flüssigkeit eingeschlossene Oberfläche ihrer Hirnzellen aus der Nähe gesehen. Im Verlauf mehrerer verzweifelter Einsätze war er auch über ihre Augen, ihre Lippen, ihre Zunge gekrochen.
Sie küsste ihn auf den Mund, dann neben den Mund und dann auf den Hals. Dann rollte sie sich von ihm herunter auf die Decke und betrachtete das Essen.
»Du bist nicht …«, sagte er.
»Nein.« Sie bemühte sich, den richtigen Tonfall zu treffen. Unbekümmert, aber nicht gleichgültig. Lässig, als käme es nicht so sehr darauf an. Dann versuchte sie es mit einem aufreizenden Schnurren. »Aber ich fand jeden einzelnen Augenblick toll. Es kommt nicht nur darauf an, weißt du?«
»Nicht?«, fragte er, um witzig zu sein.
»Willst du ein bisschen Hummer?«, fragte sie, um ihn abzulenken. Sie redete nicht gern über Sex. Die Wirkung von Gras und Wein ließ langsam nach, und sie fühlte sich müde und fertig. Ziemlich bald würde sie stinkig werden, wenn sie es zuließ.
Ein paar Dinge nervten sie gerade. Lenkten sie ab. Am liebsten hätte sie sie weiter verdrängt, aber Selbstmedikation hatte ihre Grenzen, und all die quälenden Sorgen würden später umso schlimmer und öfter wieder hochkommen. Einen Monat lang hatte sie das alles verdrängt, und nun drängte es wieder zurück.
»Ich will auf jeden Fall Hummer, ganz sicher«, sagte Noah.
»Dann hüpf mal da rüber und hol uns welchen.«
Er seufzte. »Immer das Gleiche mit dir. Zieh mich aus, liebe mich, füttere mich mit Hummer. Du bist so fordernd.« Er stand auf, und sie sah, dass sein fester, schlanker Hintern voller Sand war. Sie streckte sich auf dem Rücken aus, legte eine Hand unter den Kopf und genoss den Anblick, wie auch die Aussicht dahinter. Sie befanden sich in einer abgelegenen Lagune am westlichen Rand der Insel. Gegenüber sah man in fünfzehn Kilometern Entfernung die weit größere Insel Madagaskar als grünen Dunststreifen.
Einen knappen Kilometer weiter südlich und nördlich waren Bewaffnete positioniert – Männer in modischen weißen Hemden von Tommy Bahama mit Automatikgewehren –, die sie vor allem beschützten, was ihre Zweisamkeit hätte stören können. Hinter einer Felsspitze, gleich außer Sichtweite, dümpelte eine Jacht in den sanften Wellen und überwachte die Gegend über Radar.
Noah brachte ihr auf einem kleinen Porzellanteller Hummerstücke.
»Wir haben keinen Wein mehr.«
»Gut. Ist sowieso Zeit, wieder nüchtern zu werden.«
»Wirklich?«, fragte er. »Warum?«
Sie setzte sich auf und griff nach ihrem T-Shirt. Er hielt sie davon ab, indem er sie küsste und zärtlich über ihre Brüste strich, als wolle er sich von ihnen verabschieden. »Ich mag die«, sagte er.
»Das habe ich mir fast gedacht. Kann ich jetzt mein Hemd anziehen?«
»Ich denke schon.« Auch er begann, sich anzuziehen – Shorts, ein T-Shirt und Sandalen. Er streckte ihr die Hand hin und zog sie hoch.
»Ich ruf unser Taxi«, sagte Sadie. Sie drückte auf die Sprechtaste eines Handfunkgeräts. So weit oben auf der Insel gab es keinen Handyempfang.
Fünf Minuten später, als sie das Picknick zusammenpackten, bog ein glitzerndes weißes Kabinenboot um die Felsspitze.
Der Kapitän ließ zweimal das Horn tröten, und dann flog das Boot in die Luft.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Knall der Explosion zu ihnen drang. Und es dauerte noch länger, bis die Trümmer ins Wasser stürzten.
Und mit einem Mal waren Sadie und Noah wieder Plath und Keats und rannten los, ohne einen Gedanken an das Essen und die Decke zu verschwenden. Von Norden und Süden näherten sich die Sicherheitsleute von McLure, die Gewehre im Anschlag, und riefen: »In Deckung, in Deckung!«
Das Boot brannte eine Weile aus – es war undenkbar, dass jemand überlebt hatte – und versank dann in den sanften Wellen, die eine ähnliche Farbe hatten wie Noahs Augen. Die schwarze Rauchsäule erstickte. Ein letzter schwarzer Fleck stieg auf, bis er von der Brise erfasst und über die Insel davongetrieben wurde.
Der Urlaub war vorbei. Der Krieg um die menschliche Existenz ging weiter.
DREI
Das Schiff kippte immer schneller, da sich die Gewichtsverteilung entscheidend geändert hatte. Es schlingerte nach Backbord, sodass die Flamme mehrere Dutzend Meter nach oben schoss.
Im Inneren Benjaminias ging es zu wie in einem Schlachthof – tote Soldaten und weit mehr tote Bewohner hingen von blutigen Stegen herab. Die Kugel drehte sich um ihre Achse, Böden wurden zu Wänden. Leichen flogen durch die Luft.
Wie die Trommel eines Wäschetrockners drehte sich die Kugel weiter, die Leute klammerten sich verzweifelt fest, stürzten schreiend ab und klatschten gegen das Deckengemälde der Großen Seelen.
Durch die Öffnung schoss Wasser herein.
Der Flammenwerfer tauchte ab, erlosch aber nicht unter Wasser, sondern verwandelte es in Dampf. Das Puppenschiff sank und kam auf dem Hafenboden zur Ruhe.
Nachdem das Puppenschiff gesunken war, waren die Armstrong-Zwillinge in Hongkongs Hafen Victoria Harbour getrieben.
Sie konnten nicht schwimmen. Mit einiger Anstrengung brachten sie es fertig, zu gehen, indem sie das nutzlose dritte Bein hinter sich herschleiften. Aber schwimmen?
Ling hatte ihnen das Leben gerettet, die kleine, steinalte und vogelhafte Ling. Sie hatte ihnen das Kinn über das dreckige Wasser gehalten und mit den Beinen gestrampelt. Mehrmals war sie dabei selber untergegangen. Keuchend war sie wieder aufgetaucht und hatte Salzwasser geschluckt, gehustet und gewürgt. Trotzdem hatte sie weiter Wasser getreten, bis ein Fischerboot ihnen zu Hilfe gekommen war.
Sie würden einen Weg finden, Ling dafür zu belohnen, das hatten die Zwillinge sich geschworen. Sie hatte ihnen das Leben gerettet und war dabei fast selbst draufgegangen.
Die Armstrong-Zwillinge hatten sich von Victoria Harbour nach Vietnam aufgemacht, wo sie als Investoren in einige Projekte involviert waren und eine kleine, aber nützliche Anzahl von Regierungsbeamten in der Tasche hatten. Von dort waren sie nach Malaysia weitergezogen, in den Bundesstaat Sarawak auf der Insel Borneo.
Die dortige Armstrong-Niederlassung war an der Förderung Seltener Erden beteiligt. Und sie betrieb Holzwirtschaft, allerdings sehr umweltfreundlich mit Wiederaufforstungsprogrammen und dem ganzen Kram. Was immer nötig war, um neugierige Blicke zu vermeiden. Die Armstrongs waren aus reinem Eigennutz rechtschaffene Unternehmer und Bürger.
Doch diese Niederlassung diente nicht nur dem Mineralien- oder Holzhandel. Sie bestand aus drei Teilen: zwei identischen, halbmondförmigen Gebäuden, die ein längliches Oval umschlossen, in dem sich ein bezaubernder tropischer Garten befand, eine Art kultivierte Version des Regenwaldes.
Dort wuchsen Bäume und Blumen, es flossen Bäche voller Fische und Wasservögel, rosafarbene Kieswege führten an Bänken und Ruhebereichen vorbei, wo die Büroangestellten ihr Mittagessen im Freien einnehmen konnten.
An der Spitze des Ovals stand ein plumper Turm, der die beiden Halbmonde miteinander verband und mit einer Observationskuppel gekrönt war. Sie war mit einem eindrucksvollen Teleskop ausgestattet, das wegen der vollkommenen Dunkelheit in der umliegenden Wildnis besonders wirkungsvoll war.
Im Moment benutzte niemand das Teleskop, da es in Strömen regnete. Das geschah hier oft, und wenn es in Strömen regnete, dann war das mit nichts zu vergleichen, was Charles Armstrong aus New York kannte. Der Regen fiel nicht tropfen-, sondern kübelweise. Der Himmel besprengte Sarawak nicht, sondern schüttete Eimer, Badewannen und Swimming Pools darüber aus.
Charles beobachtete eine Eidechse, die an der Fensterseite der Kuppel hinaufkletterte und gegen den Wasserstrom ankämpfte. In Sarawak gab es Eidechsen. Es gab massenweise Eidechsen und Schlangen und Vögel.
»Ich hätte gedacht, dass der Regen sie runterspülen würde«, sagte Charles.
Sein Bruder, Benjamin, war weniger an der Eidechse oder am Regen interessiert, konnte sie aber dennoch sehen, denn es war den Zwillingen unmöglich, nicht in dieselbe Richtung zu blicken. Da ihre Augen unter der Kontrolle ihrer voneinander unabhängigen Gehirne standen, konnten sie diese hierhin und dorthin drehen. Aber sie besaßen keine zwei Köpfe, vielmehr waren ihre beiden Schädel miteinander verwachsen.
Dadurch hatten sie zwei Münder, eine Nase und drei Augen. Das mittlere Auge war ein bisschen kleiner als die beiden anderen und wirkte oft abwesend und glasig. Zwar funktionierte es, doch es wurde weder von Charles noch von Benjamin gelenkt. Vielmehr schien es seinen eigenen Kopf zu haben und seine Aufmerksamkeit nach eigenem Gutdünken auf Dinge zu richten, sodass plötzlich einer der Zwillinge eine schärfere Wahrnehmung hatte, aber niemals beide zugleich.
Die Zwillinge waren groß, hochgewachsen, doch vor allem breit, und auf ihren Schultern lastete das erstaunliche Gewicht ihres zweifachen Kopfes. Sie besaßen zwei nicht sonderlich muskulöse Arme und zwei voll ausgebildete Beine, dazu den Stummel eines dritten.
Im Moment saßen sie in einem umgebauten elektrischen Rollstuhl, der um einiges leistungsfähiger als ein herkömmlicher Rollstuhl war. Mit seinen roten Samtpolstern, den zwei seitlichen Abdeckungen, hinter denen sich wahrscheinlich Waffen verbargen, und Rädern, die mehr an eine Rennbahn als nach Krankenhaus erinnerten, wirkte er exotisch, ja fast schick. Trotz allem war und blieb er nichts weiter als ein Rollstuhl.
Das Observatorium war derzeit ihr gewöhnlicher Aufenthaltsort. Über eine Rampe gelangte man in ein Schlafzimmer und zu einem speziell ausgestatteten Bad. Das Schlafzimmer besaß jedoch nur normale Fenster. Ihr ganzes Leben hatten sie in geschlossenen Räumen verbracht, und sie sehnten sich nach der Offenheit des Observatoriums, selbst wenn sie nur Wasser sahen, das am Glas herunterlief, und eine Eidechse, die gegen die Flut ankämpfte.
»Eidechsen beobachten«, sagte Benjamin angewidert.
Seit das Puppenschiff gesunken war, litten sie beide an einer Depression. Das Puppenschiff war ihre Zuflucht gewesen, der Ort, zu dem sie in Gedanken zurückkehrten, wenn das Leben zu düster und der Stress zu mächtig wurde. Jetzt war er dahin. All diese armen Menschen, die die Zwillinge verehrt hatten, die in ihren Missbildungen Schönheit gesehen hatten, sie alle waren dahin.
»Fischfutter«, sagte Charles, denn er wusste, wo sein Bruder mit seinen Gedanken verweilte. »Und wir wissen immer noch nicht, wie es passiert ist.«
»Eine schwedische Spionin und ein englischer Admiral.«
»Aber wie?«
»Viele Fragen, Bruder.«
Sie drehten den Rollstuhl, bis sie auf einen großen Flachbildschirm blickten, der über einer Touchscreen-Tastatur hing. Der Bildschirm war in vierundzwanzig kleine Segmente aufgeteilt, und auf dreien liefen Nachrichtensender. Die restlichen zeigten Aufnahmen von Überwachungskameras. Ein leeres Zimmer mit Schreibtisch. Ein Pausenraum, in der eine Frau Kaffee machte. Ein Labor mit zwei Leuten in weißen Kitteln, die sich zu einer lautlosen Musik bewegten und etwas tippten. Die verwirrende Ansicht von etwas, was vielleicht ein Lager war.
Eins nach dem anderen schalteten die Bilder um und zeigten andere Orte. Jeden Winkel des Armstrong-Imperiums.
Zwar konnten sie alles beobachten, aber was konnten sie schon kontrollieren? Sie waren sich nicht einmal sicher, ob sie nach New York zurückkehren konnten. Selbst London war womöglich tabu.
»Wir verstecken uns wie Ratten vor eine Katze«, sagte Benjamin.
»Wenn schon, dann sind wir Füchse«, gab Charles zurück. Es sollte positiv klingen, und er wollte nicht daran denken, wie Fuchsjagden normalerweise endeten, wenn Hunde die in die Enge getriebenen Füchse zerrissen. »Computer: Lokalisiere Burnofsky.«
In der Bildschirmmitte erschien ein größeres Bild. Der Mann, den sie suchten, wandte ihnen den Rücken zu und beugte sich über die Anzeige eines Geräts.
»Da ist ja unser Karl«, sagte Charles mit harter Stimme.
»Unser?«
Charles seufzte. »Entweder er hat sich ein letztes Mal bewusstlos gesoffen und danach beschlossen, sein Leben zu ändern. Oder …«
»Oder BZRK hat ihn verdrahtet«, sagte Benjamin.
»Ling!«, bellte Charles. »Es ist Zeit fürs Abendessen, und mir ist nach einem Drink.«
Sie teilten sich einen Verdauungstrakt, obwohl sie zwei Münder hatten. Wenn einer Alkohol trinken wollte, mussten beide damit einverstanden sein. Oder wenn es ums Essen ging, wobei sie sich um gegenseitige Toleranz bemühten. Benjamin naschte gern mal eine Schüssel Knabberzeug, während Charles frisches Obst bevorzugte. Vor allem Aprikosen. Perfekte Aprikosen liebte er, aber es war nicht leicht, richtig gute zu bekommen.
»Ja, ein Drink«, sagte Benjamin. »Und vielleicht mehr als einen für jeden.«
Ling erschien und bewegte sich in einem Tempo und mit einer Gewandtheit, die ihr fortgeschrittenes Alter Lügen straften.
»Ah, unsere Freundin und Heldin, Ling. Ich hätte gern ein Glas Wein«, sagte Charles. »Am besten einen Cabernet.«
»Ich nehme einen Kognak«, sagte Benjamin. »Du weißt ja, welchen ich mag.«
Verdrossen betrachteten sie die Einzelbilder, die das zentrale Bild von Burnofsky umgaben und von mehreren Hundert Überwachungskameras gespeist wurden. Sie wechselten per Zufallsgenerator durch. Einmal sah man eine Frau beim Kopieren. Dann einen Mann, der ins Leere starrte. Ein Pärchen, das gerade gehen wollte. Vom Jetlag benommene Kunden in dem von den Zwillingen betriebenen Laden am O’Hare Airport. Zwei Männer, die über etwas diskutierten und beide auf Tablets zeigten.
Am unteren Rand eines jeden Bildes befand sich die Kennnummer des jeweiligen Ortes. Athen. Newport News, Tierra del Fuego, Johnson City. AFGC – die Armstrong Fancy Gifts Corporation – hatte überall auf der Welt Niederlassungen, selbst wenn man die Läden in allen Flughäfen der Welt nicht mitzählte.
»Wir haben nicht verloren, Bruder«, sagte Charles sanft, doch mit einem, wie er hoffte, Unterton eiserner Entschlossenheit.
»Aber wir verstecken uns.«
»Wir haben nicht verloren. Wir sind nicht besiegt worden. Wir haben die Hunde. Wir können das Twitcher-Korps wieder aufbauen. Neu durchstarten. Und wir haben das 34. Stockwerk.«
»Die Taktik des 34. Stockwerks ist zum Scheitern verurteilt«, schnaubte Benjamin. »Defensiv. Damit erledigen wir BZRK. Aber es bringt uns die Präsidentin nicht zurück, die wir verloren haben, oder den Premierminister, den wir verloren haben, verdammt! Verdammt noch mal!« Er hieb mit der Faust auf den Tisch, sodass Charles’ Weinglas einen Satz machte. »Oder den Bug Man. Oder das Puppenschiff.« Er stöhnte. »Was haben wir nicht alles verloren! Was haben wir verloren!« Er leerte den Kognakschwenker mit einem einzigen, tiefen Schluck.
»Wenn das 34. Stockwerk fertig ist, schalten wir BZRK und alles, was sie haben, innerhalb weniger Wochen aus. Es breitet sich aus. Es wird sie in ihren Verstecken ausfindig machen. Und wenn es seine Arbeit getan hat, werden wir keine Feinde mehr haben, wir …«
»Keine Feinde? Glaubst du, BZRK wäre unser einziger Feind? Ist dir denn nicht klar, dass die Chinesen jede Leiche sezieren, die sie aus dem Hafen von Hongkong fischen? Sie wissen Bescheid. Sie wissen es! Und wenn die Amerikaner und Europäer es jetzt noch nicht wissen, dann werden sie es bald erfahren.«
»Was willst du, Benjamin? Das Grey-goo-Szenario entfesseln?«
»Grey goo«, ein lächerlicher Name für eine tödliche Bedrohung: selbstreproduzierende Nanobots. Nanobots, die aus jeglichem Material, das sie vorfanden, weitere Nanobots schufen. Bis innerhalb von Tagen aus ein paar Tausend Nanobots Millionen und Milliarden und Billionen wurden und dabei jedes Kohlenstoffatom und einen Haufen anderer Elemente auffraßen. Alles, was auf der Planetenoberfläche lebte oder gelebt hatte. Alles, was Leben ermöglichte.
Nanobots waren die mechanische Antwort auf Bioten. Genauso klein wie diese, aber ohne die unerklärliche Verbindung zu ihrem Schöpfer. Nanobots mussten mithilfe eines Gamecontrollers gesteuert werden. Sie waren nicht ganz so leistungsfähig, hatten aber einen erheblichen Vorteil: Es spielte keine Rolle, ob man einen Nanobot verlor. Der Verlust eines Biots dagegen – der bedeutete Wahnsinn.
Benjamin deutete auf den Bildschirm. Zufällig betrachtete er gerade eine Familie, die in einem der AFGC-Läden einkaufte, und zwar auf dem Flughafen Schiphol in den Niederlanden. Eine Familie. Mann, Frau, blonde Tochter. »Manchmal hasse ich sie. Manchmal hasse ich sie so sehr, dass ich es tun würde.«
Charles erriet intuitiv, welches Bild sein Bruder fixierte. »Ja, aber stell sie dir als einen von uns vor, Bruder. Stell dir vor, sie wären mit uns vereint. Stell dir vor, sie würden uns gerne anschauen. Stell dir vor, in was wir sie mithilfe unserer Nanotechnologie und unseren Freunden von Nexus Humanus verwandeln können.«
»Nexus Humanus«, schnaubte Benjamin. Dahinter verbarg sich ein Kult, den sie finanziert hatten, um Twitcher, die Nanobots steuerten, und anderes nützliches Personal zu rekrutieren. Aber wie beim Ausverkauf von Scientology war auch bei Nexus Humanus die Luft draußen. »Wir hatten die Welt, nach der wir uns sehnen, in der Tasche. Das Puppenschiff.« Eine Träne trat Benjamin ins Auge, wurde größer und lief ihm die Wange hinunter.
»Unsinn, Bruder, das war nur ein Vorbild der Welt, nach der wir uns sehnen.«
»Eine vereinte Welt«, sagte Benjamin und wunderte sich voller Verbitterung über seine eigene Naivität. Er weinte, zumindest symbolisch, um die umnachtete Menschheit, die um das Utopia gebracht worden war, das er so deutlich vor sich sah. »Eine gigantische, wechselseitige Verbundenheit mit uns als Verbindungszentrale.«
»Das kann immer noch passieren. Es ist möglich. Aber nicht, wenn wir die SRNs freisetzen. Nicht mit dem ›grey goo‹, diesem letzten Akt der Götterdämmerung. Eine Hausnummer kleiner allerdings …« Charles bot dem Gott von Benjamins Zorn ein Opfer an. Eine Beinahe-Apokalypse.
»Ein Großangriff mit vorprogrammierten Nanobots«, sagte Benjamin, wobei er das Wort »Angriff« besonders betonte. Nanobots ließen sich mit einfachen Befehlen vorprogrammieren. Auch in großer Anzahl, solange die Aufgabe simpel war. Millionen, falls nötig. Man konnte ihnen den Befehl geben, eine bestimmte Zeit lang alles in ihrer Reichweite zu zerstören und sich dann abzuschalten, eine Art eingegrenztes Grey-goo-Szenario im kleineren Rahmen.
»Wenn es stimmt, dass die Geheimdienste Bescheid wissen oder es bald erfahren, dann werden wir hier auch nicht sicher sein. Aber wenn wir sie zerschlagen … Wenn wir Großangriffe starten. Washington, London, Peking. Damit sie viel zu beschäftigt sind. Und gleichzeitig nutzen wir das 34. Stockwerk, um BZRK auszuschalten …«
»Da. Burnofsky. Er tut es schon wieder.« Benjamin hatte es bemerkt. Er ließ das Bild vergrößern, und Burnofskys Aufnahme überdeckte alle anderen.
Es war eine HD-Aufnahme, kein körniges Schwarz-Weiß, und man sah darauf, wie Burnofsky sich eine Zigarette anzündete. Er nahm ein paar Züge und starrte ins Nichts. Dann nahm er erneut einen Zug.
»Jetzt kommt’s gleich«, sagte Benjamin.
Burnofsky zog eine Schublade heraus und nahm das gerahmte Foto eines jungen Mädchens heraus.
»Die Tochter«, sagte Charles. »Er ist nie darüber hinweggekommen.«
Während Burnofsky das Bild betrachtete, paffte er seine Zigarette, sodass der Rauch um die versteckte Kamera waberte und das Bild teilweise unscharf machte. Die Zwillinge konnten ihn nur von der Seite sehen, doch das Grinsen zog sich von einem Ohr zum anderen. Das Grinsen und ein lautloses Lachen.
»Lautstärke hochdrehen«, befahl Charles.
Burnofsky gab ein glucksendes Geräusch von sich, ein heimliches, freudiges und auch irgendwie gieriges Kichern. Wie ein Geizhals, der sein Geld zählte.
»Käfer in deinem Kopf, Kleines«, sagte er und lachte glücklich. »Käfer in deinem Kopf.«
»Computer: An Burnofskys Gesicht heranzoomen«, befahl Benjamin. Die Kamera zoomte heran. »Er weint beim Lachen. Lachen und Weinen. Jetzt gleich.«
Burnofsky zog sein Hemd nach oben, sodass sein leichenblasser, eingefallener Bauch zum Vorschein kam. Der Blickwinkel war ungünstig, weshalb die Zwillinge es kaum beobachten konnten.
Burnofsky zog heftig an der Zigarette, und ohne den Rauch aus der Lunge entweichen zu lassen, drückte er sich den Stummel auf den Bauch.
Man hörte es zischen.
Er hielt sich den Stummel an den Bauch gedrückt, hielt ihn, hielt ihn … bis er ihn endlich wegnahm und dabei einen Schmerzensschrei ausstieß, bei dem ihm der angehaltene Rauch aus dem Mund stob.
»Karl, Karl, Karl«, sagte Charles.
»Treibt Sport, ernährt sich gesund, keine Drogen, erheblich weniger Alkohol«, zählte Benjamin die relevanten Punkte auf. »Offenbar weniger depressiv. Und der Preis dafür ist anscheinend diese Selbstverstümmelung. Dir ist klar, dass das der BZRK ist, Bruder. Das muss dir bewusst sein. Er ist verdrahtet. Sie haben uns unser Genie genommen.«
Charles nippte an seinem Wein. Er musste langsam trinken, wenn Benjamin sich so gierig über den Weinbrand hermachte. »Ich weiß es zwar nicht. Aber vermute ich es?«
Er ließ die Frage im Raum stehen.
»Wir müssen zurück nach Hause. Zurück in die Tulpe.«
»In die Tulpe zurück?«, Charles klang beunruhigt. »Das wäre selbst jetzt noch gefährlich.«
»Ich habe … wir haben uns unser ganzes Leben lang versteckt, Bruder. Ist jetzt nicht endlich die Zeit gekommen, sich zu zeigen und ernst genommen zu werden?«
Charles widersprach nicht. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Benjamin wollte seine Götterdämmerung, das bereitete Charles insgeheim Übelkeit. Denn er wollte nicht, dass das Ganze in einer Apokalypse endete. Im Grunde hatte er nie etwas anderes gewollt, als dass die ganze Welt glücklich war. Und dass man ihn so akzeptierte, wie er war. Und wenn man ihm nur gestattete, die ganze Menschheit mit seinen Nanobot-Armeen zu verdrahten, würde diese schöne Vision Wirklichkeit werden. Eine Welt des Friedens. Eine Welt ohne Mangel und Hass und Furcht und Schmerz, denn alle Menschen würden dann gegenseitig Brüder, Schwestern, Väter, Mütter sein. Eine gigantische, wechselseitige Verbundenheit.
»Wir schlagen zurück!«, sagte Benjamin. Immer wieder sagte er es. »Wir schlagen zurück!«
Charles schloss die Augen und hörte die Stimme seines Bruders wie schon vor so vielen Jahren, vor so langer Zeit, noch bevor er sie verstanden hatte. Noch bevor sie ihre Isolation und Einsamkeit begriffen hatten. Die Stimme des Kindes Benjamin war nun die Stimme eines Erwachsenen.
Zurückschlagen, zurückschlagen, zurückschlagen.
Auf dem Bildschirm kicherte Burnofsky und weinte.