ERNA SASSEN

Keine Form

in die

ich passe

Aus dem Niederländischen

von Rolf Erdorf

FREIES GEISTESLEBEN

Inhalt

eins

eins

zwei

drei

vier

fünf

sechs

sieben

acht

neun

zehn

elf

zwölf

dreizehn

vierzehn

fünfzehn

sechzehn

siebzehn

achtzehn

neunzehn

zwei

eins

zwei

drei

vier

fünf

sechs

sieben

acht

drei

eins

zwei

drei

vier

fünf

sechs

sieben

acht

neun

vier

eins

zwei

drei

vier

fünf

eins

zwei

drei

vier

fünf

sechs

sieben

Anmerkungen

Impressum

Komm mir nicht zu nah – Leseprobe

– eins –

– zwei –

– drei –

eins

15. Mai

– Thema HA einreichen (erst noch finden eigentlich).

– Entscheiden, ob und wenn ja, mit welchen Fächern ich nächstes Jahr mein Abi mache.

– Nicht gleich alles so aufbauschen.

– Schlafen, wenn ich schlafen gehe, anstatt: mir ein Problem überlegen, hellwach werden und dann bis vier Uhr morgens durchs Haus tigern.

eins

Meine Mutter stellt ihren Wecker immer schön leise ein. Sie mag es nicht, im Schlaf gestört zu werden.

Dadurch erscheint sie sehr oft zu spät zur Arbeit.

Ich halte mich da völlig raus. Das muss sie selbst wissen.

Schön wäre es, wenn meine Mutter auch entsprechend mit mir umgehen würde.

Gestern sagte sie auf einmal: «Warum machst du für deine Hausarbeit nicht eine CD?» Ich erwiderte: «Mach doch selbst eine!» Aber dann ging mir ein Licht auf. «Ma, wie kommst du darauf?», fragte ich. «Hast du in meinem Tagebuch gelesen? Oder wieder mit deiner toten Urgroßmutter geredet?»

Sie hatte mich singen hören.

N.B.: – Leiser singen!

Ich sagte: «Ja klar. Damit alle aus dem Saal rennen, sobald ich mit meiner Präsentation dran bin. Du glaubst doch nicht im Ernst, meine Mitschüler würden sich für Holland-Pop erwärmen?» (Mit mein größter Frust. Dass ich keine englischen Songs schreiben kann.) In meiner Schule kann man sich die idiotischsten Themen für eine Hausarbeit ausdenken. Manche machen ein Theaterstück oder schreiben einen Roman.

Mein Bruder hatte vor drei Jahren das Faulen von Fleisch untersucht. Damals lagen wochenlang rohe Steaks und Koteletts in unserem Kühlschrank, gekauft bei verschiedenen Supermärkten und Metzgereien und in unterschiedlich fortgeschrittenem Verwesungszustand. Sie lagen auch auf dem Balkon, und zwar auf dem vorder- und dem rückseitigen unseres Hauses, wegen der jeweils unterschiedlichen Sonnenscheindauer. Allerdings in Plastikbeuteln, das heißt, die Maden konnten, nachdem sie sich satt gefressen hatten, nicht durch die offen stehenden Türen in Mutters Schlafzimmer kriechen, darüber war zuvor nachgedacht worden. Seither bedrängt mich meine Mutter mit einer Wahnsinnsidee nach der anderen für meine HA. Auch weil ich mich selbst nicht entscheiden kann. Und wahrscheinlich befürchtet sie, ich überlege mir etwas hammermäßig Kompliziertes.

Ich sagte: «Nein Ma, danke. Ich habe mich schon entschieden. Ich werde ein psychobiologisches Experiment machen. Eine Hausarbeit über die Stressresistenz von ausgehungerten Dobermannpinschern.»

Danach ging ich ins Bett. Soll ich, meint der Mentor. Mich viel ausruhen.

 

Ich denke, ich werde dann morgen mal Hand an mich legen

wenn das Wetter ein wenig mitspielt

Ostermontag, schön ruhig auf den Straßen

Oder

ich kann eine Dissertation schreiben

das ist ein schönes Wort

Dissertation

keine Ahnung, was es bedeutet

Ich könnte natürlich auch

P anrufen und ihm sagen, was Sache ist

aber dafür müsste ich erst wissen

was eigentlich Sache ist

Nein, ich denke doch

ich werde dann morgen mal Hand an mich legen

falls meine Familie auch was darin sieht

Stiefel an, Brötchen mit …

Obwohl ich mir

auch die Haare färben könnte

und einen Apfelkuchen für Oma backen

sie wird morgen achtzig

Nein, ich denke …

ich denke, ich werde morgen Hand an mich legen

hängt ein wenig von meiner Laune ab

und ich muss gut geschlafen haben

ODER

ich verbringe einen Tag mit Weinen

und Kickboxen

mal sehen

Vielleicht lege ich

aber auch erst Hand

an ein Buch

von, sagen wir

Kant.

zwei

Diese Hausarbeit, darin tobe ich mich jetzt mal so richtig aus. Ich werde alles an Zeit hineinstecken, was mir zur Verfügung steht, ja sogar noch ein bisschen mehr. Damit was Besonderes daraus wird. Ha! Denn das wollen wir doch alle, was Besonderes! In den Wahnsinn treiben werde ich mich damit, so besonders soll sie werden. Nächtelang wach liegen werde ich ihretwegen, und zum Ende hin, kurz bevor sie beinahe fertig sein muss, Tag und Nacht durcharbeiten. Sodass ich wie ein Zombie über die Ziellinie komme. Das nehme ich mir vor.

Nicht, dass sie so ungeheuer wichtig wäre, die Hausarbeit. Letztendlich macht sie nur ein Viertel der Kombi-Note aus, die demnächst auf meinem Abschlusszeugnis steht. Das heißt, selbst wenn ich eine Fünf dafür bekäme, wäre das nicht weiter tragisch, denn üblicherweise begnüge ich mich bei Klassenarbeiten und für die Endnote mitzählenden Tests niemals mit weniger als einer glatten Zwei. Theoretisch könnte ich für meine Hausarbeit sogar eine Sechs bekommen.

Aber das wird nicht passieren.

Ich peile erst einmal eine Zwei an, und insgeheim hoffe ich dann auf eine Eins.

Jetzt nur noch ein Thema.

(Ein echtes Thema, meine ich.)

Und dann die Arbeit.

Seufz.

*

Eine CD machen, vielleicht ist die Idee meiner Mutter gar nicht so schlecht. Das wäre wenigstens etwas, das mir Spaß bringt.

**

Aber dann kann ich mir die Eins wohl abschminken.

***

Auch keine schlechte Idee übrigens. Mir eine Eins in die Haut tätowieren lassen (ist nichts mehr mit Abschminken).

****

Ich will keine Drei minus für meine CD.

Niemand will eine Drei minus für seine CD.

Eine Drei minus für eine Untersuchung über den Säuregrad verschiedener Moosarten im Dünengebiet zwischen Zandvoort und Noordwijk ginge gerade noch so. Aber für seine erste CD erhofft man sich doch etwas Besseres.

Hmm …

Meine Mutter findet alles, was ich mir überlege, großartig, das heißt, die hilft mir hier auch nichts.

Vielleicht sollte ich Sannes Mutter fragen. Ob sie das mit der CD für eine gute Idee hält.

Werde ich tun.

Zu gegebener Zeit.

Wenn ich wieder etwas Energie habe.

Und das nächste Mal, wenn mich wieder jemand fragt: «Was willst du später werden?», antworte ich: «Höhlenforscherin.»

Mal sehen, was dann passiert.

drei

Sannes Mutter kenne ich aus dem Schuhgeschäft.

Sie saß neben mir und wartete auf die Verkäuferin, die noch fünf Kundinnen vor uns bedienen musste, letztes Jahr im Juli beim Sommerschlussverkauf.

Sie erzählte mir einfach so, ihre sechzehnjährige Tochter habe als Kind Leukämie gehabt und jetzt, zehn Jahre später, sei der Krebs wiedergekommen. Aber sie sei «sehr zuversichtlich».

Tja, da macht man sich besser auf etwas gefasst. Wenn die Eltern der jungen Patientin sagen: Wir sind sehr zuversichtlich.

Dann kann man davon ausgehen, dass sie nicht mehr aus noch ein wissen und die Ärzte ihr Kind bereits aufgegeben haben.

Zwei Monate später begegnete ich ihr wieder, diesmal in der Musikschule.

Ich saß Zeitung lesend in der Kantine und wartete, bis es Zeit für meine Klavierstunde war. Sie kam herein, zusammen mit einer anderen Mutter. Weinend.

Ich wusste sofort, was die Glocke geschlagen hatte.

Ich duckte mich hinter meine Zeitung und lauschte schockiert der Geschichte, die sie (nicht mir) am Kaffeeautomaten erzählte.

Sanne hatte sich einer Knochenmarktransplantation unterzogen, die anfänglich sehr gut verlaufen war; ihre jüngere Schwester war die Spenderin gewesen.

Vor einer Knochenmarktransplantation bekommt die Patientin oder der Patient Mittel verabreicht, die das (von der Chemotherapie schon sehr in Mitleidenschaft gezogene) körpereigene Abwehrsystem unterdrücken sollen. Dies, um zu verhindern, dass das gespendete Knochenmark angegriffen wird, als wäre es ein Virus. Den Zeitraum dieser maximal herabgesetzten Widerstandsfähigkeit verbringt der Patient oder die Patientin aufgrund des Infektionsrisikos in Quarantäne. Diese Quarantäne dauert mindestens einige Wochen.

Ein paar Tage nach der Transplantation hatte sich Sanne erkältet. Das heißt, ein Virus oder eine Bakterie oder welches Scheißtier auch immer war in ihren völlig geschwächten Körper eingedrungen und Sanne war wenige Stunden später gestorben.

Gleich fing meine Klavierstunde an, aber ich blieb sitzen, wo ich saß, gerade nahe genug, um alles zu verstehen, während ich so tat, als läse ich Zeitung.

Sie hatten Sanne zu Hause aufgebahrt.

Das war sehr schön gewesen.

Man konnte immer kurz zu ihr ins Zimmer kommen, ihr über den Kopf streicheln oder etwas zu ihr sagen.

Viele Freunde und Freundinnen waren vorbeigekommen, und immer waren auch Verwandte da.

Aber dann.

Dann musste sie in diesen Sarg.

Und auch noch begraben werden.

Nicht im Garten hinter dem Haus, schön nah und einbalsamiert in einem gläsernen Sarg, nein, einfach auf dem Friedhof.

In einem Grab.

Ganz allein.

Sannes Mutter hatte es schon öfter gesagt und wiederholte es hier nochmals:

«Falls ein Kind begraben werden muss, ich meine, wenn es wirklich nicht anders geht, dann gehört es in die Arme von mindestens einem seiner Eltern. Dafür muss es eine Regelung geben!»

Sannes Mutter drehte vollkommen durch.

Sie besuchte das Grab ihrer Tochter jeden Tag. Jeden Tag stand sie um halb acht auf, um ihre beiden jüngeren Kinder für die Schule fertig zu machen, Brötchen zu schmieren, Tee zu kochen und so weiter, danach zwang sie sich zu duschen, und abhängig von ihrer Energie (die sie nicht und manchmal ganz und gar nicht besaß), war sie um halb zehn oder halb elf mit dem Fahrrad zum Friedhof unterwegs, jeden Tag mit frischen Blumen («als ob das helfen würde!!! … aber nun ja, eine Dose mit Schulbroten und einen Müsliriegel braucht sie nicht mehr …»), und dann saß sie da ein paar Stunden auf einer Bank. Bei Regen wartete sie im Eingangsbereich der Trauerhalle, bis es wieder trocken war.

Und nach vierzehn Tagen hörte sie sich selbst auf einmal diesen blumengeschmückten Grabhügel anschreien, dieses Mist-Denkmal, auf dem noch immer der Stein fehlte («ein sehr schöner wird das, aus Naturstein, allerdings müssen sie den glaube ich erst noch irgendwo in China zurechtmeißeln …»): Schluss jetzt Sanne! Komm gefälligst wieder heraus!

Ich hätte diese Mutter so gern getröstet.

Ich hätte ihr gern gesagt: «Seien Sie doch froh.»

Aber das sagt man keiner Mutter, die vor vierzehn Tagen ihre Tochter begraben hat.

Meine eigene Mutter hat eine Nichte, die vor dreißig Jahren auch so eine Knochenmarktransplantation über sich hat ergehen lassen müssen. Diese Nichte ist jetzt achtunddreißig und sie ist nur mehr ein Schatten ihrer selbst.

Alles, was schieflaufen konnte, ist nach dieser Transplantation schiefgelaufen. Aufgrund von Abstoßungsreaktionen bekam ihre Haut große Löcher, auch ein Teil ihres Dünndarms musste entfernt werden. Sie erlitt zwei Gehirnblutungen und wurde endlos oft operiert. Sie heißt Juliette.

Juliette hatte anderthalb Jahre in einem sterilen Plastikzelt verbringen müssen, und als sie herauskam, glich sie eher einem Kriegsopfer als einer zehnjährigen kleinen Amsterdamerin, die das Glück gehabt hatte, von einer gefährlichen Blutkrankheit geheilt worden zu sein (sagt meine Mutter). Nach ihrer Geburt war sie acht Jahre lang ein prächtiges, fröhliches Kind mit sehr viel Zukunft gewesen. Jetzt ist sie schon fast viermal so lange schwerbehindert.

Von daher. (Seien Sie doch froh.)

Aber nochmals: So etwas sagt man keiner Mutter, die vor vierzehn Tagen ihre Tochter begraben hat.

Wahrscheinlich auch keiner Mutter, die ihre Tochter vor zwei Jahren begraben hat.

Also ließ ich es sein.

Und schrieb ihr stattdessen einen Brief.

Liebe Mutter von Sanne, schrieb ich, als wäre ich noch das Vorschulkind, das die Eltern seiner Freundinnen mit Marthe ihre Mutter und Zoë ihr Vater bezeichnete. Ich kondolierte ihr zum Tod ihrer Tochter, schrieb, wer ich war, und erzählte die Horrorgeschichte von der Nichte meiner Mutter. Etwas behutsamer formuliert. Meine Telefonnummer. Adresse bei der Musikschule erfragt, Briefmarke drauf und schwupp, weg damit, von der Liste gestrichen: – Brief an Sannes Mutter.

Natürlich hörte ich wochenlang nichts, redete mir ein, damit auch gerechnet zu haben: Die Frau hatte garantiert anderes zu tun, als auf jedes Zeichen von Anteilnahme zu reagieren, außerdem hatte ich selbst in meinem Brief geschrieben, dass ich keine Reaktion ihrerseits erwartete, aber zur Sicherheit begann ich trotzdem schon mal, mich zu Tode zu schämen. Wie hatte ich nur so arrogant sein und darauf verfallen können, diese nette, völlig verzweifelte Frau mit meiner – ja, wie nennt man so etwas – Sicht von Leben und Tod zu belästigen?

Aber in der vierten Woche, ich hatte es in meinem Kalender notiert, bekam ich eine Dankeskarte; so ein gedrucktes Exemplar mit einem Foto von einer lächelnden Sanne, hintendrauf die handgeschriebene Einladung ihrer Mutter, doch mal vorbeizukommen.

Konnte mich gerade noch beherrschen, mich nicht auf der Stelle ans Telefon zu hängen und zu rufen: «Ja, sagen Sie einfach, wann, ich kann IMMER!» Ich habe nämlich schwer Respekt vor den Toten und besonders auch ihren Hinterbliebenen, wirklich, also würde ich ihnen, wenn nötig, auch mitten in der Nacht einen Besuch abstatten.

Einen Besuch.

Wenn nötig.

???

Besuch ist NIE nötig, du Dummkopf.

Kurz und gut.

Drei Tage später saß ich bei Sannes Mutter und trank mit ihr Kaffee.

Ich hatte Blumen mitgebracht. Verkniff mir zum Glück zuletzt doch den Witz, dass ich noch geschwankt hätte zwischen Blumen und einer Dose mit Schulbroten plus Müsliriegel, was wahrscheinlich überhaupt kein Witz ist. Mir wurde bewusst, dass ich jetzt aufpassen musste: nicht vor Nervosität einfach drauflosquasseln, sondern ganz normal weiteratmen.

Alles ging gut. (Dachte ich.)

Wir sprachen ganz kurz über die Schule. In welche Klasse ich ging und in welche Sanne gegangen war, zufällig im gleichen Jahr, aber auf einer anderen Schule, und Sannes Mutter zeigte mir ein Fotoalbum von dem letzten Sommerurlaub mit ihrer kompletten Familie. Es sah aus wie die Alben, die meine Mutter zusammenstellt. Auch Sannes Vater war nirgendwo zu erblicken, aber in seinem Fall lag das daran, dass er alle Bilder gemacht hatte; nette Fotos von einer dem Anschein nach sorglosen Familie. Sanne sieht hübsch und gesund aus. Halblanges, lockiges Haar, kastanienbraun. Genau wie ich es selbst gern hätte. Auf allen Fotos lächelt sie. Nicht wie ich, mit immer demselben verkrampften Grinsen, sondern echt, ihre Augen lächeln mit.

Beim Betrachten der Bilder fragte Sannes Mutter auf einmal: «Wenn Juliettes Eltern hätten wählen dürfen …»

Weiter kam sie nicht.

Wahrscheinlich war ihr auch selbst klar, dass der Onkel und die Tante meiner Mutter keinerlei Wahl gehabt hatten. Dass sie, nachdem ihre Tochter einmal «in die Mühlen der Medizin» geraten war, nicht mehr zurückkonnten, wie ich meine Mutter oft habe erzählen hören. Dass ihnen bei jeder neuen lebensbedrohlichen Komplikation nichts anderes blieb, als zu hoffen und zu beten, es möge die letzte sein. Und dass ihre Tochter durchkommen würde.

«Juliettes Ärzte haben alles versucht», sagte ich zu Sannes Mutter. «Und ihre Eltern wussten nicht, ob sie gut daran taten.»

Und dann fragte Sannes Mutter: «Aber sie sind doch froh, dass sie ihre Tochter noch haben, nehme ich an?»

Darüber musste ich erst nachdenken. Denn die Frage war gefährlich, vielleicht sogar eine Fangfrage. Vielleicht versuchte Sannes Mutter damit auszuknobeln, ob Gott existiert. Oder vielleicht dachte sie, ich wäre eine Anhängerin des Nazi-Gedankenguts (Befürworterin des Aussonderns von Schwachen und Behinderten aus der Gesellschaft).

Ich sagte: «Ich sehe ihre Eltern manchmal bei einem Familientreffen. Und ich habe den Eindruck, dass sie sehr oft froh sind, ihre Tochter noch zu haben. Aber das sind sie beispielsweise nicht, wenn ihre Tochter einen schweren epileptischen Anfall hat, ausgerechnet dann, wenn sie ihren Helm mal nicht trägt. Oder das eine Mal, als ihr aufgrund unheilbarer Kieferentzündungen sämtliche Zähne gezogen werden mussten.»

Ich spielte noch eine Partie Rummikub mit Sannes jüngerer Schwester, und beim Abschied umarmte mich ihre Mutter und fragte, ob ich vielleicht ein andermal wiederkommen wolle.

Ich war damals ebenfalls sechzehn.

 

Aber wie kommt es, dass

Trauer

schwerer wiegt

als das Glück

dass sie gelebt

ihr Gesicht

ihr schönes Lächeln

wie kann es sein

dass der Gedanke daran

dich unglücklich macht

und nicht auch froh?

sie war so schön

lächelt so lieb

erst sechzehn Jahre

aber noch bei uns

dass es sie gab

so echt, so sanft

so licht und frei

aber dass die Nacht

jetzt überwiegt

und es kein Ende nimmt?

vier

Was soll man zu einer sagen, die gerade ihre Tochter verloren hat?

Nichts.

Man kann überhaupt nichts sagen.

Man kann lediglich ein Spiel mit ihren anderen Kindern spielen, die noch am Leben sind.

Und auch das geht eigentlich nicht, wenn man das gleiche Alter hat wie die tote Tochter, und das gleiche Geschlecht.

Und sogar noch in etwa die gleichen Zukunftspläne.

Dann ist man die falsche Person am falschen Ort.

Aber was sonst trieb mich zu ihr?

Mir war durchaus klar, dass ich dieser Mutter NICHTS bedeuten konnte.

Ich bin echt nicht verrückt.

Vielleicht konnte ich es nicht ertragen.

Was nicht?

Ihren Schmerz? Ihre Verzweiflung? Meine Ohnmacht?

Warum vertrage ich so rein gar nichts???

Gestern bin ich von Haarlem nach IJmuiden geradelt, über Santpoort vorbei an den Dünen.

Steht da ein Pferd MUTTERSEELENALLEIN auf der Weide in so einem Schutzkittel und mit einer Mütze auf dem Kopf.

Und ich seinetwegen den restlichen Tag über traurig.

Jetzt eigentlich auch, wo ich wieder daran denke.

Warum tun Menschen das? Warum muss so ein Pferd mutterseelenallein auf der Weide stehen und warum wird es angezogen, als hätte es eine schwere Lichtallergie und als könnte der kleinste Sonnenstrahl seinen Tod bedeuten?

«Ist gegen die Fliegen», meinte der Nachbar des Pferdes.

Du liebe Güte.

Ich sagte «Aha, vielen Dank.»

Aber am liebsten hätte ich ihm vors Schienbein getreten. Obwohl es noch nicht mal sein Pferd war. Er war bloß der Nachbar. Aber er hatte es gesagt, als wäre es die normalste Sache der Welt. Ein Pferdekittel gegen die Fliegen. Ich hätte sagen müssen: «Sie können es auch vakuumieren und an die Wand hängen. Dann bekommt es auch nie eine Hufprellung.» Nun ja, das Pferd war schließlich nicht seins. Oder vielleicht war das auch gelogen. Hatte er hinter meiner unbewegten Visage doch die unterdrückte Raserei gesehen und war lieber auf Nummer sicher gegangen. Am besten, ich rufe morgen die Tierbefreiungsfront an.

Jetzt erst mal ins Bett. Ausruhen. Nicht an das Pferd denken. Und erst recht nicht an Sannes Mutter.

fünf

Einige Wochen nach meinem Besuch bei Sannes Mutter sah ich sie in der Musikschule wieder, wo sie Limonade für die Musicalklasse ihres kleinen Sohnes ausschenkte.

Ich geriet völlig in Panik. Versuchte, unauffällig an ihr vorbei in den Klavierraum zu huschen. Ich dachte: Wenn sie sieht, dass ich es bin, fühlt sie sich vielleicht zu einer neuerlichen Verabredung mit mir verpflichtet. Obwohl ich nicht den Eindruck hatte, dass unser erstes Treffen ein Erfolg gewesen war. Im Gegenteil. Je mehr Zeit ins Land ging, desto stärker wurde mein Eindruck, wie vollkommen deplatziert es von mir gewesen war, mit ihr Kaffee zu trinken.

Je öfter ich darüber nachdachte, desto mehr schämte ich mich dafür. Für wen hielt ich mich eigentlich und was in aller Welt hatte ich dort zu suchen? Ich konnte nicht aufhören, mich selbst zu verurteilen.

Vielleicht kam es daher, dass ich die Geschichte von dem Besuch – die Geschichte, die ich mir in meinem Kopf gemacht hatte – nicht so überprüfen konnte, wie ich es bei meiner Mutter immer versuche und bei Kevin endlos getan habe, als er noch mein bester Freund war. Hundertmal hintereinander fragen, ob es auch in Ordnung war, wie es gelaufen ist. Ob ich nicht etwas Falsches gesagt hatte oder etwas, was ein anderer als eine Beleidigung auffassen konnte. (Meiner Mutter fehlte die Geduld, sich dieses Geschwätz anzuhören.) Seit diesem einen Besuch habe ich keinen Kontakt mehr mit Sannes Mutter gehabt. Sie hatte beim Abschied gesagt: «Vielleicht kannst du ein andermal wiederkommen?»

Das konnte ebenso gut bedeuten: «Vielleicht nicht.» Oder: «Lieber nicht.»

Oder: «Diesmal ist es nämlich nicht gut gelaufen.»

Wieder jemand, dessentwegen ich einen Umweg radeln musste.

Das klappt schon mal nicht, Nummer 3 von meiner Liste: – Nicht gleich aus allem ein Ding machen.

sechs

Ich verlegte meinen Klavierunterricht auf einen anderen Tag.

Problem gelöst.

Dachte ich.

Aber eines Morgens in der kleinen Pause begegnete ich Sannes Mutter im Supermarkt. Und da konnte ich ihr nicht ausweichen. Na ja, ich hätte vielleicht gekonnt, mich beispielsweise in einem der Gänge oder hinter dem Brot verstecken, wie ich es normalerweise tue, wenn ich jemandem aus dem Weg gehen will, aber das wollte ich diesmal nicht. Zu feige.

«Hallo Tessel, wie schön, dich zu sehen!», sagte sie. Total nett. Ich finde, sie ist sowieso eine tolle Person. Sie hat Humor, und was sie erzählt, ist von Bedeutung.

Das heißt, ehe ich mich’s versah, unterhielt ich mich schon eine gute halbe Stunde lang mit ihr im Albert Heijn. Ich hatte eigentlich Unterricht, die Pause war längst vorbei, aber das wagte ich nicht zu sagen. Wollte ich nicht sagen. Sannes Mutter hatte Vorrang vor allem, fand ich. Und finde ich noch immer.

Ich fing natürlich sofort von Sanne an. Ob der Stein schon da sei.

Kann man das eigentlich machen?

Einfach gleich mit der Tür ins Haus fallen?

Leute, die einen unerträglichen Verlust erlitten haben, warten sicher ganz und gar nicht darauf, jeden Moment an diesen Verlust erinnert zu werden. Das heißt, in Augenblicken, wenn sie sich unbeobachtet wähnen und kurz für einen schnellen Einkauf in einen Supermarkt huschen, einer wie mir zu begegnen, die dann mal eben schön in ihrer offenen Wunde herumstochert.

Oder leiden sie ohnehin von morgens bis abends, ganz gleich, was man zu ihnen sagt? Das denke ich immer. Aber stimmt das auch?

Andererseits:

Man kann mit solchen Leuten doch nicht über das Wetter reden!

Oder soll man überhaupt nichts sagen? Bloß «Hallo!» und sich dann gleich aus dem Staub machen?

DAS GEHT DOCH AUCH NICHT!

Ich habe es auch einmal bei einem Lehrer gemacht, der ein halbes Jahr nach dem Tod seines Babys wieder zur Schule kam. Plötzlicher Kindstod.

Ein fünf Monate altes Baby.

Er gab Geografie. In der dritten Stunde. Ich hatte während des Unterrichts zweimal seinen Blick aufgefangen. Nicht, dass ich darin etwas gelesen hätte, das heißt, keine Panik oder Frage oder so, sondern eher etwas wie Hallo Tessel. Ich bin wieder da. Er war ein netter Mann und ich hatte immer einen guten Draht zu ihm. Die ganze Klasse übrigens; er war in der Siebten unser Klassenlehrer gewesen und hatte zusammen mit seiner Frau Grillpartys für uns veranstaltet. Seine Frau kannte ich also auch.

Nach der Stunde ging ich zu ihm, schüttelte ihm die Hand und fragte: «Wie geht es Ihnen?»

Er bekam vor meinen Augen einen Zusammenbruch. Wurde ganz grau im Gesicht und murmelte etwas Unverständliches, das ich als «Na, was denkst du?» interpretierte.

Nach der Pause stand auf dem Mitteilungsbrett, der Geografielehrer werde für den Rest des Tages abwesend sein.

Zu Hause erzählte ich es weinend und sehr verschämt meiner Mutter, und die sagte sehr lieb: «Aber Tessie, vielleicht war es ja gerade gut, wenn er durch deine Frage herausgefunden hat, dass es nicht ging.»

Netter Versuch, Ma.

Es war natürlich überhaupt nicht gut.

Ich hatte dem Geografielehrer ein Messer ins Herz gestoßen.

Ein freundlich gemeintes Messer.

Hat mich wochenlang vom Schlaf abgehalten.

Hätte ich so tun sollen, als hätte ich nicht die ganze Stunde über an das tote Baby gedacht?

Ja, hättest du.

Denn du sollst die Leute nicht mit deinen Gefühlen behelligen.

Aber wäre es für diesen Lehrer denn nicht sehr merkwürdig gewesen, dass wir alle von seinem toten Baby wussten und niemand etwas dazu gesagt hätte?

ICH WEISS ES IMMER NOCH NICHT.

KEINE AHNUNG.

MIR ERZÄHLT JA KEINER ETWAS.

 

Früher, als ich klein war, gab es eindeutige REGELN für den Umgang mit Menschen.

So lernten mein Bruder und ich bereits in ganz jungem Alter, dass es sehr unhöflich und unsensibel ist, Leute, die «anders» aussehen, anzustarren oder auszulachen.

Machten wir nicht.