Joyce Scott
Unzertrennlich
Das unglaubliche Schicksal
der Zwillinge Joyce und Judith.
Eine wahre Geschichte über Liebe und Kunst
Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Panster
Kösel
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Zitat Kapitel 4: Fjodor Dostojewskij, Die Brüder Karamasow.
Aus dem Russischen von Swetlana Geier.
© Ammann Verlag & Co., Zürich 2003. Alle Rechte vorbehalten
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Mit freundlicher Genehmigung
der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Entwined. Sisters and Secrets in the Silent World of Artist Judith Scott« bei Beacon Press, Boston, Massachusetts.
Beacon Press Books are published under the auspices of the Unitarian Universalist Association of Congregations.
Copyright © 2016 by Joyce Scott
Copyright für die deutsche Ausgabe: © 2017 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Weiss Werkstatt, München
Umschlagmotiv: © shutterstock/Elenamiv Bild-Nr. 181822889
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-20926-1
V001
www.koesel.de
Für meine Judy
und für alle, deren Talente
und Begabungen noch unverwirklicht sind.
Für das Creative Growth Art Center,
wo Judy ihre Talente entdeckte.
Mögen Einrichtungen wie diese auf der ganzen Welt wie Pilze aus dem Boden schießen
und alle Menschen gesegnet sein.
Vorwort
Am Anfang
Teil I – Gefesselt
1 Eden
2 Facetten des Verlusts
3 Grabgedichte
4 Tausend Meilen weit weg
5 Frau ohne Vergangenheit
6 Unter den Redwood-Bäumen
7 Eine Welt der Stille
Teil II – Entfesselt
8 Wieder vereint
9 Eine große rote Bowlingkugel
10 Eine neue Sprache
11 Ihr eigenes Zimmer
12 Die Vernissage
13 Ein flüchtiges Lächeln
14 Herzleiden
15 Ein Fisch in der Flasche
16 Eine lautlose Symphonie
17 Ganz in Schwarz
Judys Vermächtnis
Dank
Bildteil
Vorwort
Nach dem Mittagessen hat Judy die Reste ihrer Mahlzeit bereits in die große schwarze Tasche neben sich gepackt. Sie hat ihre gewaltige Skulptur, ihre Garne und Scheren vor sich aufgereiht und wieder mit der Arbeit begonnen. Sie schaut zu mir hoch, wirft mir eine Kusshand zu und klopft auf den Stuhl neben sich. Ich gehe zu ihr, und wir umarmen uns lange. Dann macht sie sich wieder ans Werk. Ich sitze still daneben, sehe ihr zu und wünschte, ich hätte ein wenig von ihrer Konzentration und ihrer unbeirrbaren Entschlossenheit.
Gerade zieht sie einen roten Faden durch den dunklen Teil der Skulptur. Ich muss an unsere Kindheit denken und den Augenblick, als sie hingefallen war und das Blut aus ihrem Mund auf unsere Puppen und alles andere tropfte, was herumlag. Ich frage mich, woran sie sich wohl erinnert. Ich frage mich, welche Erinnerungen sie besonders schätzt. Ich frage mich, ob es die gleichen sind wie bei mir. Wie so oft betrachte ich eines ihrer Objekte und sehe einen Tag in Ohio, einen Sandkasten und einen Maulbeerbaum vor mir.
Trotz der teils ähnlichen, teils unterschiedlichen Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen hatten, blieb die Verbindung zwischen uns bestehen. Sie war mal enger, mal lockerer, aber Judys Einsamkeit war auch meine Einsamkeit und meine Traurigkeit auch ihre.
Ich sehe zu, wie sie in schweigender Erkenntnis ihre Fundstücke zu einer Skulptur verbindet, und kann die schmerzhaften Erinnerungen nicht von mir fernhalten. Aber jeder Schöpfungsakt schafft neue Erinnerungen, verleiht unserer Vergangenheit neue Farben und eine neue Struktur – unsere beiden Leben sind wieder eins und ganz und gar miteinander verwoben.
Am Anfang
Das Laken ist kühl – kühl bis an den gegenüberliegenden Rand. Ich bewege mich, rutsche instinktiv tiefer ins Bett, suche die Wärme meiner Schwester, meiner Zwillingsschwester. Vielleicht hat mich das Kratzen der Äste des alten Ahornbaums auf den Schindeln geweckt. Ich öffne die Augen und sehe, wie das mattgraue Licht des Novembermorgens durch die zugezogenen Vorhänge dringt. Draußen kann ich schemenhaft den Umriss der riesigen Blaufichte erkennen. Sie hält Wache vor unserem Zimmer – dem Mittelpunkt unseres Universums, unserer Zuflucht vor der großen weiten Welt dort draußen.
Judy und ich waren im Mutterleib körperlich und seelisch miteinander verbunden – und doch waren wir verschieden. Gleich bei der Geburt wurden diese unerwarteten Unterschiede teils als Rätsel, teils als Geschenk und teils als Fluch empfunden.
Judy und ich lebten in einer üppig-sinnlichen Welt aus reifen Beeren und saftigen Matschkuchen. In diesem heilen Universum war alles lebendig und mit Sinn erfüllt. Da Judy nicht sprach, waren wir gezwungen, unsere Welt unmittelbar und ohne Worte zu erfahren. Die meisten Menschen lassen diesen Zustand vorsprachlicher Verbundenheit mit Steinen, Bäumen und Vögeln spätestens im Alter von zwei Jahren hinter sich. Wir verbringen die ersten beiden Jahre, von denen nur flüchtige traumzeitliche Bilder geblieben sind, in einer weichen Welt der Empfindungen – der Empfindungen ohne Worte. Ich erinnere mich an die Lichtflecken, die auf dem Vorhang neben unserem Bettchen tanzen; an unsere Hände, die mit dem Licht und den Schatten spielen, die durch die Gitterstäbe fallen; an Judys weiche Haut. Ich erinnere mich an ihre Wärme; an ihren warmen Atem, der sich mit meinem vermischt; an ihren warmen Körper neben mir. Als ich meinen eigenen Körper entdecke, entdecke ich auch ihren. Unsere Existenz ist eine Collage aus miteinander verschmelzenden Sinneseindrücken. Wenn ich mich umdrehe, berühre ich ihren Arm, und sie rutscht näher an mich heran. Es gibt kaum einen Unterschied zwischen Bewegung und Reaktion. Mein Körper, ihr Körper sind in unserem sensorischen Gedächtnis längst miteinander verschmolzen.
In meiner Erinnerung verbringen wir die meiste Zeit unserer Kindheit in einem Sandkasten. Er ist wie ein eigener kleiner, von einem Zaun aus Hasendraht umgebener Garten mit einer kaputten alten Gartentür aus Holz, die wir mit einem kleinen Zweig verriegeln. Wir fühlen uns dort ebenso zu Hause wie in unserem Zimmer und unserem Bett. In dieser Welt aus Sand und Erde kritzeln und graben wir, spielen wir mit Stöcken, Blättern und Steinen, die wir aus dem Bach fischen. Wir basteln Teller und Tassen aus den grünen Blättern des Trompetenbaums. Wir krakeln Zeichnungen in den Sand, kochen Steinsuppe und gießen Wasser in Löcher. Beim Spiel mit unseren Steinen entdecken wir eine Form des Zählens, aber vor allem entdecken wir die Freude am Teilen. Das Gefühl von grobem Sand zwischen Zehen und Zähnen gibt uns tiefe Befriedigung. Ich kann die Rinde von einem Ast abziehen und den Geschmack eines Steins erleben. Gemeinsam sammeln wir die Maulbeeren, die von dem großen Baum jenseits unseres Gartentürchens fallen. Wir essen sie, zerdrücken sie, bemalen unsere Gesichter mit ihrem Saft. Wir holen die umherstreifenden Schildkröten zu uns herein und bemalen ihre Panzer, damit sie aussehen wie wir. Wir fangen Kaulquappen im Teich, halten Glühwürmchen in Gläsern und greifen mit unseren kleinen Händen nach diesen blinkenden Lichtpunkten, die immer in Bewegung sind und die wir nur so selten zu fassen bekommen. Viele Jahre lang ist dies unsere Welt.
In kühlen Nächten schlafen wir aneinandergekuschelt unter unseren Decken; in warmen Nächten ist unsere Haut feucht, vermischt sich der Geruch unserer Körper und wird eins. Judy und ich – immer zusammen, immer miteinander verschlungen. Wir schlafen aneinandergeschmiegt wie zwei geschwungene Löffelchen, zarte Zwillingslöffelchen, und halten einander fest und warm. Aber jetzt ist mir kalt – sehr kalt. Ich strecke die Hand nach ihr aus, um sie an mich zu ziehen, strecke die Hand weiter und weiter aus. Judy liegt nicht neben mir.
Schnell schlüpfe ich aus dem Bett. Meine nackten Füße berühren kaum den Boden, als ich auf Zehenspitzen ins Badezimmer schleiche und überlege, wo sie sein könnte. Die Handtücher liegen noch feucht vom Bad am letzten Abend auf dem Boden, und die gelbe Gummiente, die wir in der Wanne zwischen uns hin- und hergeschubst haben, liegt einsam auf der Seite. Aber Judy ist nicht hier.
Teil I
Gefesselt
1
Eden
Es ist ein Segen, dass Judy und ich sieben Jahre lang in unserem ganz persönlichen Paradies wandeln dürfen, wo das Staunen und die Entdeckungen niemals enden, wo es einen Reichtum an Empfindungen und Liebe gibt – in einer Welt, die stets ohne Worte ist. Ob im Haus oder im Freien, Judy will neben mir sitzen und das Gleiche tun wie ich. Und lange Zeit tun wir auch das Gleiche: Wir spielen im Schlamm und mit Maulbeeren, Erde und Löwenzahn. Später werden meine Spiele komplizierter, und ich kann nur noch so tun, als spielten wir das Gleiche, und mir Regeln ausdenken, ohne recht zu wissen, was jede von uns meint. Mag sein, dass später jede etwas anderes meint, trotzdem fühlt es sich an, als wäre es das Gleiche. Es gibt keine Worte, aber die brauchen wir auch nicht. Wir sitzen so nah nebeneinander, dass unsere Körper sich berühren, und genießen dieses behagliche Gefühl.
Wir haben drei große Brüder – Wally, Dicky und Jimmy – und leben fast schon auf dem Land, fernab vom Lärm und Chaos im Stadtzentrum von Cincinnati.
Hinter dem Haus liegen Schafweiden und ein naher Wald, ein kleiner Bach und ein Teich. So viele Welten, die wir erforschen können. Auf dem Feld hinter dem Haus entdecken wir im Frühling kleine Kaninchen, deren Bau von Katzen zerstört wurde. Jedes Jahr versuchen wir, sie zu retten, immer ohne Erfolg, und jedes Mal werde ich trauriger. Wir haben einen Tierfriedhof mit einer eigenen Ecke für die Kaninchen. Sie passen in kleine Schuhschachteln: Eine Schicht Gras dient als Bett, und manchmal bekommen sie auch ein Kissen für ihren langen Schlaf. Wir basteln winzige Kreuze aus kleinen Zweigen, und manchmal spricht meine beste Freundin Kathy ein kleines Gebet.
Wir sind immer von Freunden und Nachbarn und vor allem Nachbarskindern umgeben, die kommen und gehen, ungehindert und ständig unterwegs in allen Häusern und Gärten. Wir fühlen uns eingebunden und sicher. Dort, wo wir wohnen, haben wir nie Angst, obwohl auch traurige und manchmal sogar richtig schlimme Dinge geschehen, und zum Beispiel Tante Helen nebenan auf ihrer durchgetretenen Veranda stürzt und sich den Oberschenkelhals bricht. Oder Oma den Verstand verliert und meint, ich hieße Teddy – wie ihr Hund, der schon lange tot ist. Mich stört das nicht. Ich liebe sie und die Art, wie sie mich als Teddy liebt. Teddy war ihr absoluter Lieblingshund. Ich mag es auch, wie sie unsere Äpfel schält, sodass die Schale eine einzige lange Spirale ist. Sie verspricht, es mir eines Tages beizubringen.
Tante Helen wirkt, als sei sie immer schon alt gewesen – schon bevor sie uns in ihrer Welt willkommen hieß. Sie ist groß, dünn, wortkarg und Respekt einflößend, aber immer freundlich. Wenn wir nicht im Sandkasten oder in unserem Zimmer sind, sind wir meist bei Tante Helen. Zumindest, bis sie stürzt und ins Krankenhaus kommt. Neben der baufälligen Veranda hinter ihrem Haus wachsen im Frühjahr reihenweise lila Veilchen, die nicht ganz bis zur Scheune gehen. Mehr Veilchen, als ich in meiner pummeligen, verschwitzten Hand halten kann. Ich pflücke, während die Sonne auf meinen dunklen Schopf herunterbrennt. Ich habe ein Ziel. Judy hilft mir ein bisschen, aber sie rupft die Veilchen meist zu kurz und ohne Stängel ab. Aber das ist in Ordnung. Wir pflücken unermüdlich weiter, und kleine Schweißtropfen laufen über unsere Gesichter, die unter der Sonne Ohios allmählich feuerrot werden.
Später am Abend begleiten wir Papa zum Krankenhaus. Judy und ich dürfen zwar nicht mit auf Tante Helens Zimmer, aber wir fahren mit Papa durch die Stadt und warten im geparkten Wagen. Es regnet ohne Unterlass, und wir warten, während der Regen am Seitenfenster herunterrinnt. Judy will unbedingt neben mir sitzen. Wir knien uns beide auf den Sitz vor dem Fenster und verfolgen mit den Fingern die herablaufenden Regentropfen. Es geht nicht darum, wessen Tropfen der schnellere ist. Nicht bei uns. Wenn überhaupt, soll Judys Tropfen gewinnen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ihr überhaupt etwas daran liegt. Wir sitzen behaglich Seite an Seite. Draußen ist es dunkel, im Wagen auch. Von Zeit zu Zeit fährt ein Auto vorbei und erhellt Judys Gesicht, die Regentropfen und unsere Finger an der Scheibe. Dann vergisst sie manchmal ihren Tropfen und schaut mich an, berührt mit dem Finger mein Gesicht und knufft mich in die Seite. Wir kichern und albern herum. Wir wissen, dass Papa bald wiederkommt.
Papa hat Tante Helen die Veilchen gebracht, und bestimmt wird sie jetzt an ihr weißes Häuschen mit der wackeligen Treppe und der langen geschwungenen Veranda denken, die sich an seine Seiten schmiegt. Sie wird an ihren Garten mit den Blumen denken und schnell wieder gesund werden und zu uns nach Hause kommen wollen. Sie wird wieder Kekse für uns backen und sich nach dem Abendessen zu uns setzen. Wir werden Dame spielen und Judy die überzähligen Steine geben. Sie wird ein neues Schmetterlingsnetz für mich und ein etwas größeres für Jimmy basteln. Wir werden ihr jeden schönen Schmetterling zeigen, den wir fangen. An kühlen Abenden werden wir an ihrem kleinen Kohleofen sitzen und gemeinsam Rätsel lösen. Vielleicht sagen wir auch gar nichts. Manchmal schweigen wir einfach ganz lange. Wir lauschen, während die Heuschrecken verstummen und das Zirpen der Grillen beginnt.
Onkel Clarence, genannt Toady, ist Omas »Wechseljahrebaby«, wie Mama sagt. Er ist nie erwachsen geworden und nie aus dem Haus gegangen. Aber mit vierzig ließ er alle wissen: »Es reicht. Ich will, dass ihr aufhört, mich ›Toady‹ zu nennen. Ihr könnt ›Onkel Clarence‹ oder einfach ›Clarence‹ sagen. So heiße ich nämlich.«
Keiner von uns, ob Freunde oder Verwandte, hat sich je viel bei dem Spitznamen »Toady« gedacht. Er trug ihn schon lange vor unserer Geburt, also eigentlich immer, aber jetzt krümmen wir uns innerlich vor Scham, weil wir ihn all die Jahre bei diesem Namen genannt haben, der sein Aussehen so schmerzlich und treffend beschreibt (Toad = Kröte, Anm. d. Ü.). Als sei er einem Märchen entsprungen. Wir merken, dass er anders ist als die anderen, aber Judy und ich lieben ihn dafür. Wir mögen alles, was Mama nicht ausstehen kann: dass er etwas langsam ist, sich langsam bewegt, langsam spielt, langsam denkt. Denn das bedeutet, dass er niemals in Eile ist. Nicht wie die anderen Erwachsenen. Es gefällt uns, dass er bei jeder neuen Begegnung dieselben alten Witze erzählt und uns damit immer wieder zum Lachen bringt.
Der Sommer in Ohio enthält immer einen Hauch von Feuchtigkeit – und oft mehr als das. Plötzliche Platzregen bringen die Rinnsteine zum Überlaufen, und wenn wir Stöckchen hineinwerfen, rasen sie wie wild miteinander um die Wette, um schließlich irgendwo auf dem Rasen liegen oder in einem Forsythienstrauch hängen zu bleiben. Gewitter entladen sich mit solcher Gewalt, dass die Tiere in offenen Kellern Schutz suchen und Hunde und Katzen sich im dunklen Trockenen einträchtig aneinanderdrängen, wo Erde und Stein die furchterregenden Himmelsgeräusche dämpfen.
Die Nächte im Mittleren Westen bringen feuchte Luft und schweißgebadete Körper. Wenn wir schlafen, kleben die nassen Laken an uns, wenn wir wach sind und uns bewegen, umhüllt uns die schwere Luft wie ein unsichtbares Tuch. Gerüche wirken intensiver, haften an uns, hängen noch lange in der Luft. Der köstliche, einladende Duft von Tomaten und gebratenen Zwiebeln ist meilenweit zu riechen. Rufe schallen lauter, Stimmen tragen weiter, sagen mehr, schweben durch die Nacht, umrunden Tante Helens eingestürzte Veranda und finden uns im Trompetenbaum.
Judy mag alles, was es zum Abendessen gibt – genau wie ich. Kartoffelsuppe, Chili, Hackbraten, jede Menge Tomaten und grüne Bohnen aus dem Garten, das ganze Jahr über Opas eingemachte Rote Bete und Dosensuppen von Campbell’s. Diese Dinge werden fast immer gleich zubereitet: grüne Bohnen mit etwas Speck, Tomaten entweder aufgeschnitten oder zwischen den Mahlzeiten direkt vom Strauch. Nachtisch gibt es fast nie, aber als besondere Leckerei Doppel-Butterkekse mit Cremefüllung. Zum Mittagessen gibt es Leberwurstbrot mit Tomaten oder Käsetoast mit Gurkenrelish. Aber der Sonntagabend ist etwas Besonderes. Da essen wir mit Onkel Toady und den anderen bei Oma. Es gibt Brathähnchen mit Kartoffelpüree und Sauce, selbst gemachte Brötchen mit Haschee und noch mehr von Opas Roter Bete in der blauen Schüssel, die auf der einen Seite einen Sprung hat.
Oma, die strenge Methodistin ist, bleibt nach dem Abendessen in der Küche und spült das Geschirr. Sie denkt lieber nicht darüber nach, was im Zimmer nebenan passiert. Judy und ich haben einen eigenen kleinen Tisch, eigene Spielkarten und eigene Chips. Ab und zu rutschen wir von unseren Stühlen und krabbeln unter den großen Tisch, zwischen die Schuhe und Füße der Erwachsenen, die zuweilen Teil unseres Lebens sind. Toady steckt uns ein paar Chips zu, und Mama schreit ihn an; sie schreit ihn ständig an. Über uns Gelächter und Zigarettenqualm, Karten und Chips. Unter uns die eigenen Karten, unser eigenes Spiel und unser ureigenes Lachen. Judy und ich leben in derselben Fantasiewelt, oder zumindest glaube ich das, aber wir sprechen nicht die gleiche Sprache. Ich fange an, von Worten zu träumen, Worten, die Judys ganze Welt mit meiner verbinden.
Im Sommer sitzen alle Mütter aus der Nachbarschaft mit ihren Töchtern bei uns im Garten, um dabei zu sein, wenn der nachtblühende Säulenkaktus seine Blüten öffnet. Die Stühle stehen in zwei ordentlichen Reihen, und die Aufregung ist ebenso groß wie bei der Premiere eines Stücks am Broadway. Während wir warten, unterhalten sich die Mütter über unsere Köpfe hinweg. Sie sprechen in Code über Dinge, für die wir noch zu klein sind. Aufgeregt baumeln wir mit den Beinen. Judy rutscht vom Stuhl und spielt neben den Erwachsenen im Gras. »Wartet mal, schaut her, da ist eine! Seht nur, jetzt geht sie auf!« Kathy sieht die Blüte zuerst, und wer kann, eilt hinüber, um zuzusehen, wie sich die erste Schönheit der Nachtluft und unseren bewundernden Blicken offenbart. Bald gehen weitere Blüten auf, und wir staunen noch etwas mehr, aber dann flitzen wir davon, um wie jeden Abend mit den Jungen Verstecken zu spielen. Judy bleibt einstweilen bei den Müttern, und wenn uns etwas später die Dunkelheit verschlingt, kehre ich an ihre Seite zurück, wo ich mich am sichersten und lebendigsten fühle.
Wir sind umgeben von Bäumen, und auch sie sind unsere Freunde. Wir kennen und lieben sie ebenso sehr wie eine vertraute Person. Ihre Namen kenne ich wie meinen eigenen. Wir wissen zu schätzen, dass sie Schatten, Schönheit, Anmut schenken, den Vögeln und Eichhörnchen als Zuhause und uns als Platz zum Spielen dienen. Und all die anderen Dinge, die noch tiefer gehen und die wir nicht benennen können. Eines Tages muss die große Eiche an der Auffahrt gefällt werden, sie ist von einer Krankheit befallen. Die ganze Familie steht aufrecht und schweigend: aufrecht, wie sie es war; schweigend, um ihr Respekt zu zollen. Mein Vater, meine Brüder und wir weinen ungeniert – obwohl in unserer Familie nur selten Tränen fließen. Die Blaufichte vor unserem Fenster bleibt. Im Frühjahr lässt mich das kräftige Grün ihrer Spitzen an all die frischen und neuen Dinge denken.
Judy und ich schlafen zusammen in einem großen Bett. Daneben steht ein Tisch für unsere Puppen mit zwei kleinen Stühlen für uns. Zwei kleine Stühle, zwei kleine Puppen, zwei Schüsselchen und zwei Löffelchen. Der Tisch ist groß genug für uns und klein genug für unsere Puppen. Ich weiß nicht, ob Dinge grundsätzlich paarweise auftreten, aber es kommt mir so vor. Manchmal klettert Judy frühmorgens, während der Rest der Familie noch schläft, auf einen Stuhl und entriegelt die Fliegenschutztür. Sie huscht hinüber, um die Nachbarn zu besuchen – vor allem unsere heiß geliebten Babys. Es kommt vor, dass sie bei der Familie nebenan am Tisch sitzt und Eiscreme zum Frühstück isst, wenn ich auftauche. Ich kann es kaum glauben. Aber der Tag wird kommen, an dem es für Judy weder Babys noch Eiscreme zum Frühstück gibt. Unsere Nachbarn ziehen weg und nehmen die Babys mit. Später zieht Familie Schmidt nebenan ein. Die Schmidts haben fünf Mädchen und bekommen später noch ein Baby, aber das dürfen wir nicht anfassen und es nur durchs Fenster anschauen.
Ich weiß nicht mehr, wann mir zum ersten Mal bewusst wird, dass Judy anders ist, oder wann ich verstehe, dass es gefährlich ist. Dass es gefährlich ist, als »geringer« oder »weniger als« zu gelten. Dass dies gefährlich ist, wurde mir wohl erst klar, als sie weg war.
Als wir sechs Jahre alt sind, ist Judy immer noch sehr klein. Eines Nachmittags passiert auf Familie Schmidts Veranda ein Unfall. Mrs Schmidt glaubt, dass Judy die kleine Marilyn geschubst hat, obwohl sie gar nicht dabei war und nichts gesehen hat. Außer Judy und Marilyn sind noch viele andere Kinder da – ich, Kathy, Nancy, Martha, Kitchie und vielleicht sogar Toni. Kitchie, deren Vater Süßigkeitenautomaten auffüllt, hat Geleebohnen mitgebracht. Alle drängeln ein bisschen, um welche abzukriegen. Marilyn ist einfach hingefallen. Judy würde niemals jemand schubsen. Das weiß ich ganz genau, und Kathy weiß es auch. Aber manche Leute glauben offenbar, Judy hätte Marilyn gestoßen. Mama sagt, die Nachbarn hätten angefangen zu reden. Heute wünschte ich, ich hätte sofort etwas gesagt. Dass es meine Schuld gewesen sei; dass ich Marilyn angerempelt hätte.
Ich glaube, dass es von nun an Mrs Schmidt ist, die uns Ärger macht. Bevor die Schmidts kamen, gab es keinen Zaun zwischen den Gärten, sondern nur eine lange Reihe von Forsythien- und Fliedersträuchern und Judasbäumen mit Verstecken und Tunnels zum Durchkriechen. Hier schloss ich mit Jan Oliver Blutschwesternschaft, stachen wir uns in die Finger, vermischten unser Blut und rauchten Strohzigaretten, um das Ereignis zu feiern. Aber dann baut Mr Schmidt einen großen Zaun. Ich wette, er tut es auf Anweisung von Mrs Schmidt.
Als er fertig ist, lassen sie Judy nicht mehr in den Garten. Sie benehmen sich, als hätten sie Angst vor ihr, nur weil sie ein wenig anders ist. An machen Sommerabenden sitzen die drei großen Mädchen auf der Veranda und essen riesige Dillgurken, während Judy und ich im Garten sitzen und zuschauen. Sie lassen sich sehr viel Zeit und haben offenbar Spaß daran zu sehen, wie uns das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich kriege einen Riesenappetit auf Dillgurken. Ich nehme unseren Brüdern gegen Zahlung von fünf Cent kleinere Arbeiten ab und spare das Geld, um bei Hunchmyers am Ende der Straße ein Glas zu kaufen. Ich marschiere alleine los, um es zu holen und die Gurken mit Judy zu verspeisen. Wir sitzen ganz alleine auf der Veranda – nur Judy, ich und die Gurken.
Judy und ich teilen alles, bis auf »Big Doll«. Dazu ist mir die große Puppe einfach zu wichtig. Ich habe sie mit drei Jahren bekommen und mir vorgenommen, ein richtiges kleines Baby aus ihr zu machen. Jeden Tag, wenn wir in der Küche zu Abend essen, gebe ich ihr etwas von meinem Teller: grüne Bohnen, Erdbeeren.
»Big Doll« bedeutet mir alles, aber ich bin auch traurig, weil es sie nur einmal gibt und wir zu zweit sind. Ich finde es nicht richtig, sie für mich allein zu behalten. Judy hasst »Big Doll« aus tiefstem Herzen. Sie will auch mit ihr spielen, aber ich habe Angst, sie könnte sie kaputt machen. Und wie könnte »Big Doll« dann ein echtes Baby werden? Deshalb darf Judy nur mit ihr spielen, wenn ich dabei bin.
Big Doll haust im Chaos. Wir hausen im Chaos. Der Fußboden ist mit zerfetzten Zeitschriften und kaputtem Spielzeug übersät. Ein Teddybär mit aufgeschlitztem Bauch, Jimmys Soldaten und Holzbausteine sind neben unserem zerwühlten Bett verstreut. Das ist unser Zimmer. Hier können wir tun und lassen, was wir wollen. Wir schauen beide gerne Bilderbücher an, aber Judy mag Zeitschriften lieber, weil sie die Seiten herausreißen kann. Sie mag alles, was klein und weich ist, steckt diese Dinge gerne in Körbchen und in unser Puppenhaus. Aber wenn Besuch kommt, werden Judy und ich manchmal weggesperrt. Dann wird unser Zimmer zur Doppelzelle, zu unserem gemeinsamen Gefängnis.
Wenn sich die Damen treffen, um zu lachen, Bridge zu spielen und Ableger von Pflanzen aus ihren Gärten zu tauschen, bleibt unsere Tür verschlossen und wir dahinter verborgen. Noch stärker wird das Gefühl der Isolation, wenn ihr Gelächter um die Hausecke und an unserem Fenster vorüberzieht. Ich weiß, dass sich die Türe später wieder öffnen wird und wir für eine Weile unsere Freiheit zurückbekommen werden. Ich weiß aber auch, dass sie beim nächsten Besuch erneut zuschlagen und der Schlüssel sich im Schloss drehen wird. Wir werden versteckt, genau wie die hastig in den Badezimmerschrank gestopfte Schmutzwäsche – und müssen ebenso leise sein.
An diesem Abend hat Mama Popcorn für uns gemacht. Wir sitzen in unserem Zimmer auf dem Boden und reichen die blaue Schüssel hin und her. Mal klaubt Judy ein paar gepuffte Maiskörner heraus. Mal legt sie sie neben sich auf den Boden und drückt sie mit der Hand platt. Mama wird das nicht gefallen, aber das ist mir egal und Judy auch. Wir werfen Popcorn auf den Boden, trampeln darauf herum, lachen, setzen uns auch noch drauf und lachen erneut.
Judy will so tun, als würden unsere Puppen Popcorn essen. Sie steht auf und marschiert breitbeinig los. Kurz vor dem Puppentisch bleibt sie mit dem Fuß hängen und stürzt. Zunächst fällt sie schweigend um, doch dann schlägt sie mit dem Mund auf die Tischkante. Sie heult vor Schreck und Schmerz, als sie zu bluten beginnt. Das Blut tropft auf den Boden, auf das Popcorn und auf »Big Dolls« Kleid. Plötzlich ist alles voller Blut. Ich nehme Judy in den Arm, hämmere gegen die Tür und rufe um Hilfe, während sie immer lauter und immer verzweifelter heult. Ich höre, wie die Damen gelaufen kommen und der Schlüssel sich im Schloss dreht. Mama greift nach Judy und will die Tür sofort wieder schließen, aber es ist zu spät. Die Damen drängen ins Zimmer. Florence Peeper lässt den Blick über die zerfetzten Zeitschriftenseiten und das zertretene Popcorn schweifen, dann schaut sie mich an und fragt: »Was hast du mit deiner Schwester gemacht?« Ich bin entsetzt über das, was geschehen ist, und überrascht von der Frage und antworte nicht. Ich könnte Judy niemals etwas antun! Ich habe keine Ahnung, was Mrs Peeper meint. Ich käme nicht einmal auf den Gedanken. Aber noch wochenlang hängt ein dicker schwarzer Faden aus Judys Mund und erinnert mich daran, dass sie genäht werden musste, weil ich sie im Stich gelassen habe. Ich weiß nur nicht genau, wie.
Als ich in den Kindergarten komme, vergesse ich »Big Doll« eines Tages auf ihrem kleinen Stuhl in unserem Zimmer. Bei meiner Rückkehr stelle ich fest, dass Judy ihr den Arm ausgerissen hat. Ich bin schockiert und verletzt, aber auch schicksalsergeben. Ich hatte es immer als falsch und ungerecht empfunden, dass ich »Big Doll« habe und sie nicht. Noch schlimmer aber ist, dass ich jeden Morgen zur Schule gehe und sie stundenlang in unserem Zimmer allein lasse. Ich nehme »Big Doll«, aus der nun die Füllung quillt, mitsamt dem abgerissenen Arm und stopfe beides ganz unten in den Badezimmerschrank. Ich lege die alten Decken und die schmutzige Bettwäsche darüber und lasse sie zurück, ohne mich von ihr zu verabschieden. »Big Doll« ist tot. Ich glaube, dies ist das einzige Mal, dass Judy mich verletzt hat. Aber ich verzeihe ihr, weil ich weiß, dass es nicht ohne Grund geschah und ich sie jeden Tag aufs Neue verrate, wenn ich zur Schule gehe und sie allein zurücklasse.
Hinter dem Walnussbaum in Kathys Garten steht ein altes Sofa in verblichenen Erdtönen aus Braun und Grau. Sprungfedern und Rosshaarfüllung hängen heraus, und es riecht modrig vom Herumstehen im Freien. Wenn wir dort abends eng nebeneinander liegen und die Köpfe über den Rand hängen lassen, wird es zu unserem Schiff. Unter uns ist das Meer und über uns sind eine Million Sterne, die uns den Weg weisen. Wir erforschen das Universum, recken Gesicht und Füße zum Himmel, lassen den Kopf nach unten hängen und suchen am Himmel nach Antworten auf Fragen, die wir nur erahnen, aber niemals in Worte fassen könnten. Wir sind Zeitreisende und betrachten wie andere vor Millionen von Jahren das Rätsel der Sterne. Judys staunende Augen sind weit aufgerissen, als sie noch näher rückt und mit beiden Händen meinen Arm drückt.
Die Stimmen unserer Eltern dringen aus der fernen Küche durch die warme Nacht – unverkennbar in der Dunkelheit. Aber ihre Worte erreichen uns nicht. Ihre Stimmen dringen vom Küchentisch durch die Fliegenschutztür mit der eingerissenen Ecke, aber sie kommen niemals bei uns an. Unsere Augen und Ohren sind auf das Universum jenseits dieser Erde gerichtet. Wir gehören zu niemandem. Wir sind Teil eines größeren Ganzen jenseits des Tischs, auf den unsere Eltern die Spielkarten knallen; jenseits dieses Viertels mit seinen mehr oder weniger freundlichen Bewohnern; jenseits des Erdreichs, der Pfützen und der umgeknickten Grashalme.
Wir sind wild, Forscherinnen durch und durch, führen an diesen langen, heißen Tagen ein einfaches und doch erfülltes Leben, während wir um uns herum neue Welten entdecken. Unsere Welt – die Welt von Judy, Kathy und mir.