Siegfried Lenz

Wasserwelten

 

Von Meer und Küste, Fluß und Hafen,

Wracks und Tauchern und dem Glück,

einen Fisch zu fangen

 

Nebst einem Epilog: Kleines Strandgut

 

 

Herausgegeben

von Hanjo Kesting

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2009

Copyright © für diese Zusammenstellung

by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

www.hoca.de

 

ISBN 978-3-455-40258-2

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

Vorwort von Hanjo Kesting    9

 

Meer und Küste    21

Fluß und Hafen    83

Marine    157

Die Wracks und die Taucher    169

Vom Fischen und Angeln    243

Aquariums-Kultur
oder Der große Zackenbarsch    305

 

Epilog: Kleines Strandgut    317

 

Quellenverzeichnis    339

 

Glossar    346

 

 

 

 

 

 

Seit dem Märzmorgen, an dem ich durch das

Eis des Lyck-Sees brach, hatte ich eine besondere

Beziehung zum Wasser – eine Art dämmerndes

Heimweh verbindet mich mit ihm, ein sanfter

neurotischer Eros beginnt wirksam zu werden,

sobald ich unter die Oberfläche tauche; es gab

schon Augenblicke, da hielt ich mich für einen

masurischen, rundköpfigen Bruder Undines.

 

                                          »Ich zum Beispiel«, 1966

Vorwort von Hanjo Kesting

Undines Bruder

Die Wasserwelten des Siegfried Lenz

 

Von früh auf fühlte er sich vom Wasser angezogen, von früh auf war er mit dem Wasser vertraut. Den Lyck-See in Masuren befuhr er als Junge mit dem Boot und dem Binsenfloß, dort lernte er, bevor er lesen lernte, das Schwimmen, Tauchen und Fischen, dort genoß er die Schönheit der Fische, die Verheißungen des Horizonts, die Märchenwelt reglos gespiegelter Kindheit. Dem See bot er seine zarte Freundschaft an, die auch nicht erschüttert wurde, als er an einem Märzmorgen durch das mürbe Eis brach und nur mit Mühe gerettet wurde. Das Unglück nahm er als eine Vertraulichkeit, es befestigte nur sein Verhältnis zum See und zum Wasser.

Früh war bei Siegfried Lenz die Ahnung da, daß er sich auf dem Wasser würde bestätigen müssen: »Ich sah mich als Boot, durchschnitt mit meinem Bug die Wellen, und die einzige Spur, die ich zurückließ, war die schaumige, sacht sterbende Linie des Kielwassers.« So steht es in dem einzigen autobiographischen Text, den wir von Lenz kennen und der mit »Ich zum Beispiel« überschrieben ist. Weiter heißt es da: »In trüber Voraussicht erkannte ich, daß ich meine Höchstleistung auf dem Wasser vollbringen würde.« Noch mit achtzehn, als er sichzur Marine meldete, hielt er sich für einen Favoriten des Wassers, des Meeres, für einen »ausgemachten Günstling der einflußreichen Wassergeister«.

War es nur ein Kindheits- und Jugendtraum? Auch als Schriftsteller ist Siegfried Lenz vom Wasser nicht losgekommen. Das Wasser ist in seinen Romanen und Erzählungen allgegenwärtig, in allen Erscheinungsformen durchzieht es sein Werk: als Meer, als Fluß, als See, als Hafen. Ebbe und Flut bestimmen seinen Rhythmus, Inseln, Küsten, Fjorde, große und kleine Schiffe bilden seine Schauplätze. Sein Personal besteht zu großen Teilen aus Menschen, die am Wasser und vom Wasser leben: Fischer, Angler, Taucher, Matrosen, Hafenarbeiter, Schauerleute. Wenn der Autor der Erzählung »Der Mensch auf dem Meeresboden« einmal verwundert konstatiert, daß sich die meisten Menschen mit dem knappen Drittel Festland auf unserer Erde begnügen, dann gilt diese Feststellung zweifellos nicht für ihn selbst. Siegfried Lenz fühlt sich unwiderstehlich von der weitaus größeren Wasserfläche angezogen, die den Globus bedeckt. Seine Bücher sind ohne das Wasser nicht denkbar. Und wie alle Wasserläufe der Welt zuletzt ins Meer einmünden, so führt auch der Strom von Siegfried Lenz’ Erzählen am Ende unfehlbar zum Wasser, als folge es einem verborgenen Gesetz.

Als ich ihn kennenlernte, vor nunmehr fünfunddreißig Jahren, um ein erstes Gespräch für den Rundfunk mit ihm aufzunehmen, fielen mir zunächst seine Augen auf, Augen von einer tiefen, ungewöhnlichen Bläue, die ihr Gegenüber – so kam es mir vor – nicht fest fixierten undklar ins Auge faßten, sondern in denen etwas Weiches, Verschwimmendes, Flutendes war, fast möchte ich sagen, etwas von der Farbe und der Bewegung des Meeres. Unwillkürlich fiel mir beim Blick in diese Augen die Beschreibung ein, die Sophia Hawthorne, die Frau des berühmten Schriftstellers, von Melville gegeben hat, nachdem dieser zu einem nachbarschaftlichen Besuch nach Lenox gekommen war. Sie rühmt das Wahrnehmungsvermögen seiner nicht sehr großen Augen und fährt dann fort: »Manchmal weicht seine Lebhaftigkeit einem außergewöhnlich stillen Ausdruck in diesen Augen, ein zurückgenommener, verschwommener Blick, der dir gleichzeitig das Gefühl gibt, daß er in diesem Augenblick auf das genaueste wahrnimmt, was vor ihm ist. Es ist ein merkwürdiger, träger Blick, von dem aber eine ganz einmalige Kraft ausgeht. Er scheint dich nicht zu durchdringen, sondern dich in sich aufzunehmen.«

Bei jeder späteren Begegnung mit Siegfried Lenz hat sich dieser Eindruck erneuert, sogar noch über die Bilder des Fernsehschirmes, als bei der Feier seines achtzigsten Geburtstags die Kameras für einige Sekunden auf seinem Gesicht verweilten. Die Vermutung war nicht abzuweisen, dieser Schriftsteller besitze eine besondere Beziehung zum feuchten Element. Tatsächlich ist er, wie vor ihm Melville, aber auch Conrad und Hemingway, ein Schriftsteller des Wassers und des Meeres. Es sind aber nicht die fernen Gewässer der Südsee oder der Karibik, zu denen er sich hinträumt, sondern die heimatlichen Gewässer, die er aus eigener Erfahrung kennt: Nordsee und Ostsee,das Wattenmeer, die nord- und ostfriesischen Inseln, die Seen Dänemarks und Schleswig-Holsteins, die Elbe, der Hamburger Hafen. Die Seekarte des Lenzschen Werkes zeigt eine vertraute Topographie. Das gilt für frühe Erzählungen wie »Das Wrack« und »Die Flut war pünktlich«, die auf der Elbe bzw. am Wattenmeer spielen, und für die Erzählung »Das Feuerschiff«, die ein festliegendes Schiff an der Küste der Ostsee zum Schauplatz hat. Es gilt nicht weniger für den großen Roman Deutschstunde mit seinen wechselnden Schauplätzen: hier das Dorf Rugbüll am nordfriesischen Wattenmeer, wo der Maler Max Ludwig Nansen seine verbotenen Bilder malt, dort die Elbinsel mit der Jugendstrafanstalt, wo der Erzähler Siggi Jepsen seine Geschichte zu Papier bringt: »... schau ich zum Fenster hinaus, fließt da durch mein weiches Spiegelbild die Elbe; mach ich die Augen zu, hört sie nicht auf zu fließen, ganz bedeckt mit bläulich schimmerndem Treibeis.«

Nicht denkbar ist der frühe Roman Der Mann im Strom ohne den Hamburger Hafen und die Präsenz des großen Flusses, der bereits mit den ersten Sätzen ins Bild kommt. In der Erzählung »Einstein überquert die Elbe bei Hamburg« wiederum, einem in nur drei Sätzen erzählten novellistischen Glanzstück, gewinnt der Fluß in aller Genauigkeit des realistischen Details ein quasi surrealistisches Ansehen, als gerieten Zeit und Ort durch den unwirklichen Fahrgast an Bord der Fähre für einen Augenblick aus den Fugen.

Eine andere Erzählung, zwölf Jahre früher entstanden,heißt »Stimmungen der See« und handelt von dem Versuch einer Ostseeüberquerung in einem kleinen Fischkutter. Erzählt wird die – einigermaßen zeittypische – Geschichte einer Flucht aus dem Dritten Reich. Doch im Verlauf der Erzählung verlieren die Personen allmählich an Bedeutung neben dem eigentlichen Protagonisten der Geschichte, dem wandelbaren, launischen, übermächtigen Meer, das sein Gesicht innerhalb weniger Stunden unaufhörlich verändert und das Gesetz des Handelns bestimmt.

Lenz’ Schilderung ist von einer intensiven Genauigkeit, die seine intime Vertrautheit mit den maritimen Vorgängen belegt. Er kennt die »Stimmungen der See«, die wechselnden Farben des Wassers, die unberechenbaren Strömungen, die Launen des Windes, die Wolkenbildungen, die Bewegungen des Bootes, das auf den Wellenkämmen reitet, torkelt, trudelt oder schwojt. Jederzeit ist spürbar, daß der Autor sich nicht nur kurzfristig »kundig gemacht« hat – so wie man sich für einen bestimmten Zweck gewisse, genau umgrenzte Kenntnisse aneignet –, Siegfried Lenz kennt sich tatsächlich aus. Er kennt die Küsten und Inseln, Flüsse und Seen Norddeutschlands, die Gewohnheiten der Bewohner, ihre scheinbar nüchterne Wesensart, ihre Einsilbigkeit und Kurzangebundenheit, ihre schwere, oft mühselige Arbeit, aber auch die Eigenarten der nautischen Berufe: Typen und Formen von Schiffen und Booten, die Handgriffe der Seeleute, ihre Sprache und Fachausdrücke, das besondere Vokabular, das ihre Redeweise prägt. Solche Kenntnis erwirbt sich nicht von heute auf morgen, sie setzt lange Beschäftigung aus Neigung und innerer Affinität voraus.

Siegfried Lenz hat sich einmal einen »Bruder Undines« genannt, aber man könnte ihn auch einen Nachfahren von Odysseus, Robinson und Ahab nennen, von Figuren also, die schon früh seine Phantasie besetzt hielten. Wie sie suchen die Helden seiner Bücher den Kampf, das Abenteuer, die Möglichkeit der Bewährung. Doch bleibt ihnen die Erfahrung des Scheiterns und der Niederlage nicht erspart, auch wenn sie durch Geduld und Ausdauer verzögert wird. Schon in dem frühen Roman Duell mit dem Schatten erklärt der Protagonist: »Am Aushalten ... erkennt man den Grad der Mündigkeit. Aushalten, das heißt, dem Gleichmut der Welt seinen eigenen Gleichmut entgegensetzen.«

Der Satz ist ein Schlüsselsatz für Lenz, eine Konfession des Schriftstellers, der lebenslang geschrieben und »ausgehalten« hat: den Gleichmut der Welt und ihre Widerstände. Wenn zur Vollendung eines Schriftstellers, mit Goethe gesprochen, die Fülle gehört, die Stetigkeit in verschiedenen Lebensphasen, dann gibt es dafür in unserer Literatur kein besseres Beispiel als Siegfried Lenz. In über fünfzig Jahren hat er ein Werk von erstaunlichem Umfang hervorgebracht: vierzehn Romane, über hundert Erzählungen, Theaterstücke, Essays, Reden, Rezensionen, daneben die vielen Forderungen des Tages, denen er sich nicht entzogen hat, ohne der Gefahr zu erliegen, zum »Oberkellner der Aktualität« zu werden.

Das auffälligste Merkmal dieses Schriftstellers ist Stetigkeit, Stetigkeit in jeder Hinsicht und in allen Lebenslagen: in seinem persönlichen Leben, in seiner Beziehung zu bestimmten Orten, im Verhältnis zu seinem Verlag, in seinen literarischen Themen, seiner Technik, seiner epischen Geduld. »Ich habe früh festgestellt«, hat er in einem Gespräch gesagt, »daß, wenn man schreibend leben möchte, Sitzfleisch dazu gehört, nicht nur Inspiration, sondern Sitzfleisch, Starrsinn, Ausdauer.«

Blicken wir einen Augenblick zurück. Lenz’ Debütroman Es waren Habichte in der Luft, der 1951 erschien, handelte von Schrecken und Entscheidungsnot, von der Möglichkeit richtigen und falschen Handelns. Der Roman war durch Thema, Sprache und Form typisch für die frühe Nachkriegszeit. Der Autor zeigte, daß er seine Lektion gelernt hatte – die geschichtliche Lektion eines jungen Deutschen, der im masurischen Ostpreußen geboren worden war und die Heimat seiner Kindheit und Jugend unwiederbringlich verloren wußte. Der als Siebzehnjähriger in den Hitler-Krieg zog und durch ihn seiner Illusionen (wenn er denn welche gehabt hatte) beraubt und um einige schmerzhafte Erfahrungen bereichert wurde. Davon hat Siegfried Lenz in der autobiographischen Skizze »Ich zum Beispiel«, später auch in der Erzählung »Ein Kriegsende« berichtet. Den Satz von André Gide: »Ich baue nur noch auf die Deserteure«, hat er beherzigt, sein Gewehr weggeworfen und sich durchgeschlagen von Versteck zu Versteck in den dänischen Wäldern. Er war neunzehn, als Krieg und Naziherrschaft zu Ende waren, er begann zu schreiben, als die Bundesrepublikgegründet wurde, und er war bereits einer ihrer bekanntesten Schriftsteller, als sie im Wirtschaftswunder blühte und mit ihrer Vorgeschichte allzu schnell fertig zu werden schien.

Dieser Erfahrung, diesem Thema ist Siegfried Lenz niemals entkommen. Vor allem seine beiden dem Umfang nach größten Romane sind davon bestimmt: Deutschstunde und Heimatmuseum, erschienen 1968 und 1978. Diese Bücher stellen so etwas wie epischen Geschichtsunterricht dar, ohne in dieser Kennzeichnung völlig aufzugehen. Nicht zufällig hat Marcel Reich-Ranicki mit Blick auf die beiden Romane Thomas Mann zitiert: »Nicht deutscher kann’s zugehen, als wo Deutsches mit Deutschem gezüchtigt wird.«

Trotz dieser Romane ist Lenz seinem Wesen nach ein Geschichtenerzähler. Die Welt liefert ihm unaufhörlich Stoff für Geschichten. Stoff zugleich für die alte Schriftstellerhoffnung, die Welt durch Geschichten wenn nicht begreifbarer, so doch überschaubarer zu machen. Lenz war ein Wegbereiter der Short Story in der jungen Bundesrepublik, neben Weyrauch und Schnurre, Borchert und Böll – er ist heute ihr letzter großer Vertreter in seiner Generation. Die Kurzgeschichte war nach dem Zweiten Weltkrieg kein literarisches Genre unter anderen, sie war gleichsam Programm. Knapp dem Umfang nach, klar im Umriß, nüchtern in der Thematik, glänzte sie durch eine Eigenschaft, die Alfred Polgar einst an Hemingway rühmte: kein Gramm Literaturfett. Man denke an eine Erzählung wie »Das Wrack« von 1952, die den Autorder 49 Stories – Lenz selbst hat darauf hingewiesen – als literarisches Vorbild unverkennbar durchscheinen läßt. Noch deutlicher sind die Verbindungen zu der im selben Jahr erschienenen berühmten Erzählung »Der alte Mann und das Meer«. Doch hat Lenz sich von Hemingways Feier der Tat, den »Momenten gewaltsamer Erprobung«, allmählich gelöst, um auch die Vor- und Nachgeschichten zu untersuchen und dem notorischen Scheitern die »Vision der Ausdauer« entgegenzusetzen.

Bei Lenz findet man keine zornige Anklage gegen die Gesellschaft (was nicht mit Gleichgültigkeit und Apathie zu verwechseln ist), aber auch keinen verzückten Gebrauch der eigenen Kunstmittel (obwohl er ein Meister des Metiers ist und jüngere Autoren viel von ihm lernen können). Man könnte sagen, daß er erzählt, wie er fischt, doch gilt auch die Umkehrung: Wenn er über die »Kunst, einen Fisch zu fangen« berichtet, erfahren wir gleichzeitig viel über das Handwerk des Schreibens: »Vorbereitung ist alles, und diese Vorbereitung beginnt, wenn die innere Einstellung zur Beute nichts mehr zu wünschen übrigläßt – mit dem Angelgeschirr, mit seiner kunstvollen, bedächtigen Auswahl und Zusammenstellung.« Kennzeichnend für diesen Schriftsteller ist eine epische Behutsamkeit, die ihm den Ruf eingetragen hat, ein Traditionalist zu sein, ein altmodischer Erzähler fast im Sinn des neunzehnten Jahrhunderts. Tatsächlich begegnet in seiner besten Prosa der sensitive Reichtum der russischen Novellisten dem Lakonismus der Angelsachsen.

Das ist nicht als Einwand zu verstehen. Und ist auchvon den Millionen Lesern, die Siegfried Lenz gefunden hat, nicht als Einwand verstanden worden. Obwohl dieser Autor die Welt keineswegs vernunftgemäß eingerichtet findet, will er doch bessern und erleuchten, will aufklären. Beides wird ihm zuweilen angekreidet, wie auch die Haltung des Epikers, die Welt und die Menschen lieber zu verstehen als zu verurteilen. Vor vierzig Jahren hat er, der von literarischen Theorien wenig hält, sein episches Programm formuliert: den Wunsch, wie er damals sagte, einen »wirkungsvollen Pakt mit dem Leser« zu schließen. Da Lenz nie dazu neigte, den Mund voll zu nehmen, brauchte er später wenig zurückzunehmen. Das hat ihn auch davor bewahrt, die politischen Möglichkeiten des Schriftstellers zu überschätzen.

Von der Literatur hat er gesagt, sie sei eine »Wieder- Erfindung der Welt«. Die Formel verblüfft durch ihre Einfachheit, was ihre Gültigkeit nicht einschränkt. Bei dem Versuch, die Welt durch Geschichten zu verstehen, mag die Erfahrung des Scheiterns am Ende stehen, doch ist sie nicht gleichbedeutend mit Resignation. Vielleicht liegt es daran, daß Lenz sich immer wieder, vor allem in seinen Rundfunkarbeiten, mit dem Hamburger Hafen und, als Hinterlassenschaft des Krieges, den »Wracks von Hamburg« beschäftigt hat, die ihn auf eine düstere Weise faszinierten: von dem frühen Hörstück »Die Nacht des Tauchers« (das dem Roman Der Mann im Strom um einige Jahre vorausging) bis hin zu dem späten Dialog »Die Bergung«. Das Wrack in seiner doppelten Bedeutung: als Zeichen des Scheiterns, aber auch als Aufforderung zurBergung, mithin zum Neubeginn, gehört zu den bestimmenden Leitmotiven von Lenz. So wie die Hauptfiguren dieser Texte Taucher sind, so reiht sich der Autor ein in die Garde jener »Gedanken-Taucher«, die, wie Melville schrieb, »zum Grund der Dinge hinabtauchen und mit blutunterlaufenen Augen wieder in die Höhe kommen«.

»Ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen«, hat Siegfried Lenz gesagt. Auch seine Wasserwelten sind reich an Geschichten, die meist nur beiläufige Anstöße brauchen und an scheinbar geringfügige Ursachen anknüpfen. Da reicht ein Weg durch den Hafen aus, um auf Geheimnisse zu stoßen, die in Geschichten verborgen liegen, und ein Spaziergang am Meeresufer genügt, um dem aufgesammelten Strandgut neue Geschichten abzulesen. Wie geht das zu? Man rührt mit der Frage an das Geheimnis der Kreativität. Der Maler Max Ludwig Nansen drückt es in der Deutschstunde mit den Worten aus: »Man beginnt zu sehen, wenn man aufhört, den Betrachter zu spielen, und sich das, was man braucht, erfindet: diesen Baum, diese Welle, diesen Strand.«

Hanjo Kesting, April 2007

Meer und Küste