Birgit Klaus
Tier zuliebe
Vegetarisch leben – eine Kostprobe
Diederichs
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© 2011 Diederichs Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Weiss | Werkstatt | München
unter Verwendung eines Motivs © Diego Diaz / Corbis
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-05876-0
V002
www.diederichs-verlag.de
Wer Tiere quält, ist unbeseelt, und Gottes guter Geist ihm fehlt.
Mag noch so vornehm drein er schauen, man sollte niemals ihm vertrauen.
(Goethe)
Ständig soll ich ein schlechtes Gewissen haben! Mein CO2-Fußabdruck sei enorm groß, höre ich immer wieder. Nicht nur meiner, sondern der eines jeden in der westlichen Welt. Weil wir zu viel Auto fahren, zu viel Energie verbrauchen, auf zu großer Fläche wohnen, zu oft in den Urlaub fliegen, zu oft duschen, zu heiß duschen, zu viel essen, zu viel Essen wegschmeißen – weil wir sind. Ich wohne auf einem »Berg« und ich brauche mein Auto. Zugegeben: Ich fahre auch grundsätzlich lieber Auto, als öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Und ich lebe auf einer relativ großen Fläche. Sind deswegen andere besser als ich? Im ökologischen Sinne vermutlich ja. Der eine oder andere jedenfalls …
Zwar glaube ich nicht, dass jemand seine 100-Quadratmeter-Wohnung aufgibt, um in eine 30-Quadratmeter-Wohnung zu ziehen, nur um seine persönliche CO 2 -Bilanz zu verbessern, aber vielleicht läuft er häufiger mal in die Stadt als ich. Vielleicht duscht er kürzer? Das schlechte Gewissen ist bestimmt – zumindest manchmal – angebracht. Was könnte ich also tun, um all jenen etwas entgegenzusetzen, die mit dem erhobenen Zeigefinger vor meiner Nase rumfuchteln? Kein Fleisch mehr essen, das wäre doch was. Das tut am wenigsten weh – dachte ich mir im Frühjahr 2010 und spielte mit dem Gedanken, das Fleischessen auf Zeit mal einzustellen. Mein persönlicher CO 2 -Fußabdruck würde sich dadurch enorm verringern, denn immerhin verursacht weltweit die industrielle Tierzucht mehr schädliche Treibhausgase als der gesamte Verkehr.
Das waren sie also, meine ersten Überlegungen, einige Wochen bevor ich auf vegetarische Kostprobe ging. Doch je mehr ich mich mit der Materie beschäftigte, desto wichtiger wurde mir eine andere Sache: das Leid, das wir Tieren zumuten für ein bisschen Genuss. Steht das im Verhältnis? Wer gibt dem Menschen das Recht, sich so selbstverständlich anderer Lebewesen zu bedienen? Wir brauchen kein Fleisch zum Überleben – wir sind keine Inuit, die auf Robbenfleisch angewiesen sind, weil sich auf Eis schlecht Getreide anbauen lässt. Wir essen trotzdem Fleisch – viel und billiges Fleisch. Und behelfen uns dazu einer typisch menschlichen Eigenschaft: dem Verdrängen, das auch ich gut beherrschte.
Für meine »Kostprobe« wollte ich den Schalter im Kopf umlegen und sehen, was passiert, wenn ich mit offenen Augen durch die Welt gehe, wenn ich die unbequemen Gedanken an das gequälte Dasein unserer Mitgeschöpfe zulasse, wenn ich mich ernsthaft mit ihnen auseinandersetze. Und ich wollte auf Entdeckungstour gehen. Ich wollte sehen, ob man auch als genussfreudiger Mensch, für den ich mich halte, Alternativen zum Fleisch findet, die den Gaumen und die Sinne befriedigen, denn schließlich schmeckt mir Fleisch.
Im Laufe meines Experiments setzte dann ein nie dagewesener Boom ein: Zeitungen und Zeitschriften entdeckten das Thema Vegetarismus. Die Artikel schossen wie Pilze aus dem Boden. Bücher erschienen, darunter zwei Bestseller, in Talkshows wurde diskutiert. Und je größer das Thema in den Medien gehandelt wurde, desto vielschichtiger wurden die Aspekte, die zutage traten. So wurde mir im Zuge meiner Recherchen klar, dass ich konsequenterweise Veganerin werden müsste. Denn auch konventioneller Käse ist ein Klimakiller 1 und auch für Käse werden Tiere gequält – bei der Herstellung braucht man Lab aus den Mägen von Kälbern. Einblicke in die industrielle Milchproduktion lassen einen auch nicht besser schlafen. Wer ist schon dafür, dass Kühen sofort nach der Niederkunft ihre Kälber weggenommen werden, dass sie ihren Nachwuchs nicht einmal kurz beschnuppern und stillen dürfen …
Doch Veganismus wäre Stoff für ein weiteres Experiment, ein zweiter Schritt – irgendwann vielleicht. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Und wenn Sie Ihr Haus umweltgerecht sanieren, beginnen Sie vielleicht mal mit den Fenstern oder mit dem Dach … später dämmen Sie die Mauern. Ich wollte meinen Selbstversuch praxisnah gestalten. Ich wollte sehen, wo die Hürden und Stolpersteine sind in unserer auf Fleischkonsum ausgerichteten Gesellschaft, erleben, wie ich mich verändere und wie mein Umfeld auf mich reagiert. Ich wollte einfach mal aufhören, Fleisch zu essen. Tier zuliebe.
Birgit Klaus
Baden-Baden im April 2011
»Möchtest du mit uns grillen?«, fragt mich mein 19-jähriger Sohn Nicolas mit funkelndem Tatendrang in den Augen. Er hat ein paar Freunde eingeladen und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Ich sitze am Computer auf dem Dachboden und arbeite. Es ist zwar Wochenende, aber ich muss noch ein paar Texte schreiben. Das herrliche Wetter habe ich bisher erfolgreich ignoriert: Die Jalousien sind schon den ganzen Tag halb runtergezogen und die doppelt verglasten Fenster lassen das Gezwitscher der Vögel außen vor. Die würden laut verkünden, dass er endlich da ist, der erste, lang herbeigesehnte laue Sommerabend in diesem Jahr 2010, das bisher nicht viel zu bieten hatte an Sonne und Wärme. Ein Abend wie geschaffen dafür, den Grill im Garten anzuschmeißen. Arbeiten kann ich morgen schließlich auch noch. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Grillen? Ich bin doch frischgebackene Vegetarierin! Ich darf ja weder Steak noch Wurst auf den Rost werfen!
Soll das meine Zukunft sein: Ausschluss vom kulinarisch gekrönten Zusammenkommen mit Freunden? Als ich vor vier Wochen aufgehört habe, Fleisch zu essen, habe ich an solche Situationen gar nicht gedacht. Ich hatte mich im Vorfeld nicht wochenlang mit detaillierten Ernährungsplänen beschäftigt, keine Fachliteratur über Vegetarismus gewälzt oder weise Ratschläge von vegetarischen Mitstreitern eingeholt. Nicht einmal entsprechend eingekauft habe ich vor dem Tag X. Ich habe einfach aufgehört. Wie konnte ich das übersehen?, frage ich mich jetzt, da ich mich ausgeschlossen fühle vom kollektiven Genuss. War es womöglich der falsche Zeitpunkt?
Die Frage hat für die Menschen nicht zu lauten: Können die Tiere denken? Sondern sie hat zu lauten: Können die Tiere leiden? Darüber aber gibt es wohl keinen Streit, und das Wissen um diese Leidensfähigkeit muss daher die Hauptsache sein bei jeder Betrachtung der Tierseele durch den Menschen.
(Jeremy Bentham)
Es ist ein kühler Sonntag und ich bin mit meinem Freund im südlichen Schwarzwald unterwegs, in einer Gegend, in der einem kaum eine Menschenseele begegnet. Idyllisch ist es im Hotzenwald. Nach einer dreistündigen Wanderung kommen wir zurück zum Ausgangspunkt, einem Waldparkplatz an einer wenig befahrenen Landstraße. Vielleicht alle zehn Minuten kommt hier mal ein Auto vorbei. Wir packen gerade unsere Jacken und Rucksäcke in den Kofferraum, als wir Zeugen eines Unfalls werden: Ein kleines weißes Kätzchen huscht über die Straße und wird ausgerechnet von dem einzigen Fahrzeug weit und breit erfasst. Der Fahrer des Geländewagens bremst kurz ab, wirft einen Blick in den Rückspiegel und drückt dann gleich wieder aufs Gaspedal. Zurück bleibt die angefahrene Katze, die jämmerlich maunzend mitten auf der Fahrbahn liegt. Eine kleine Blutlache hatte sich unter ihr auf dem Asphalt gebildet. Ratlos und schockiert stehen wir am Straßenrand. »Schau nicht hin«, meint mein Freund, aber das kann ich nicht. »Wir müssen etwas tun!«, rufe ich in meiner Verzweiflung.
Aber was? So grausam es klingt, es wäre ein Akt des Erbarmens, ins Auto zu steigen und das Kätzchen noch einmal zu überfahren. Aber wer soll das tun? Ich auf keinen Fall. Wie verdammt hilflos man in solch einer Situation ist! Die 110 wählen ist wohl auch keine Option – erstens, was soll ich da sagen? »Wir stehen gerade irgendwo im Hotzenwald, wie das nächste Dorf heißt, weiß ich nicht, aber da liegt eine kleine Katze halb überfahren auf der Straße. Ob sie noch lange lebt, wissen wir nicht, aber sie schreit erbärmlich und Sie müssen sofort kommen und helfen.« Zweitens habe ich keinen Empfang.
Ich schaue also weg und wieder hin, weg und wieder hin und hoffe, dass ein schneller Tod das Tier erlöst. Ist es nicht schon halb tot? Doch dann dreht sich die Katze aus eigener Kraft um und kauert auf allen vieren. Sie schaut mich mit großen Augen an und miaut leise. Sie ist also doch nicht halb tot, sie kommuniziert mit mir – oder versucht es jedenfalls. Ich muss auf die Straße gehen und sie wegtragen, denke ich. Wird sie mich beißen und kratzen? Sind verletzte Tiere nicht unberechenbar? Was, wenn ich ihre Verletzungen verschlimmere oder ihr noch mehr wehtue? Während mir diese Fragen durch den Kopf schwirren, kommt noch ein Auto angerast und überrollt das Tier zum zweiten Mal. Es zuckt noch kurz, aber diesmal überlebt das Kätzchen es nicht. Es ist tot, niedergestreckt von zwei Autos, deren Fahrer nicht einmal anhalten, um zu sehen, was sie angerichtet haben.
Das Bild des Kätzchens geht mir tagelang nicht aus dem Kopf. Immer wieder sehe ich vor mir, wie es sich mühsam umdrehte und mich Hilfe suchend, flehend anmiaute. Wie zum zweiten Mal ein Auto drüber donnerte und das Tier leblos liegen blieb. Wie hilflos ich mich gefühlt habe. Doch allmählich drängt sich ein anderer Gedanke zwischen diese Szenen: So wie das Kätzchen leiden andere Tiere Tag für Tag. Rinder, Schweine, Hühner. Nicht weil Autos sie versehentlich überfahren, sondern weil Menschen sie halten, um sie zu töten.
All die Gedanken, ob ich aus meiner Verantwortung für die Umwelt heraus Vegetarierin werden sollte, stehen nun als Motivation nur noch an zweiter Stelle, denn das Projekt »fleischlos leben« hat ein Gesicht bekommen. Ein Tier, dessen Leiden ich mit ansehen musste, steht stellvertretend für die vielen, die im Verborgenen leiden. Es ist der Moment, an dem ich mir vornehme, fortan mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und Argumente für und Informationen über Vegetarismus zu sammeln, mit dem Ziel: aus Einsicht eines Tages ohne Mühe auf Fleisch verzichten zu können. Die Ergebnisse meiner Recherchen überraschen mich nicht wirklich, vieles ist einem ja in irgendeinem Hinterstübchen schon bewusst, aber wenn ich einen unverklärten Blick auf die Fakten werfe, wird mir klar: Ich muss Konsequenzen aus meinem Wissen ziehen.
Gerechter Gott! Aus wie vielen Marterstunden der Tiere lötet der Mensch eine einzige Festminute für seine Zunge zusammen!
(Jean Paul)
Sie kreischen in Panik und vor Schmerz. Eigentlich werden Schweine vor der Schlachtung entweder mit Kohlendioxid oder der Elektrozange betäubt, aber beide Methoden können nicht gewährleisten, dass die Tiere auch wirklich das Bewusstsein verlieren. Bei der Betäubung mit CO2 kommt hinzu, dass die Tiere für 10 bis 20 Sekunden unter Erstickungsängsten leiden, bevor die Wirkung des Gases einsetzt. Als Nächstes landen die Tiere auf einem Förderband, an dem der sogenannte »Stecher« auf sie wartet. Der soll das Tier vor dem anschließenden Verbrühen ausbluten lassen. Jedem Schwein bleiben bei der durchschnittlichen Taktung zwei Sekunden zum Sterben. Der Haken dabei ist, der Stecher trifft bei dem hohen Schlachttempo (in den hochindustrialisierten Schlachthöfen 1500 Schweine pro Stunde) nicht immer die großen Gefäße des Tieres. Diejenigen, die deshalb nicht rechtzeitig ausbluten oder gar von dem Stecher übersehen werden, kommen wieder zu Bewusstsein – wenn sie es überhaupt verloren haben – und werden bei lebendigem Leibe verbrüht.
Das passiert bei einem Prozent der Schweine, durchschnittlich bei 15 Schweinen pro Stunde, schätzt Klaus Tröger. Er ist Tierarzt und Leiter des bundeseigenen Instituts für »Sicherheit und Qualität bei Fleisch« in Kulmbach und beklagt, dass es keinerlei Kontrollsystem gibt, das meldet, wenn die Tötungsstrategie versagt hat, um lebende Tiere vor dem Verbrühen zu schützen. So werden in Deutschland rein rechnerisch jährlich über 500 000 Tiere bei der Schlachtung unnötig gequält. Bei Rindern verläuft die Tötungsmaschinerie übrigens nicht besser. Bei ihnen wird seit Jahrzehnten per Bolzenschuss getötet, der aber zu oft sein Ziel verfehlt, da ein Rinderhirn gerade mal apfelsinengroß ist. Der Todesschuss geht bei bis zu 7 Prozent der Tiere vorbei und rund 200 000 Rinder sterben jährlich eben nicht den sogenannten »Gnadentod«.
Und wie sieht es aus bei den Hühnern? Gezüchtet werden nur noch Hochleistungsrassen: Legehennen oder Masthühner. Bei den Hühnern herrscht die höchste Industrialisierung in der Tierzucht überhaupt. Sie stammen aus den Labors einiger weniger weltweit operierender Zuchtfirmen. Nur zwei große Firmen beherrschen fast den gesamten weltweiten Markt der Hybridtiere – das sind die Legehennen, die zwischen 280 und 310 Eier pro Jahr legen können, und die Masthühner, die zehnmal mehr Brustfleisch bei halb so viel Futter ansetzen als normale Hühner. Die Zeiten, in denen »normale« Hennen die Eier lieferten und die Hähne das Fleisch, sind längst vorbei. Diese »Zweinutzungshuhn« oder »Zwiehuhn« genannten Tiere sind heute unwirtschaftlich.
Für den bundesdeutschen Konsum werden 60 bis 70 Millionen speziell gezüchtete Hochleistungslegehennen benötigt, da wir Deutsche im Jahr durchschnittlich mehr als 200 Eier pro Person verzehren – gerechnet werden hierbei nicht nur die Frühstückseier, sondern auch die vielen Eier, die sich als Zutat in anderen Lebensmitteln verstecken, in Nudeln, Knödelteig, Fertigsuppen und -saucen, in Brotaufstrichen, Majonäse und Salat-Dressings, außerdem in vielen Süßigkeiten, zum Beispiel in Pralinen, Keksen oder Kuchen.
Die Legehennen, die uns diesen enormen Konsum ermöglichen, müssen in einer Legehennenbrüterei zunächst ausgebrütet werden. Da man sich das Geschlecht des Kükens im Ei (noch) nicht aussuchen kann, zeigt sich erst nach dem Schlüpfen, ob das Küken erwünscht ist. Gut die Hälfte der bebrüteten Eier sind »Ausschuss«: alle Männchen nämlich, die deshalb »Eintagsküken« genannt werden. Klingt niedlich. Man denkt dabei vielleicht an Eintagsfliegen, die vor Sonnenuntergang sterben, weil ihre Lebensuhr eben abgelaufen ist. So ist das bei den Küken aber nicht. Nachdem das Küken geschlüpft ist, wirft man einen kurzen Blick auf die Stelle, die Auskunft über das Geschlecht gibt – es wird »gesext«, so der Fachbegriff. Wenn es ein Männchen ist, wird es so achtlos in eine Tonne mit Gas geworfen, als wäre es ein fauler Apfel. Rund 30 Sekunden dauert der jämmerliche Erstickungstod des Kükens. In veralteten Betrieben landet es gar im Häcksler, der den »Ausschuss« zu »Kükenmousse« verarbeitet, wie es im Fachjargon heißt.
Und das klassische Masthuhn? Das Küken kostet mit 33,15 Cent weniger als eine Kiwi. Es wiegt nach dem Schlüpfen 40 Gramm und kommt zunächst in den Stall – aber nicht in den eines klassischen Landwirts, sondern in den eines abhängigen Lohnmästers. Schon drei Tage später muss sich seine Körpermasse verdoppelt haben. Nach einem Monat wiegt es 38-mal mehr als am Tag des Schlüpfens. Der Preis für das Küken hat sich aber nicht verachtunddreißigfacht: Für das ausgewachsene Masthuhn erhält der Mäster gerade mal 90 Cent. Das Leben des Huhns ist kurz: nämlich zwischen 30 und 38 Tage. Im Handel ist es dann als tief gefrorenes Hähnchen zu einem Kilo-Preis von 1,63 bis 2,99 Euro zu haben. Ein Hähnchen aus biologischer Erzeugung würde im Vergleich pro Kilo zwischen 7,95 und 10,30 Euro kosten.
Den einen Monat ihres Lebens vegetieren die Hühner auf engstem Raum zusammengepresst vor sich hin. Bewegung stünde ihnen aber auch bei mehr Raum nicht offen, denn ihre Knochen entwickeln sich viel langsamer als ihr Brustfleisch, das durch die Zucht auf schnelles Wachsen programmiert wurde. Am Ende ihrer 30 Tage werden die Hühner von Sammelmaschinen »geerntet«. Das bedeutet: Eine Maschine mit Gummifingern fährt durch den Stall und befördert die Tiere auf ein Fließband. Von dort werden sie in Kisten gesteckt, die ein LKW zur Geflügelschlachterei bringt. Hier landen sie wieder auf einem Förderband und jetzt fährt das Huhn – langsam, damit es keinen Stress empfindet – seinem Tod entgegen. Wer meint, da stecke womöglich Mitgefühl dahinter, der irrt. Das Huhn soll keinen Stress empfinden, weil sein Fleisch sonst fasrig zu werden droht. Und das möchte man dem Endverbraucher ersparen. Eineinhalb Stunden dauert deshalb diese letzte »Reise« eines Masthuhns. In manch einem Schlachthof treten mehr als 12 000 Tiere in dieser Zeit die Reise an. Am Ende gleiten die Tiere durch eine Röhre, in der sie mit Kohlendioxid betäubt werden, dann werden sie getötet. In älteren Schlachtanlagen läuft es anders ab: Dort werden die lebendigen Tiere mit den Füßen an einer Förderkette aufgehängt und ihr Kopf in ein Wasserbad getaucht, das unter Strom steht. So oder so ähnlich ergeht es Hühnern täglich milliardenfach auf der ganzen Welt. Und es werden nicht weniger: Wurden 1960 noch sechs Milliarden Hühner geschlachtet, sind es heute 45. 2
Weit abgeschottet von uns erleben Milliarden Tiere also in den Schlachthöfen tagtäglich Panik, Schmerzen und Qualen. Doch das Tier im Schlachtbetrieb wird von uns nicht als Kreatur wahrgenommen. Wir machen uns keine Gedanken darüber, wie die letzten Minuten des Hühnerschlegels oder des Wiener Schnitzels auf unseren Tellern ausgesehen haben mögen – klar, sonst würde uns ja auch der Appetit vergehen. Wir leben besser damit, wenn wir es einfach mit einem »Stück« Fleisch zu tun haben. Das ist grotesk. Denn gerade das, was uns Menschen als Spezies auszeichnet, ist Empathie, die Fähigkeit, mitfühlen zu können.
Mitleid mit Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, dass man zuversichtlich behaupten darf: Wer gegen Tiere grausam ist, kann kein guter Mensch sein.
(Arthur Schopenhauer)
Das Mitfühlenkönnen ist ein wertvolles Gut. Es ermöglicht soziales Miteinander und das wiederum das Entstehen von Kultur. Diese Kette ist es, die im Laufe der Evolution den Menschen eben zum Menschen gemacht hat – eine These, die viele Forscher vertreten, zum Beispiel auch der niederländische Zoologe und Anthropologe Carel van Schaik. »Kultur macht schlau«, sagt er. Schaik ist nicht nur Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich, sondern auch international anerkannter Primatenforscher. In einem Orang-Utan-Forschungsprojekt im Regenwald von Tuanan in der indonesischen Provinz Zentralkalimantan auf Borneo versucht er die These zu belegen, dass es neben kulturellen Innovationen nicht zuletzt eben auch die Empathie ist, die zum hohen Entwicklungsstand des Menschen geführt hat. Während Evolutionsbiologen normalerweise den Zeitpunkt der Menschwerdung dort festlegen, wo wir begannen, Werkzeuge zu benutzen, hält van Schaik einen anderen Moment für entscheidend: nämlich als wir anfingen, in Familienverbänden zu leben. Genau da machte unser Gehirn seiner These nach einen gewaltigen Sprung.
Van Schaik will also genau wissen: Weshalb hat sich vor etwa acht bis sechs Millionen Jahren die eine Affenart so weiterentwickelt, dass sie heute Sonden zum Mars oder Men schen auf den Mond fliegen kann, während die andere im Dschungel geblieben ist? Viele Primatenforscher heben immer wieder hervor, dass Mensch und Menschenaffe im Wesentlichen gleich seien – schließlich haben sie zu 98,7 Prozent die gleiche Erbsubstanz. Den kleinen, aber entscheidenden Unterschied macht die Hirngröße: Das Gehirn eines Menschen ist dreimal größer als das der Menschenaffen. Wie kommt es? Wann und vor allem warum fing unser Gehirn zu wachsen an? Eine Frage, die viele Nicht-Vegetarier gerne zum Anlass nehmen, um zu betonen: Nur dank des hochwertigen Eiweißes aus dem Fleisch sei das Gehirn des Menschen größer geworden.
Aber was ist das für ein Argument? Selbst wenn unsere aasfressenden Vorfahren vor zwei Millionen Jahren durch die Gegend streiften, um hier und da das Gehirn oder das Knochenmark eines von Raubtieren zurückgelassenen Kadavers zu essen – was für eine unappetitliche Vorstellung – und sie dadurch in den Genuss langkettiger, mehrfach ungesättigter Fettsäuren kamen, die das Gehirnwachstum begünstigt haben könnten – es gibt genügend Raubtiere, die ständig tierisches Eiweiß zu sich nehmen und trotzdem haben sie ein viel kleineres Hirn als der Mensch. Und warum? Weil sie laut van Schaik eben nicht dieselbe Initialzündung hatten. Als der Homo erectus, der erste Vertreter der Gattung »Homo«, vor ca. zwei Millionen Jahren als Jäger und Sammler durch die Savanne zog, war sein Gehirn zwar schon recht groß, zwischen 700 und 900 Kubikzentimeter, aber das entscheidende Wachstum setzte erst ein, als er anfing, sich gemeinsam mit anderen um seine Jungen zu kümmern. Die gemeinsame Aufzucht, für die Empathie und Abstimmung notwendig waren, ließ laut van Schaik neue Strukturen, Gehirnwindungen und -verbindungen sprießen und das kostbare Organ stetig wachsen. Aber warum hat das Gehirn der Menschenaffen keinen Sprung gemacht? Leben die nicht zum Teil auch in familienartigen Strukturen? Das möchte ich von Carel van Schaik wissen, der soeben erst von einer Südafrika-Expedition zurückgekehrt ist. Ein Anruf am anthropologischen Institut beschert mir eine freundliche Aufklärung, bei der ich als frühere alleinerziehende Mutter im ersten Moment allerdings leicht zusammenzucke:
Menschenaffenmütter sind alle alleinerziehend, während Menschenmütter, zumindest bei den Jägern und Sammlern, immer von vielen Seiten Hilfe bekommen. Wir haben also andere Familienstrukturen. Die gemeinschaftliche Jungenaufzucht hat eine neue Psychologie hervorgerufen, die im Allgemeinen eine größere Zusammenarbeit ermöglicht und allmählich größere Hirne gefördert hat (und energetisch ermöglicht). Es ist ein allgemeiner Trend unter Tieren, dass größere Intelligenz sich besser durchsetzen kann unter den Bedingungen der gemeinschaftlichen Jungenfürsorge. Das ist jedenfalls der Kern des Argumentes.
Das Gehirn ist mit dem sozialen Lernen also geradezu explodiert und der Homo infolgedessen schlauer geworden. So ist tatsächlich auch der Neocortex, der für das Mitfühlen im Gehirn zuständig ist, der neuere Teil unseres Gehirns. Dass nicht allein der Verzehr von tierischem Eiweiß uns im Laufe der Jahrmillionen zu Menschen gemacht hat und wir deshalb in ewiger Dankbarkeit geradezu verpflichtet sind, auf immer munter weiter Tiere zu töten und zu essen, wie das manch ein ideologischer Fleischesser gerne hätte, ist eindeutig. Heute brauchen wir kein Fleisch mehr, weder um uns weiterzuentwickeln noch zum Überleben. Wir können uns frei entscheiden. Und leider entscheiden wir uns oft dazu, das Leid vieler Tiere einfach zu ignorieren – das klingt angesichts der Wichtigkeit der Empathie in unserer Vorgeschichte wie ein Rückschritt.
Gleichzeitig kann die Empathie im Umgang mit Tieren auch bizarre Formen annehmen. Ich denke an eine mir bekannte ältere Dame, eine Dackelbesitzerin, die ihren Hund derart verwöhnt, dass ich mich richtig abgestoßen fühle. Vom Feinkost-Hundefutter über das schicke Wintermäntelchen bis zum Schlafplätzchen mit Deckchen auf dem Sofa. Nichts ist zu gut oder zu teuer für den Dackel.
Wie geht es zusammen, dass jemand wie die ältere Dame ihren Hund behandelt wie ein geliebtes Kind, aber gerne auch ein »Stück« Fleisch verspeist, ohne zweimal darüber nachzudenken, was es einmal war, ob dieses Tier ein geschundenes Dasein in einem Mastbetrieb führte, bevor es möglicherweise unter Schmerzen geschlachtet wurde, um möglichst günstig auf dem Teller zu landen? Es ist paradox.