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© 1. Auflage: Februar 2015
Sina Blackwood
Coverbilder: | © DM7 - Fotolia.com |
Umschlaggestaltung: | Sina Blackwood |
Layout: | Sina Blackwood |
Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7386-9709-4
Als Sir James noch ein Dreikäsehoch war, bläute ihm sein gestrenger Vater ein, den Nebelwald zu meiden. Das Warum, blieb dabei stets unbeantwortet.
Als folgsamer Sohn hielt James das Verbot auch peinlichst genau ein. Jedenfalls bis zu jenem Tag, als er seine Knappenausbildung mit Bravour hinter sich gebracht hatte und er zum Ritter geschlagen wurde.
Sir Edward, James’ Vater, war auch jetzt nicht geneigt, nur eine einzige Frage über den Wald zu beantworten. Jedes Mal, wenn James das Thema auch nur von Ferne streifte, sprang der alte Herr auf, funkelte seinen Sohn wütend an und warf geräuschvoll die Tür hinter sich zu.
Genau so wenig konnte James über seine Mutter in Erfahrung bringen. Es hieß, sie sei wenige Tage nach seiner Geburt verstorben. Wen der junge Ritter auch fragte, niemand konnte oder wollte ihm Auskunft geben.
Weder darüber, wo man sie begraben, noch warum man ihre Bilder von den Wänden genommen hatte.
Edward hatte sogar das komplette Personal entlassen und neue Dienerschaft eingestellt. Aus der Familienchronik waren mehrere Seiten herausgerissen worden und selbst in den Annalen der Dorfältesten fehlten jegliche Hinweise auf Lady Ann.
Heute war wieder einer jener Tage gewesen, an dem sein Vater wegen einer Kleinigkeit wie ein gereizter Tiger reagiert hatte.
Noch bevor sich hinter ihm die Tür schloss, rief James: „Ihr wollt es offenbar nicht anders! Noch heute reite ich in den Wald, um endlich Klarheit zu bekommen, was hier gespielt wird!“
„Das werdet Ihr nicht tun!“ Edward blieb stehen, als sei er gegen eine Mauer gelaufen. Der Farbwechsel von Zornesrot zu Leichenblass geschah im Bruchteil einer Sekunde.
„Wer sollte mich daran hindern?!“ James ging mit erhobenem Haupt an ihm vorbei und schloss beinahe lautlos die schwere eisenbeschlagene Tür.
Sir Edward lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Er kannte nur eine Person, die dies bisher fertiggebracht hatte – Lady Lilian.
Manchmal hatte er sogar geglaubt, schwerhörig zu sein. Lilian erschien plötzlich, ohne dass man den Hall der Schritte gehört hatte, wie bei allen anderen Bewohnern der Burg. Aber diese anderen hatten auch ständig das Gefühl gehabt, Lady Lilian würde schweben, statt gehen. Und auch die Türen schloss sie ohne Geräusch, genau, wie James es soeben, wohl zufällig getan hatte.
Zumindest hoffte Edward auf den Zufall. Denn anderenfalls … Der Gedanke trieb ihm Angstschweiß auf die Stirn.
Das Trommeln galoppierender Pferdehufe auf der Zugbrücke ließ ihn zusammenzucken. Mit einem Satz, den man dem alten Mann nicht zugetraut hätte, stand er am Fenster. Er konnte gerade noch sehen, wie James in einer Staubwolke zum Tor hinaus ritt.
Der Nebelwald machte seinem Namen alle Ehre, wie James beim Näherkommen rasch feststellte. Aus der sengenden Glut der Julisonne auf den Wiesen ringsumher, tauchte er in eine düsterte feuchtkalte Welt ein, kaum dass er die ersten Bäume erreicht hatte.
Sein Pferd begann ängstlich zu schnaufen und er hatte Mühe, das scheuende Tier vorwärts zu bringen. Unwillkürlich fasste er nach dem Knauf seines Schwertes.
Das würde Euch hier auch nichts nutzen, hörte er eine Stimme ziemlich deutlich in seinem Kopf.
„Zeigt Euch!“
Wollt Ihr das wirklich?
„Wer seid Ihr?“, hauchte er, sich umschauend.
Manche nennen mich die Herrin dieses Waldes. Andere heißen mich eine Kräuterfrau. Doch für die meisten bin ich eine Hexe. Wollt Ihr mich noch immer sehen?
„Ich bitte darum.“ James zügelte sein Ross. „Wo seid Ihr?“
„Genau vor Euch.“
James starrte in den wabernden Dunst, aus dem sich langsam eine schlanke Frauengestalt herausschälte.
Als Erstes fielen ihm ihre wundervollen strahlend blauen Augen auf. Sie schienen den Nebel wie kleine Lichter zu durchdringen. Das lange rötliche Haar umschmeichelte in sanften Wellen ihren Oberkörper.
James schaute und staunte. Hexen hatte er sich völlig anders vorgestellt – alt, verhutzelt, abstoßend. Dieses Wesen hatte etwas Engelsgleiches.
„Zufrieden mit der Betrachtung?“
Der spöttische Unterton brachte James in die Realität zurück.
„Ja sehr“, seufzte er, ehe er sich zusammennahm. „Verzeiht, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Ich bin James …“
„Spart Euch die Worte, Herr Ritter. Ich weiß sehr wohl, wen ich vor mir habe.“
Ob die Falte zwischen ihren Augenbrauen tatsächlich vorhanden war, oder ob er sie sich eingebildet hatte, wusste James nicht. Nur, dass ihre Stimme nicht sehr erfreut geklungen hatte.
„Ihr seid mir nicht wohlgesonnen“, murmelte er.
„Schön, dass Ihr es bemerkt.“
Ihre Worte trafen ihn wie Nadelstiche.
„Es war nicht meine Absicht, Euch zu belästigen. Ich werde sofort umkehren. Vergebt mir bitte, wenn Ihr könnt.“
James griff nach dem Zügel.
„Ihr geht, wenn ich es Euch erlaube! Betrachtet Euch bis dahin als Gefangenen.“
James erschrak nicht einmal. „Wünscht Ihr, dass ich meine Waffen ablege?“
Er erhielt spöttisches Lachen und belustigtes Abwinken zur Antwort. „Eure Spielzeuge fürchte ich nicht. Ihr macht mich nur neugierig. Noch nie habe ich einen Mann getroffen, der wie Ihr in sich ruhte. Folgt mir!“
Schweigend machte sich die Schöne auf den Weg tief in den Wald hinein. James sprang vom Pferd, das er am Zügel hinter ihr her führte. Seine Gefühle hätte er nicht beschreiben können. Zumindest wähnte er sich in keiner Weise bedroht.
Obwohl sie ihm die ganze Zeit den Rücken zuwandte, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, sich heimlich davonzuschleichen. Bei einem Mann hätte er allerdings schon zig Mal versucht, ihn in seine Gewalt zu bringen und den Spieß gründlich umzudrehen.
„Glaubt nicht, dass ich nicht kämpfen kann, nur weil ich eine Frau bin!“
Diesmal zuckte James heftig zusammen. „Ihr … Ihr könnt Gedanken lesen?“, stammelte er.
„Scheint so.“ Sie wandte sich nicht einmal um.
Er hingegen begann nun, sie noch eingehender zu betrachten. Nur konnte er das amüsierte Lächeln nicht sehen, das wie eingemeißelt in ihren Mundwinkeln stand.
Schließlich kicherte sie: „Ich werde mich schadlos halten, wenn Ihr Eure Rüstung ablegt.“
„Ach herrje! Das kann ja heiter werden.“ James musste ebenfalls schmunzeln. Er stellte sich vor, wie sie ihren Blick genüsslich über seinen Körper huschen ließ, worauf in ihm ein wohliges Gefühl aufstieg.
Die Herrin des Waldes blieb stehen, musterte ihn von Kopf bis Fuß, zog eine Augenbraue nach oben, machte eine neckische Bewegung mit dem Kopf: „Ich freue mich darauf. Für den Augenblick solltet Ihr allerdings mehr als Euer Pferd zügeln.“
„Ach herrje!“
„Ihr wiederholt Euch.“
„Punkt für Euch, meine Schöne.“
„Ahhh, endlich taut Ihr etwas auf. Ich hoffe doch, Ihr seid auch auf dem Kampfplatz der Worte nicht ganz ungeschickt.“
„Ich bin eher ein Mann der Tat als vieler Worte“, entgegnete James.
Sie taxierte ihn noch einmal äußerst interessiert. „Das will ich doch stark hoffen.“
James gab es auf, sie verstehen zu wollen. Diese Frau war ein Buch mit sieben Siegeln.
Hinter der nächsten Wegbiegung tauchte eine kleine Lichtung auf, an deren nördlichem Rand ein solide wirkendes Holzhaus stand. Auf dieses hielt die geheimnisvolle Fremde nun zu.
„Versorgt Euer Pferd, Sir James! Ich erwarte Euch drinnen.“ Sie steckte noch einmal den Kopf zur Tür heraus. „Ihr werdet doch hoffentlich ohne Dienerschaft klarkommen?!“
James nickte. Als sie es nicht mehr sehen konnte, schüttelte er ungläubig den Kopf. Nach verschärfter Haft sah es ganz und gar nicht aus.
Er beeilte sich, ihre Anweisungen zu erfüllen. Zuerst führte er sein Pferd an die Tränke und anschließend in den kleinen Stall neben dem Häuschen, wo er ihm den Sattel abnahm. Den hängte er an einen Haken an der Wand.
Bevor er das Häuschen betrat, wusch er sich Gesicht und Hände.
„Legt Eure Waffen auf die Truhe neben der Tür“, sagte seine schöne Kerkermeisterin beiläufig, denn sie rührte emsig in einem großen Topf auf dem Herd.
James deponierte auch seinen Brustharnisch und die Beinschienen an der Tür.
„Wollt Ihr Euch nicht setzen?“
Über James’ Gesicht flog ein heiteres Lächeln. „Wollt Ihr mich nicht über die Haftbedingungen aufklären? Was habe ich zu tun und was zu lassen?“
Sie spitzte die Lippen. „Die sind rasch erklärt. Ihr dürft Euch im Haus, sowie auf der Lichtung, frei bewegen, und habt mir in allem zu gehorchen. Fluchtversuche sind zwecklos. Ihr dürft Wünsche äußern. Ob ich sie erfülle, steht auf einem ganz anderen Blatt.“ Dann wandte sie sich wieder dem Topf zu.
Dabei wirkten ihre Bewegungen auf James so anmutig wie ein Tanz. Sein Blick klebte förmlich an ihr. Sie schien es zu fühlen, denn sie drehte sich mit schelmisch blitzenden Augen zu ihm um, wobei sie mit dem Ellenbogen einen Krug von der Herdkante stieß.
Noch bevor es den Boden berührte, fing der junge Ritter das herabfallende Gefäß auf, womit er die Schöne völlig überraschte.
Sie ihn wiederum mit den Worten: „Ich bin froh, dass Ihr nicht als Feind gekommen seid. Ein Kampf mit Euch würde mich an den Rand meiner Kräfte treiben.“
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr“, erklärte James. „Wie wollt Ihr mich dann gefangen halten?“
„Mit den Waffen einer Frau.“
James atmete tief durch. „Ich bin auf diesem Gebiet recht ungeübt, aber irgendwie dämmert es mir, was Ihr meint.“ Dabei hoffte er bereits jetzt inständig, sich auf dieser Art Schlachtfeld beweisen zu dürfen.
Als er ihr schließlich auch noch ohne viel Federlesen den schweren Suppenkessel vom Herd zum Tisch trug, sagte sie: „Ihr habt zum Glück von Eurem Vater nur den Namen geerbt.“
James lachte bitter auf. „Ja, diesen Gedanken wälze ich auch des Öfteren. Wenn ich nur wüsste, was ihn so mürrisch und unzufrieden macht?“
„Wenn das alles ist, was Ihr wissen wollt, kann ich Euch gute Auskunft geben! Er hat Blutschuld auf sich geladen, als er Eure Mutter vergiftete!“
James schnellte von seinem Platz und starrte die junge Frau entsetzt an, die unbeirrt weitersprach: „Ich habe lange auf den heutigen Tag gewartet. Darauf, ihm aus Rache das Liebste zu nehmen, was er hat – nämlich Euch. Nur bringe ich es nun nicht übers Herz, Euch zu töten.“
„Sagt mir doch endlich, wer Ihr wirklich seid!“, rief James, sich langsam wieder setzend.
„Ich bin Lilian, jene Frau, der Euer Vater ewige Liebe schwor und die er dann zurückwies, um Eure Mutter ihres Vermögens wegen zu heiraten.
Als er ihrer überdrüssig wurde, wartete er auf eine günstige Gelegenheit, sie aus dem Weg zu räumen, um reumütig zu mir zurückzukehren. Doch da hatte er sich gründlich verrechnet. Solch ein verabscheuungswürdiges Monster hätte ich niemals an meiner Seite geduldet!“
James hatte mit völliger Verblüffung zugehört. Die Gedanken schlugen Purzelbaum und es dauerte ein paar Sekunden, ehe er sie halbwegs geordnet hatte. Das war also jene Frau, über die er, auf den Burgen anderer Herren, unter vorgehaltener Hand die unglaublichsten Geschichten gehört hatte.
„Und Ihr seid sicher, dass er es war und nicht Ihr, der sie vergiftet hat? Aus blanker Eifersucht?“, fiel ihr James schließlich ins Wort.
Sie zeigte mit dem Finger auf seine Brust. „Genau diese Frage hätte ich wohl auch gestellt. Kommt mit!“ Sie führte ihn hinaus und sprach im Gehen weiter. „Ich bringe Euch zum Grab Eurer Mutter.“
„Was aber nicht heißt, dass Ihr sie nicht doch …“ James blieb abrupt stehen. Er hatte erst jetzt die Worte wirklich begriffen. „Ihr kennt tatsächlich den Ort, wo man sie begraben hat?“
„Ja. Nach allem anderen fragt Eueren Vater, wenn Ihr wieder zu Hause seid!“
„Ihr lasst mich gehen?“
Sie nahm sein Gesicht in beide Hände. „In der Hoffnung, dass Ihr wiederkehrt.“ Seufzend schaute sie ihm in die Augen.
„Wenn ich Euern Blick richtig deute, dann wäre es Euch am liebsten, wenn ich erst morgen ritte?“
„Natürlich! Es wird langsam dunkel. Ihr müsst durch sumpfiges Gelände reisen. Da draußen gibt es tausend Gefahren. Es …“
Sir James winkte lachend ab. „Genug, genug! Wenn Ihr noch ein paar Gründe anführt, glaube ich selbst noch daran, ein Hasenfuß zu sein.“
„Ihr bleibt???“
„Schon, um Euch keinen Kummer zu machen.“
Im nächsten Augenblick drückte ihm Lilian einen heißen Kuss auf die Lippen. James zog sie in einem Impuls heraus in seine Arme, wobei er fest damit rechnete, eine saftige Ohrfeige zu bekommen. Stattdessen schmiegte sich Lilian für einen Moment an, ehe sie sich einen Ruck gab und: „Kommt, sonst wird es zu dunkel“, sagte.
Sie hängte sich bei ihm ein und führte ihn geradenwegs an das östliche Ende der Lichtung, wo ein sorgsam gepflegtes Grab lag.
„Ich würde mich sicher nicht darum kümmern“, sprach sie, darauf deutend, „wenn es mir nicht sehr am Herzen läge. Zuerst geschah es, um mich irgendwann an Eurem Vater rächen zu können. Aber im Lauf der Zeit mischte sich Mitleid aus tiefstem Herzen darunter. Sie hatte nichts von dem gebrochenen Treueschwur gewusst.“
James nahm das Samtbarett ab, um einen Augenblick schweigend zu verharren. Den eingemeißelten Daten nach war seine Mutter noch nicht einmal 20 Jahre alt gewesen, als sie sterben musste.
„Um ein Haar hätte ich ihr Schicksal geteilt“, hörte er Lilian leise erzählen. „Denn, als ich ihn als Mörder von mir wies, ließ er mich in Ketten legen und einen Scheiterhaufen aufschichten. Jedes Gericht hätte mich, die Hexe, für schuldig erklärt, meine Nebenbuhlerin getötet zu haben.
Mithilfe eines Stallknechtes gelang es mir, zu fliehen und die Leiche Eurer Mutter, den Beweis für seine Schuld, mitzunehmen. Daraufhin behauptete Sir Edward, seine Frau sei mit Dämonen im Bunde gewesen. Warum hätte sie sonst zur gleichen Zeit wie ich verschwinden sollen? Niemand zweifelte an seinen Worten und so ließ er jegliches Andenken an sie tilgen.“
„Das beantwortet viele meiner Fragen. Verzeiht, dass ich Euch verdächtigte.“ James küsste Lilian auf die Stirn.
Sie lächelte milde. „Vergeben und vergessen.“
Seit James die Burg verlassen hatte, wanderte Sir Edward in den alten Mauern umher, ohne einen Augenblick Ruhe zu finden. Was, wenn James wirklich das Geheimnis des Waldes und damit das finstere Familiengeheimnis lüftete? Wie werde er reagieren?
Andererseits … nur, weil ein paar Männer auf ungewöhnliche Weise darin ums Leben gekommen waren, musste sich Lilian noch lange nicht in diesem Wald herumtreiben.
Sicher war sie damals so weit wie möglich aus der Nähe seines Hoheitsgebietes geflohen. Außerdem müsse sie heute eine alte Frau sein, der man sicher Herr werden könne …
Sein Verbot, den Wald zu betreten, stand noch immer unverändert. Die Toten waren Fremde und unliebsame Schnüffler gewesen. Ein hämisches Grinsen huschte über sein Gesicht, das sich, als er an James dachte, zu einer eher hilflosen Fratze verzog.
Die liebevolle Zuwendung, die er seinem Sohn angedeihen ließ, hatte Zweifler rasch zum Schweigen gebracht. Und jene, die nicht allein verstummten, hatte er durch Folter dazu bringen lassen.
Der heranwachsende James hatte ihn durch seinen angeborenen Gerechtigkeitssinn allerdings des Öfteren in recht prekäre Situationen gebracht.
„Das kann er nur von seiner Mutter haben“, murmelte Edward, um gleich darauf noch einmal zu kontrollieren, ob er seinen langen Dolch auch tatsächlich am Gürtel trug.
Das Blut, wie vieler Unschuldiger bereits daran klebte, hatte er nie mitgezählt. Diese Lilian sollte ruhig kommen! Auch sie werde er damit aufspießen wie einen Schmetterling!
Schmetterling. Sein Gefühlsrad begann sich zu drehen. Lilian war in der Tat zart und wundervoll wie ein Tagpfauenauge gewesen, jede ihrer Bewegungen grazil, leicht und anmutig wie der Flug von Blüte zu Blüte.
Seine Gier nach Land und Macht war es gewesen, die dem Kopf den Vorrang vor dem Herzen gegeben hatte … am Ende hatte er beide Frauen verspielt.
Verspielt? Der Tod ist kein Spiel.
Edward kreiselte herum. Er hatte die Worte deutlich vernommen. Ihm schien, als schwebe ein grünlicher Schemen im Türrahmen, der rasch verblasste.
Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich den Angstschweiß von der Stirn. Zutiefst beruhigt stellte er fest, dass dies niemand gesehen hatte.
Schwäche zeigen? Niemals! Gewissensbisse? Wozu? Dabei begann er jetzt schon zu ahnen, dass ihn die Angst nun öfter besuchen käme. Verdrängen schien kein Allheilmittel mehr zu sein.
James folgte zur gleichen Zeit Lilian zurück zum Haus. Er fand immer weniger Grund, ihr wegen irgendetwas misstrauen zu müssen. Sie spielte mit offenen Karten. Auch was das betraf, ihn ursprünglich umbringen zu wollen.
Die Sonne war schon fast untergegangen und James staunte über die unzähligen funkelnden Sterne. „Warum ist hier eigentlich kein Nebel, wie sonst im ganzen Wald?“, fragte er, die Antwort eigentlich schon wissend.
Da sagte Lilian auch schon mit einem hintergründigen Lächeln: „Weil ich es so will. Ihr habt sicher schon von der alten Wetterhexe gehört, die sich hier herumtreiben soll.“
James nickte. „Ich finde es passender und wohlklingender, die Herrin des Waldes dafür verantwortlich zu machen. Alte Hexen sind wohl eher mürrische Frauen.“
Lilian begann schallend zu lachen. „Für einen, der von sich behauptet, sich nicht auszukennen, wisst Ihr eine ganze Menge.“ Sie nahm seine Hand und beschleunigte den Schritt. „Kommt, mich drängt es, noch mehr über Euch zu erfahren.“
Was sie dabei vordergründig im Auge hatte, ließ James’ Herz schneller schlagen. Ihn erwarteten sicher auch andere Freuden, als bei den Mägden und Bauernmädchen, die er hin und wieder in irgendeinem Stall oder einer Scheune zu einem Schäferstündchen verführte.
Bisher hatte es auch keine geschafft, ihn wirklich zu begeistern. Schnelle Akte der Befriedigung, ohne den Wunsch nach Wiederholung.
Bei dem Gedanken an Lady Lilians Körper regten sich sofort recht heftige Gefühle. Er erinnerte sich an das kleine Wortgeplänkel im Wald, als sie ihn zum Gefangenen erklärt hatte. Nach einem Keuschheitsgelübde hatte das ganz und gar nicht geklungen.
„Erst ein Bad, dann werde ich Euch geben, wonach es Euch gelüstet“, hauchte sie ihm ins Ohr, wie zufällig die Stelle berührend, an der seine Manneskraft deutlich sichtbar darauf wartete, entfesselt zu werden.
So wunderte sich Lilian auch nicht, dass er ohne Murren Wasser pumpte, Eimer um Eimer in den Badezuber füllte und schließlich mit dem siedenden Wasser aus dem Kessel zu einem heißen Bad mischte. Lilian gab ein paar Tropfen Öl dazu, die das ganze Häuschen mit herrlichem Duft füllten.
Augenblicke später saß James in der Wanne, Lilian rittlings auf dem Schoß und vergaß die ganze Welt um sich herum. Ihr lustvolles Stöhnen bestätigte ihm, wieder und wieder, genau das Richtige zu tun. Nicht weniger deutlich zeigte er ihr, wie sehr sie ihn beigeisterte.
Auf das ausgiebige gemeinsame Bad folgte eine stürmische Nacht. Lilian führte James von einem Höhenflug zum nächsten. Sie kannte Regungen, die selbst einer Dirne die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten.
Ihn interessierte es nicht, ob sein Vater mit der geheimnisvollen Schönen die gleichen Freuden genossen hatte. Er akzeptierte auch die Tatsache, ein Wesen vor sich zu haben, das anders war, als die Menschen, die er bisher kennengelernt hatte.
Nach ihrem Alter fragte er schon gar nicht. Dass sie auch vor 20 Jahren so jung und umwerfend wie heute ausgesehen haben musste, war klar. Ebenso, dass sie über irgendein Mittelchen verfügte, dieses Aussehen zu erhalten.
Eng umschlungen schlief er schließlich mit ihr ein.
Dass der Morgen begann, wie die Nacht geendet hatte, verstand sich fast von selbst. Entsprechend hungrig erschien James bei Tisch, nachdem er sich am Brunnen gewaschen hatte.
Lilians Speisekammer schien bestens gefüllt zu sein, denn von gekochten Eiern bis zu einem Honigtöpfchen stand alles auf dem Tisch. Aus dem Backofen duftete es nach Fladenbrot.
Lilian seufzte, James’ Blick ging ihr tief unter die Haut. Als er nach dem Frühstück sein Pferd sattelte, reichte sie ihm einen Mantelsack mit Proviant.
„Vergesst mich nicht“, bat sie, ihm zum Abschied die Hand streichelnd, wobei sie einen Wappenring an seinen Finger steckte.
James lächelte. „Ich schwöre, dass ich zurückkommen werde!“ Dann gab er seinem Pferd die Sporen.
Der Nebel umwaberte ihn auch heute in dicken Schwaden, schien aber beinahe silbrig zu glänzen. Um die Mittagszeit lichtete er sich, genau wie der Wald. Sir James konnte in der klaren Luft der weiten Wiesen die Burg seines Clans erkennen.
Er galoppierte in den Hof, warf einem Stallburschen den Zügel seines Rappen zu und eilte, mehrere Stufen auf einmal nehmend, in den Palas, wo er seinen Vater vermutete.
Sir Edward saß beim Mittagessen. „Ihr seid zurück?!“ Er schaute seinen unversehrt heimgekehrten Sohn so erstaunt, entsetzt und gleichzeitig neugierig an, dass dieser am liebsten hellauf gelacht hätte.
„Habt Ihr daran gezweifelt?“, stellte der stattdessen die Gegenfrage.
Edward antwortete mit einer Mischung aus Nicken und Kopfschütteln. „Was ist Euch auf Euerm Weg begegnet?“, fragte er zögernd.
James beschloss, auf der Hut zu sein und sein Wissen vorerst für sich zu behalten. „Hitze, Kälte, Nebel“, erklärte er, nach dem Weinkrug fassend, dem ihm eine Magd reichte. „Man nennt ihn nicht umsonst den Nebelwald, wie ich jetzt aus eigenem Erleben bestätigen kann.“
„Und das Moor?“
„Ist riesig und stinkt wie die Pest.“ James riss der gebratenen Gans seelenruhig einen Schenkel heraus und biss kräftig hinein.
„Ihr seht nicht aus, als hättet Ihr im feuchten Gras geschlafen“, bohrte Sir Edward weiter.
James schaute an sich hinunter. „Stimmt. Es sieht tatsächlich nicht danach aus.“ Innerlich grinste er, weil er deutlich spürte, dass sein Vater immer unruhiger wurde.
„Ist Euch Seltsames begegnet?“, hagelte die nächste Frage auf ihn ein.
„Was versteht Ihr darunter?“
Edward zog es vor, die Fragerei zu beenden. James sprach der Gans zu, als habe er seit gestern gehungert. Als nur noch ein Häufchen Knochen übrig war, erhob er sich. „Wenn Ihr mich braucht, ich bin in meinen Gemächern.“
Edward schaute grübelnd hinterher. Und wieder glaubte er, einen grünen Schimmer zwischen den Türpfosten zu sehen.
„Was passiert hier?“, hauchte er erbleichend. Er sprang auf und hastete in sein Arbeitskabinett. Aber auch hier fand er keine Ruhe, sahen doch die Stellen, an denen einst die Bildnisse Lady Anns gehangen hatten, aus, als strahlten sie in hellem Licht. Mit den Worten: „Ich glaube, ich werde wahnsinnig“, sank Edward in seinen Sessel.
Erst zum Abendbrot wagte er sich aus dem Zimmer. Mit Dolch und Degen erschien er bei Tisch.
James schüttelte den Kopf. „Was wird das denn? Wollt Ihr in den Krieg ziehen? Waren nicht stets Eure eigenen Worte: Mordwaffen haben an der Tafel nichts zu suchen?“
„Die Zeiten ändern sich“, stieß Edward düster hervor.
„Von gestern auf heute? Ihr erstaunt mich.“ James spitzte die Lippen. Behauptete sein Vater doch sonst stets, seine Regeln seien für die Ewigkeit. Irgendetwas musste vorgefallen sein, das möglicherweise mit seinem Ausflug in den Wald zusammenhing.
Er wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, die Fragen zu stellen, die ihm seit gestern im Kopf herumspukten.
Eine Magd legte ihm seine Lieblingsspeisen vor und schenkte aus einem Krug ein. Edward hob seinen Weinbecher und James dankte in gleicher Weise, wobei ein vorwitziger Abendsonnenstrahl genau den Siegelring traf und einen Lichtreflex durch den Saal huschen ließ.
Sir Edward stutze. Der Ring musste neu sein. Er konnte sich nicht erinnern, James jemals mit solch einem Schmuckstück gesehen zu haben.
„Was ist das?“, fragte er also mit seltsamer Betonung.
James zog den Ring ab. „Ein Liebespfand. Erkennt Ihr das Wappen?“
Sir Edward fiel der Weinbecher aus der Hand, dessen Inhalt sich als blutrote Lache auf dem Tisch verteilte. Dann sprang er auf und wich mit blankem Entsetzen im Blick bis an die Wand zurück.
„Ahhh, ich merke schon, Ihr kennt die Frau, die mir den Ring schenkte.“ James folgte ihm, um ihm das Wappen genau vor die Augen zu halten. „Was ist mit meiner Mutter geschehen?“
Edward konnte weder die Augen schließen, noch den Blick von dem Ring abwenden. Er rutschte mit dem Rücken an der Wand hinunter und sprudelte wie von Sinnen das Geständnis des Mordes heraus, ehe er bewusstlos zusammenbrach.
James ließ seinen Vater zu Bett bringen und schickte nach dem Arzt.
Dieser mühte sich redlich, aber ziemlich erfolglos. „Euern Vater hat ein starkes Nervenfieber befallen. Wir können nur warten und hoffen.“
Dass er, wie die meisten anderen, betete, die Krankheit möge den alten Whitecastle davonraffen, war dabei ein ziemlich offenes Geheimnis. James nahm es ihnen nicht einmal mehr übel.
Jedes Mal, wenn sich jemand mit einer Bitte an ihn, Sir James, gewandt und eine Zusage erhalten hatte, machte Edward dem Betreffenden das Leben danach umso schwerer.
James hatte für heute genug erfahren. Er packte Kleidung, diversen Kleinkram und Waffen zusammen, erleichterte die Vorratskammern um einige Spezialitäten und sattelte trotz der späten Stunde seinen Rappen.
Als Sir Edward nach Stunden wieder zu sich kam, hatte James die Burg, ohne das Ziel zu nennen, schon lange verlassen.
Sir Edward befahl auf der Stelle, die Burg in den Kriegszustand zu versetzen. Auf dem großen Hauptturm brachte man die Speerschleuder in Stellung, hinter jeder Schießscharte postierte er bis an die Zähne bewaffnete Söldner und die Torwachen an der Zugbrücke wurden verdoppelt. Zudem ließ er Tag und Nacht das Pech auf dem Wehrgang flüssig halten.
In der sternenklaren lauen Sommernacht kam Sir James schnell voran. Der Mond stand als riesige silberne Scheibe am Himmel und schien einzig für ihn sein mildes Licht auf alle Wege zu senden.
Sogar die Irrlichter im Moor wirkten weniger beklemmend als sonst. Der Rappe lief ruhig und ausdauernd. James freute sich auf Lilian und das kleine gemütliche Haus, in dem er sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich frei gefühlt hatte.
Lilian hatte die abendliche Körperpflege beendet, den Staub des Tages aus dem langen Haar gebürstet und wollte gerade nach dem Öllämpchen fassen, als sie überrascht innehielt. Sie spürte eine liebevolle Wärme, die ihr bisher nur einer geben konnte – Sir James, der junge stattliche Ritter von Whitecastle.
Ungläubig lauschte sie in die Dunkelheit. Sie öffnete sogar die Tür, um, wie ein wildes Tier, in die Nacht zu wittern. Tatsächlich! Sie konnte James’ Ankunft deutlich spüren.
Eine Stunde später war es Gewissheit. Die Rüstung des nächtlichen Reiters blinkte am Rande der Lichtung im Mondlicht auf. Lilian eilte ihm entgegen und warf sich in seine Arme, kaum dass er vom Pferd gestiegen war.
„Ihr habt mir gefehlt“, verkündete sie im gleichen Augenblick, als er es sagte und brach, genau wie er, in fröhliches Lachen aus.
Gemeinsam rieben sie das schäumende Pferd trocken, versorgten es und trugen das Gepäck in Haus. Lilians Augen strahlten mit den Sternen und den Flämmchen der Öllämpchen um die Wette.
„Ihr seht glücklich aus“, stellte James amüsiert fest.
„Und das gebe ich auch noch gern zu“, erwiderte Lilian. „Ihr seid der erste Mann, der es geschafft hat, mir gleich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.“
„Oh, dann hoffe ich inständig, dass mir das noch viel öfter, am besten jeden Tag, gelingt“, wünschte sich James, sie zärtlich küssend.
Lilian schaute ihn mit großen Augen an. „Ihr habt vor, bei mir zu bleiben?“
„Das ist mein Plan. Es sei denn, er missfiele Euch.“
„Ganz und gar nicht! Im vollen Gegenteil!“ Sie wirbelte durch die kleine Küche, um Schinken und Wein auf den Tisch zu bringen. So gute Nachrichten mussten gefeiert werden.
„Dann bleibe ich also hier, bis Ihr mich mit Gewalt hinauswerft, mich der Befehl des Königs oder andere nicht vorhersehbare Widrigkeiten dazu zwingen.“
Lilian hob ihren Weinbecher. „Auf, dass man uns einfach in Ruhe und Frieden leben lasse!“
James nickte. „Auf Ruhe und Frieden!“
Nicht viel später kehrten die gewünschten Dinge auch im Haus ein. Es war für James ein anstrengender Tag gewesen. Lilian nahm es ihm nicht übel, dass er, nach kurzem aber heißem Liebesakt, einfach nur Haut an Haut mit ihr einschlafen wollte.
Die Tatsache, dass er, ohne einen Liebeszaubertrank erhalten zu haben, zu ihr zurückgekehrt war, machte sie glücklich.
Im Morgengrauen huschte sie aus dem Bett, ließ den Rappen auf die Lichtung, wo er nach Herzenslust weiden und galoppieren konnte. Dann widmete sie sich ihrem Tagewerk.
Als James die Treppe vom Oberstübchen herabstieg, duftete es nach Ölen, Essenzen und Salben. Einige Kräuter und deren Heilwirkung kannte er. Also blieb er stehen und schaute eine Weile interessiert zu.
„Ich lebe vom Verkauf und davon, damit Menschen und Vieh zu heilen“, erklärte Lilian, eifrig weiterarbeitend. „Auf dem Tisch steht Euer Frühstück.“
Der heiße Kräutertee schmeckte James vorzüglich. Er ließ seine Fingerspitzen über den Keramikbecher und die gehobelte Tischplatte gleiten.
„Woran denkt Ihr?“, fragte Lilian, die dies aus den Augenwinkeln beobachtet hatte.
„Daran, dass mir die Burg kein Stückchen fehlt“, gab er schmunzelnd bekannt. „Ihr müsst mir nur eine Aufgabe geben, damit ich mich nicht nutzlos fühle.“
„Dann zieht Ihr am besten los und erlegt einen Hirsch. Ich brauche dringend Leder. Und denkt daran, das einzig Gefährliche an und in diesem Wald bin ich.“ Sie blinzelte verschwörerisch.
„Wirklich? Als ich noch ein Knappe war, hörte ich auf einer Burg, man habe hier im Wald sogar einen Drachen gesehen.“
„Vor dem Ihr aber keine Furcht habt, weil Ihr sonst nicht mitten in der Nacht hierher geritten wärt …“, stellte Lilian in den Raum.
James schmunzelte. „Ich fürchte die unglaubliche Macht der Drachen, nicht sie selber. Wenn er mich nicht angreift, dann schwöre ich, ihn in Ruhe zu lassen. Ich sammle keine Jagdtrophäen.“
Lilian begann zu kichern. „Sehr schön, Ihr werdet Euch sicher gut mit ihm vertragen.“
„Es gibt ihn wirklich?“, staunte James. „Was ist es für einer? Kann er fliegen? Speit er Feuer?“
„Hört auf! Hört auf!“, lachte die Herrin des Waldes. „Mit solcher Begeisterung habe ich noch nie jemanden nach ihm fragen hören. Er kann fliegen und auch Feuer speien. Er ist kein Riese, aber groß genug, um Euch in voller Rüstung tragen zu können und ganze Heere in die Flucht zu schlagen.“
„Dann freue ich mich darauf, eines Tages im Guten Bekanntschaft mit ihm zu machen.“ James widmete sich seinem Teller. „Eine Frage habe ich doch noch: In welcher Himmelsrichtung lebt er? Ich möchte ihn nicht versehentlich belästigen. My home is my castle. Das gilt umso mehr, wenn es sich dabei um eine Drachenhöhle handelt.“
Lilian legte ihm beide Hände auf die Schultern und schaute ihm tief in die Augen. Darin stand tatsächlich die blanke Vorfreude, den Riesen eines Tages einfach nur anzuschauen.
„Ihr werdet ihn aus eigener Kraft nicht finden und demzufolge auch nicht belästigen. Wenn er es für richtig oder für nötig hält, werdet Ihr ihn sehen.“
„Das beruhigt mich.“ James gurtete Schwert, Dolch und Köcher um, dann schulterte er den Jagdbogen.
„Kein Brustharnisch?“, staunte Lilian.
„Nicht, wenn Ihr und der Drache die einzigen Gefahren hier seid.“ Ihr noch einen zärtlichen Kuss auf die Lippen hauchend, begab er sich auf die Pirsch.
Sie wartete noch ein paar Minuten, dann löschte sie alle Feuer im Haus, hüllte sich in einen hellen Umhang, der sie eins mit dem dicken Nebel scheinen ließ und folgte auf einem Wildwechsel James.
Sie staunte, dass er den geraden Weg aus dem Wald einschlug. Er ist ein guter Jäger, der ahnt, dass es hier im verwunschenen Wald kein jagdbares Wild gibt.
Es dauerte auch nur zwei Stunden, dann hatte der junge Ritter gefunden, was sein Herz begehrte. Auf einer Wiese standen mehrere Hirschkühe. Da keine Rede davon gewesen war, ein Geweih verarbeiten zu wollen, streckte er eines der Tiere mit einem Blattschuss nieder, um ihm lange Qualen zu ersparen.
Er wollte seiner Beute gerade die Läufe zusammenbinden, um sie besser schultern zu können, als es hinter ihm im Wald prasselte, als dränge sich etwas Gigantisches zwischen den Stämmen hindurch.
Erstaunt schaute er über seine Schulter, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Vielleicht bahnte sich gerade der Drache einen Weg, um auch an die Hirsche zu kommen.
„Tut mir leid, ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Außerdem war ich schneller“, murmelte James, sich den Hirsch auf die Schultern wuchtend. Dann verschwand er rasch im Wald und steuerte zielsicher auf die Lichtung zu. Natürlich blieb er immer wieder stehen und lauschte in alle Richtungen, sogar zu den Baumkronen hinauf. Womöglich kreiste der Drache irgendwo, um ihm das Wild abzujagen.
Allen Befürchtungen zum Trotz erreichte er unangefochten das Haus, vor dem er seine Last ablegte und: „Bin wieder da!“, rief.
„Ich auch!“, tönte es vom Waldrand, wo Lilian mit einem Körbchen voller Pilze nahte. Als sie den Hirsch begutachtete, sagte sie wie nebenbei: „Ihr habt Mut.“
James lachte. „Weil ich einen friedlichen Hirsch erlegt habe?“
„Nein, weil Ihr nicht geflohen seid, obwohl Ihr ahntet, dass der Drache in unmittelbarer Nähe war.“
„Woher wisst Ihr das?“ James schaute sie prüfend an.
Sie hielt ihm als Antwort den Pilzkorb unter die Nase.
James nahm einen heraus und blinzelte. „Die sehen nicht aus, wie schon vor zwei Stunden gesammelt.“
„Oh weh! Euch kann man wirklich nichts vormachen. Ich bin Euch hinterhergeschlichen, um zu sehen was passiert.“
„Ihr wusstet, dass der Drache kommen würde?“
„Hmm, hmm.“ Lilian schaute ihn schuldbewusst von unten herauf an.
„Habt Ihr so wenig Vertrauen zu mir?“
„Es tut mir leid. Es tut mir so wahnsinnig leid“, seufzte sie. „Ich bin so oft gerade von den Menschen betrogen worden, denen ich es nie zugetraut hätte.“
James atmete tief durch und begann den Hirsch aufzubrechen. Irgendwie konnte er sie schon verstehen. Sein Vater hatte sie auf bösartigste Weise verraten. Wie sollte sie sicher sein, dass er es nicht genau hielt.
„Ich möchte es wieder gutmachen“, flüsterte Lilian. „Ich weiß jetzt, dass ich niemandem stärker vertrauen kann als Euch. Ich möchte Euch etwas anvertrauen, selbst wenn mich das einmal Leben kosten könnte.“
James spülte sich das Blut von den Händen. „Seid Ihr sicher, dass ich der Richtige dazu bin?“
„Ganz sicher. Ruft bitte Euer Pferd und bringt es in den Stall. Dann stellt Ihr Euch genau wieder hier hin und schaut zu mir. Ich stelle mich inzwischen genau ins Zentrum der Lichtung ...“
„Wartet! Lasst den Unsinn! Wenn Ihr in einem Monat noch immer der gleichen Meinung über mich seid, dann bin ich gern bereit, Euch anzuhören.“ James schüttelte entschieden den Kopf und widmete sich dem Abhäuten des Hirsches.
Ihr seid, der Richtige! Lilian schlüpfte an ihm vorbei zur Tür hinein.
Diesmal wiegte James den Kopf eher amüsiert.
Lilian schaute nach dem Stand der Sonne und begann, das Mittagessen vorzubereiten. Sie hatte Freude daran, für zwei kochen zu dürfen, sie summte sogar ein Liedchen vor sich hin.