Copyright Text © Marcus Caracalla 2018

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Coverbild: The Massacre of the Innocents, Tintoretto, 1582-1587

(Public Domain)

BoD – Books on Demand GmbH

ISBN 9783748103806

INHALT

  1. Kapitel: Das Haus des Jupiter
  2. Kapitel: Tage und Werke I
  3. Kapitel: Die Lehren des Fleisches
  4. Kapitel: Die Vollendung des Nero
  5. Kapitel: Der Trunk der Götter
  6. Kapitel: Tage und Werke II
  7. Kapitel: Herkules an der Tafel der Unsterblichen
  8. Kapitel: Tage und Werke III
  9. Kapitel: Der Sturz des Saturn

1. Kapitel

Das Haus des Jupiter

Er war jetzt ganz ruhig geworden. Seine Züge steinern, doch entspannt. Die Andeutung eines Lächelns umflog blutleere Lippen. Sanft ruhte seine Hand auf der Reling des Schiffs. Sein Blick war starr gegen den Horizont gerichtet, auf dessen silbrig schimmernder Linie langsam die Umrisse eines Felsens emporwuchsen.

Er hatte seinen Verstand entleert. Seine Gedanken schwebten ziellos im Nirgendwo. Vage Bilder, unzusammenhängende Erinnerungen, Schlüsse aus unvollständigen Formeln gezogen. Nur wenige Gewissheiten waren ihm geblieben. Ein bestimmter Geruch von Salz, das Gefühl glatten Holzes unter seinen Fingern, der Ruf eines Seemanns und die Antwort eines anderen.

Er hörte die schweren Schritten eines Mannes näher kommen. Caligula drehte sich um, noch immer lächelnd. Der Andere musterte ihn.

„Für einen, den man zum Sterben führt, scheinst Du mir recht heiter“, raunte ein zahnloses Geschöpf, dessen fratzenhaftes Angesicht von den Gezeiten und endlosen Ausschweifungen verwüstet.

Caligula hielt dem Blick des Menschen stand. Er rührte sich nicht, sein Ausdruck blieb die unveränderte Mine sorgloser Gleichgültigkeit. Dann überflog sein Auge den Rest der Mannschaft, deren kunstvoll oder nachlässig ausgeführte Tätigkeiten in der planvollen Bewegung des Gefährts mündeten, die Sklaven, die in ihren Bänken, langsam rudernd, den hölzernen Koloss durch die Wellen zwangen und den einäugigen und ewig schweigsamen Steuermann, ein Abbild des Charon, der allein das Ziel der Galeere bestimmte.

„Meinst Du denn“, fragte Caligula, „dass dieses Schiff mich in die Unterwelt trägt?“

Der Zahnlose grinste verständnislos, antwortete aber nicht.

„Mag sein“, fügte Caligula an, „dass es euch in den Abgrund führt. Mich aber trägt dieses hölzerne Ding in die Gefilde meiner Verwandten, der Unsterblichen.“

Der Steuermann lachte auf. „Verwandte? Ja, Tiberius, der Kaiser, ist gewiss Dein Verwandter, hat er doch Dich, mein Kleiner, und Deine Brüder an Sohnes statt angenommen. Nicht aus Liebe freilich, sondern um den Anschuldigungen, er habe den Tod Deines Vaters auf dem Gewissen, entgegenzutreten. Aber göttlich ist das alte Schwein, das dort in seinem Haus hockt und Menschenfleisch frisst, gewiss nicht. Aber das wirst Du ja bald selbst sehen.“

Caligula wandte sich ab. Er heftete seinen Blick auf den Felsen, der größer wurde und bedrohliche Schatten weithin über das schläfrige Meer warf. Oben schimmerte der weiße Marmor der Villa Jovis, die die Krone des rohen Gesteins bildete. Ein irrsinniges Bauwerk, das den Wahnsinn seines Bewohners allzu deutlich widerspiegelte. Man erzählte sich viel, viel Schreckliches vom Treiben an diesem Ort. Orgien, Massaker, unnatürliche Ausschweifungen, die jede Vorstellungskraft sprengten. Gerüchte gingen um, Tiberius sei sehr krank, seine Haut entstellt, von eiternden Schwären übersät. Fast schon ein stinkender Leichnam, der sein bisschen Leben nur erhalte, indem er das Blut von Säuglingen soff. Oder den Samen junger Männer. Oder die Milch Erstgebärender, die er in einem Stall hielt und von Hengsten begatten ließ. Menschenfleischfresser. Zudem hause ein kranker Geist in der Ruine des sterbenden Körpers. Tiberius schlafe nicht, sagte man, sondern durchwandere ein Labyrinth von verschachtelten Kammern und Fluren, unentwegt vor sich hin murmelnd, manchmal wimmernd oder gar unter Tränen um Vergebung bittend die Totengeister, die ihn wie Ios Fliegen folgten. In den Stunden der Dämmerung vor der Brandung des Meeres seinen eigenen Fall verhandelnd, die Reihe von Zu- und Unglücksfällen laut und kunstvoll besprechend, die ihn zum unwahrscheinlichen Nachfolger des Augustus gemacht, Herr über das römische Reich, ein Gott unter den Menschen.

Menschenfleischfresser. Tier. Blutsäufer. Monster.

Das Schiff ankerte vor einer winzigen, von spitzen Felsen umwucherten Bucht, die in einer düsteren Grotte mündete. Ein Beiboot wurde herabgelassen. Caligula, Charon und zwei Seemänner, einer davon der Einäugige, bestiegen es. Sie ruderten in die Schatten.

„Nimm nun Abschied von der Sonne“, geiferte der Einäugige, grob Caligulas Schulter fassend. „Aus diesem Schlund gibt es keine Wiederkehr.“

„Ist dies der Ort, wo ich sterbe?“, fragte Caligula, ohne die geringste Aufregung.

„Es ist der Eingang in eine Unterwelt“, kam die Antwort diesmal vom Steuermann des Schiffes. „Doch nun genug des unnützen Geschwätzes. Der Obulus ist gezahlt, Hades wartet.“

*

Oben, auf einer der Terrassen, die das Meer übersah, saß Tiberius. Kaute mit schlechten Zähnen auf gelben Fingernägeln. Ungewissen Gedankengängen folgend. Pläne schmiedend und verwerfend. Er musterte das Gefährt, das sich näherte, vor Anker ging, ein kleineres Boot ausschied, das wie Samen in den Schoß des Felsens sickerte. Er grinste über diese Analogie.

„Wie Samen in den Schoß meines steinernen Fleisches.“

Wog, ob dieser Mensch, dieser Gaius, Sohn seines Erzfeindes Germanicus, dessen Vernichtung teuer erkauft worden war, wog, ob jener ihn zu befruchten befähigt.

„Man erzählt viel Gutes über ihn. Bis zur Gerissenheit klug und schön, oh, schön soll er sein wie Apoll“, dachte er. Er verengte die Augen zu Schlitzen. Suchte einen Blick von diesem Gaius zu erhaschen, als das Beiboot in die Schatten fuhr. Er erkannte nichts als die ungefähren Konturen eines jungen Menschen im Gewand eines patrizischen Erben.

„Ich hoffe, er ist schön. Schönheit ist der Anfang allen Glücks und sein ultimativer Beschluss“, murmelte er, ohne genau den Wert des achtlos ausgesprochenen Axioms zu kennen. Ob es überhaupt einen Wert hatte.

„Ob dieser Gaius überhaupt einen Wert hat… Ich werde ihn beobachten.“

*

Man führte ihn auf engen, mit grober Gewalt aus dem Stein gehauenen Pfaden durch die Grotte ins Innere des Felsens. Der Schein stark rauchender Fackeln spiegelte sich auf dem schwarzem Gestein wider. Feuchte Kühle auf seiner Haut und der salzige Geschmack der See in seiner Nase. Wie im Dämmer lauschte er dem dumpfen Echo der Schritte, das die Stille in seinem Geist wohlig füllte.

„Begraben.“

Er empfand keine Angst. Zu lange hatte er auf diesen Tag gewartet. Fast acht Jahre war er im Haus seiner Großmutter Antonia wie ein Gefangener gehalten worden. Eingesperrt in die Flucht weniger Räume, umgeben von Menschen, die entweder sein Schicksal teilten oder kein Interesse daran hatten, haben konnten. Tausend Intrigen waren in diesen Jahren gesponnen worden. Tiberius und Seian, der Präfekt der Prätorianer, hatten Rom zu ihrem Schlachtfeld erklärt und geheime Kriege miteinander geführt. Von Zeit zu Zeit war auch Caligulas Familie in den Brennpunkt dieser Auseinandersetzungen geraten. Bald wollte man Agrippinas Söhne für sich gewinnen, bald beschnitt man ihre Freiheiten und suchte sie vor dem Volk zu verunglimpfen. Die Fronten waren ungewiss und wandelbar, Verrat und Hinterlist an der Tagesordnung, ein Wort galt weniger als ein Atemzug. Seian verfolgte sie, während Tiberius seine unsichtbare Hand über sie hielt. Zu halten schien. Wer wusste es? Dann vertauschten Wolf und Löwe die Rollen, ohne das sich die Situation dadurch verändert hätte. Scheinbar. Vielleicht hatte sie sich unmerklich verändert, Nuancen in den Gebärden ernst dreinblickender Wächter, die unter ihren Togen Dolche trugen, die zweifellos für sie bestimmt. Wer wusste es? Nero und Drusus, Caligulas ältere Brüder, waren aus Rom geflohen und hielten sich in den Provinzen auf, wo sie sicher vor Attentätern waren, wo alte Freunde ihres Vaters schützend die Flügel über sie breiteten – dies sicherlich nicht ohne gewisse Hintergedanken. Seine Schwester Livilla war verheiratet worden, Klein-Agrippina lebte bei ihrem Onkel Claudius nahe Padua. Caligula war als einziger Sohn des Germanicus in Rom, bei seiner Mutter Agrippina und Drusilla, seiner jüngeren Schwester, seiner einzigen Freundin und Vertrauten, geblieben.

Sein Gesicht verzog sich, als er der Schwester gedachte, der Freundin der Vertrauten, der Hüterin seines Herzens.

„Ich werde sie nie wieder sehen. Nie wieder.“

Langsam ätzte sich das Gift eines späten Begreifens in seine Seele. Verzweiflung wuchs auf dem Boden einer unbeschreiblichen Leere, die wie ein Geschwür wuchs, wo einst sie gewesen, ihr Bild in seinem Herzen, ihre Stimme in seinen Gedanken. Nun Dunkelheit und Schweigen.

Sein Bewusstsein wurde brüchig, sein Schritt unsicher. Er stolperte, fiel beinahe. Eine Hand riss ihn zurück. Es war die eiserne Pranke Charons.

„Ist noch nicht Zeit zu fallen, Herr“ sagte er.

„Was meinst Du?“ presste Caligula hervor. „Zeit zu fallen? Zeit zu sterben? Glaubst Du, ich bin töricht? Hätte Tiberius meinen Tod gewünscht, hätte er mich in Rom beseitigen können.“ Caligula hörte am Ton seiner Stimme, seine Zuversicht war unaufrichtig.

„So fürchtest Du Dich nicht?“ fragte die Stimme.

„Nein“, brachte Caligula hervor. „Doch.“

Charon brach in ein Lachen aus.

„Du solltest nicht das Ende fürchten, sondern den Weg dorthin, junger Gaius. Sieh Dich vor, dass Du nicht nochmal strauchelst. Wer hier fällt, fällt tief.“

*

Der Pfad mündete in einer ovale Halle. Hier waren die Wände glatt und mit ungemein filigranen Reliefs versehen. Sie stellten die Schlacht zwischen Göttern und Titanen dar, die den Olymp belagerten. Bänke schmiegten sich an sie, auf denen zerdrückte Kissen und vereinzelte Kleidungsstücke lagen. In der Mittel des Raums befand sich ein Becken, an dessen Ende ein sonderbarer, muschelbewachsener Thron aus dem Boden wuchs. Ein Diener erwartete die Gruppe. Der Knabe mochte in Caligulas Alter sein. Sein schmales Gesicht war weiß geschminkt, die Augen schwarz umrundet. Er trug eine einfache Toga von bläulicher Farbe. Er trat vor Caligula, musterte ihn einen Augenblick lang, lächelte.

„Er ist schön“, stellte er fest. „Das ist gut. Besser, als wenn er hässlich wäre wie der andere. Der andere bereitet dem Vater keine Freude. Er bereitet auch uns keine Freude. Hässlichkeit ist eine schwere Schuld. Man muss sie bestrafen.“

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schob der Knabe zwei Fingern den Mund und leckte sie ausgiebig ab, wobei er Caligula zuzwinkerte. Dann steckte er sie in eine verborgene Öffnung in der Wand. Fast augenblicklich sprang eine geheime Tür auf.

„Folge mir“, sagte der Knabe. „Mein Name ist Hermes.“

Er reichte Caligula die feuchten Finger zum Gruß und jener ergriff sie ohne zu zögern.

*

Caligulas Räume waren überraschend prunkvoll ausgestattet. Schwere Vorhänge aus Damast, vergoldete Möbel und Tische, deren Platten elfenbeinerne Intarsien enthielten. Ein breites, sonderbar unförmiges Bücherregal, das einen Großteil der Außenwand bedeckte. Ein gitterloses, bogenförmiges Fenster blickte über das Meer. Zwischen den dicken Balken, die die Decke hielten, fanden sich kunstvolle Fresken obszönen Inhalts. Satyren mit riesigen Geschlechtern und Nymphen mit fülligen Gesäßen und opulenten Brüsten. Caligula durfte sich in diesen Räumen keinesfalls als Geisel, sondern als Gast von Ehre und Ansehen fühlen.

Es klopfte.

Ohne eine Aufforderung abzuwarten, trat ein älterer Mann mit grauen Locken ein. Er trug die Purpurtoga des senatorischen Standes.

„Verzeih die Störung, junger Gaius. Mein Name ist Nerva. Ich wollte sehen, ob Du alles Nötige hast“, sagte er, wobei er aufrichtig und ein wenig mitleidig lächelte.

„Nerva“, erwiderte Caligula trocken. „Tiberius Jurist. Man lobt Deinen Stil in Rom über alle Maßen. Du formulierst seine Edikte und Briefe an den Senat, nicht wahr?“

„Ich...schreibe sie nicht eigentlich, sondern… korrigiere ihren Wortlaut, um...“ meinte Nerva nachdenklich.

„...um seinen Wahnsinn hinter wohlgesetzten Floskeln zu verbergen...“ sagte Caligula gereizt.

„Höre, Gaius“, unterbrach Nerva. „Ich bin nicht Dein Feind. Ich will Dir Deine Lage erklären und die...Erfordernisse, die sie mit sich bringt.“

„Ha!“

Nerva trat zu Caligula, fasste seine Schultern. Seine angenehme Stimme wurde vertraulich, flehend fast.

„Ich kannte Deinen Vater Germanicus. Wir waren Freunde. Du magst es mir nicht glauben, aber ich bin auch Dein Freund und kann in diesem Haus Dein Verbündeter sein, wenn Du es nur willst. Du wirst einen Verbündeten nötig haben.“

Caligula wollte etwas entgegnen, doch Nerva sprach weiter.

„Der Grund, warum Du hier bist, Gaius, ist das Verhalten Deiner Brüder Drusus und Nero. Sie scheinen einen Ehrgeiz entwickelt zu haben, der Tiberius Sorgen bereitet. Deine Anwesenheit ist der Unterpfand für den Frieden.“

„Wenn der Kaiser wirklich der Meinung ist, dass meine Brüder Ansprüche auf die Herrschaft erheben könnten, dann ist er wirklich wahnsinnig. Nero und Drusus flohen aus schierer Angst um ihr Leben aus Rom. Jeder weiß das“, sagte Caligula zurücktretend. Er verschränkte die Arme vor der Brust, nahm die Haltung eines beleidigten Knaben ein. „Seian ist Tiberius Feind, nicht meine Familie.“

„Wir wissen, dass Seian im Kontakt mit Deinen Brüdern steht. Wir haben die Korrespondenz zwischen Nero und ihm abgefangen“, meinte Nerva vorsichtig. Er beobachtete Caligulas Reaktion.

„Ein Verhör also! Braucht Ihr meine Aussage, ein Todesurteil gegen meine Brüder zu rechtfertigen? Habt Ihr euch deshalb die Mühe gemacht, mich aus Rom zu entführen und hierher in dieses...dieses Haus zu bringen. Erbärmlich!“ schrie Caligula, plötzlich voller Hass und Zorn. „Erbärmlich! So etwa kann nur der kranke Geist eines...“

„Genug“, gebot Nerva streng. „Diese Wände haben Augen und Ohren. Du solltest Deine Worte mit Bedacht wählen, wenn Du schon Deine Gefühle nicht im Zaum halten kannst. Ich verstehe Deine Besorgnis, Gaius, aber die Lage ist wie sie ist...“

„Besorgnis!“ Caligula warf lachend die Hände in die Luft. „Besorgnis, nennst Du das? Ihr wollt meine Familie auslöschen, Ihr wollt uns töten, wie ihr meinen Vater habt ermorden lassen. Und Du nennst das Besorgnis? Ich sage Dir, Nerva, ja, ich bin besorgt. Und jetzt lass mich in Frieden. Wenn das Schwein“ – Caligula wandte sich brüllend gegen die Wände – „wenn das alte, dreckige Schwein etwas von mir will, dann soll es selber kommen.“

„Wenn dem so ist“, erwiderte Nerva knapp. Er wandte sich zu gehen. Hielt dann aber doch inne, sprach schnell, präzise: „Du kannst Dich in der Villa und auf der Insel frei bewegen – freilich wird man Dir für längere Exkursionen eine Begleitung geben. Du kannst Deine Tage verbringen, wie Du es für angemessen hältst. Dieser Ort beherbergt eine Anzahl recht interessanter Personen. Wende Dich mit Deinen Wünschen an einen der Diener oder mich. Darüber hinaus wir man Dich wissen lassen, wenn Deine Anwesenheit erwünscht wird.“

„Schweine!“

Caligula nahm eine Vase und schleuderte sie hinter Nerva her.

*

Nerva hatte nicht gelogen. Caligula durfte sich unbehelligt in der Villa bewegen – unbehelligt, doch nicht unbeobachtet. Die Dienerschaft des Hauses, die meist schweigend ihren Pflichten nachkam, folgte seinen Bewegungen mit unverhohlenem Argwohn und Interesse. Caligula unterschied schnell drei Arten von Dienern. Da waren zum einen die germanischen Leibwächter, hochgewachsene Männer mit breiten Schultern und langen Bärten. Sie redeten miteinander in der bellenden Sprache ihrer Rasse, die etwas zutiefst Vertrautes hatte. Caligula kannte ähnliche Dialekte von den germanischen und gallischen Militärlagern, in denen er einen Großteil seiner Kindheit verbracht. Tiberius hielt sich zweitausend dieser Söldner auf Capri und eine unbestimmte Zahl, die über das Reich verstreut als seine Agenten, oder genauer: seine Vollstrecker agierten. Er vertraute den Erzfeinden Roms mehr als seinen Landsleuten und hatte wohl gute Gründe dafür. Die Treue der germanischen Leibwache war nicht mit Gold oder dem Versprechen auf Reichtum erkauft worden, sondern mit Angst und Blut. Die Familien dieser Leibwache befanden sich als Geiseln an unbekannten und unzugänglichen Verstecken in Nordafrika in der Gewalt einer weiteren Gruppe von Tiberius Dienern. Diese setzte sich vor allem aus Ägyptern zusammen, Nachkommen jener Männer, die einst mit Antonius gegen Oktavian, den späteren Augustus, gekämpft hatten und nach der Niederlage von Actium in Ungnade gefallen waren. Deren Söhne und Töchter wiederum befanden sich auf Capri unter der Aufsicht der Germanen. Sie bewirtschafteten die zwölf kaiserlichen Paläste auf Capri. Die schönsten unter ihnen hatten die zweifelhafte Ehre auf der Villa Jovis zu leben, dem bevorzugten Aufenthaltsort des Kaisers. Sie trugen einfache, weiße Togen, die in starkem Kontrast zu ihrer dunklen Haut und ihrem schwarzen Haar standen.

Die letzte und zahlenmäßig kleinste Gruppe von Dienern waren die sogenannten Fischlein. Jener geschminkte Knabe, Hermes, der Caligula begrüßt, war eine diese Kreaturen. Ihre ausschließliche Sorge galt dem Wohlergehen ihres Vaters, dem Kaiser. Die Fischlein rekrutierten sich aus Kindern provinzieller und stadtrömischer Aristokraten, die Tiberius Agenten mehr oder weniger gewaltsam entführt und als Geiseln nach Capri gebracht hatten. Ihre Anwesenheit garantierte die Macht des Kaisers über ein Reich, das er nach seinem Weggang aus Rom praktisch im Stich gelassen hatte. Die Fischlein trugen bunte Togen. Ihre Gesichter und Hände waren weiß geschminkt. So bildeten sie einen farblichen Gegensatz zu ihren ägyptischen Altersgenossen. Caligula mochte mit seinen neunzehn Jahren neben den germanischen Leibwächtern, Nerva und dem Kaiser selbst, zu einer der ältesten Personen auf der Villa gehören.

*

Das Gebäude war wie seine Bewohner alles andere als gewöhnlich. Der sichtbare Teil, der auf einer Felsspitze halb als Festung, halb als behaglicher Palast errichtet worden war, machte nur einen Bruchteil der gesamten Anlage aus. Den weit größeren Teil bildete ein kompliziertes Geflecht von Gängen, Kammern und Fluren, das durch den Fels hinab bis zu jener versteckten Bucht wucherte, wo Caligula die Insel betreten hatte. Er versuchte einen Sinn in der Anlage zu entdecken, einen höheren Gedanken, einen Plan, der unter dem Chaos labyrinthischer Gänge anweste. Doch fand keinen. Viele Tunnel mündeten unverwandt in Sackgassen oder führten zur Kreuzung zurück, von wo aus sie ausgegangen. Die Malereien und Mosaike der Wände waren oft unvollendet oder wechselten plötzlich Motiv und Stil. Behauene und geglättete Wände endeten abrupt in unbehauenem Gestein, nur um sich einige Schritte später wieder zu erneuern. Der Gesamteindruck, den das Innere der Villa auf Caligula machte, war verstörend und beklemmend. Er fühlte sich gefangen im Fiebertraum eines wahnsinnigen Architekten, in dessen Seele Gut und Böse, Ordnung und Chaos, Vernunft und Irrsinn miteinander rangen.

Auf seinen Ausflügen in den ersten Tagen seiner Gefangenschaft verlor er oft die Orientierung und mit ihr die Konsistenz seiner Gedanken. Wie er selbst verloren sie sich in ziellosen Betrachtungen über zufällige Gegenstände. Die Empfindung, lebendig begraben zu sein, lastete schwer auf seinem Herzen. Sie gebar in ihm eine bleierne Schwärze, die jegliches Interesse an der Außenwelt erstickte. Er erforschte nicht eigentlich die Villa, sondern durchwanderte sie schweigsam und geduldig, wie ein Totenschatten die öden Gefilde der Unterwelt durchwandert haben mag. Er gab sich dem Chaos des ihn umwuchernden Gesteins ganz hin, trieb in ihm, atmete es ein, bis es ihn ganz füllte.

Er schlief viel, ohne zu träumen. Eine Starre hatte seine Seele erfasst. Manchmal schrie er grundlos. Und lauschte seinen Schreien, ohne wirklich zu begreifen, dass er es war, der diese grässlichen Laute hervorbrachte.

„Ein Körper namens Gaius schreit“, dachte es in ihm verwundert. „Seine Kehle ist heißer. Sein Rachen ist sehr trocken. Sein Leib krümmt sich zusammen. Es ist nicht gut, wenn er so schreit. Er sollte damit aufhören. Es bringt ihm ja doch nichts. Er müsste jetzt aufstehen und etwas Wasser trinken. Gaius, steh doch auf, und nimm den Becher. Führe ihn zu den Lippen und trinke und hör auf mit dem Geschrei!“

Und augenblicklich hörte er zu schreien auf und nahm den Becher und trank.

„Wie seltsam das alles ist“, dachte es in Gaius. „Wie sonderbar. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ach, wäre nur Drusilla hier, meine liebe Schwester.“

Ein Mund schrie einen Namen, der in der ganzen Villa widerhallte: „Drusilla, Drusilla.“

*

Endlose Gänge durchflutet von Licht, geschwängert von Schatten. Windungen, Kreuzungen, Kurven, Fluchten. Steigend, fallend. Gestein von verschiedener Konsistenz. Gedämpft der Klang des eigenen Atems, der eigenen Schritte. Oder echotisch vervielfacht. Die Ahnung verfolgt zu werden. Die Angst, gerade durch die Flucht dem Häscher in die Falle zu gehen. Ein Angedenken an Theseus. Um Theseus Fußgelenk wie eine Fessel der Faden Ariadnes.

Gefangener. Gefangener.

*

Ein Geschöpf durchbrach schließlich den Nebelschleier der Stille, der Agonie, des wortlosen Leidens.

Seit Tagen schon hatte ein Mädchen ihm die Speisen gebracht, die er je kaum anrührte. Becher gereicht, die achtlos vergossen oder von sich gewiesen wurden. Stets hatte sie mit ruhiger Geste sein Zimmer betreten, lautlos fast, unsichtbar. Und so war ihm ihre Anwesenheit mit der Finsternis in seinem Herzen verschwommen, ein Schatten unter Schatten, etwas Begrabenes, ein Traum in einem Traum aus Teer und feuchter Erde. Dann, eines Morgens, war sie zu ihm getreten, hatte sich auf sein Bett gesetzt, während er noch schlief. Eine Weile saß sie dort und blickte starr vor sich hin. Sie lächelte. Sie brütete über einem Geheimnis. Bettete ihre kleine Hand auf seine heiße Stirn. Weckte ihn dadurch. Als er die Augen aufschlug, glaubte er einen Moment lang Drusilla zu erkennen. Traum in einem Traum. Doch das Bild der geliebten Schwester verwehte sogleich. Wich der weißbemalten Maske eines Fischleins.

Er schlug die Hand weg.

„Was willst Du?“ krächzte er. Wie lange hatte er nicht mehr gesprochen?

„Du hast Fieber“, sagte das Mädchen.

Caligula richtete sich auf. Schwindel, Schwäche in den Armen. Das Gefüge der Sinne noch morsch.

„Wie kannst Du es wagen“, knurrte er.

Das Fischlein stand langsam auf und wich einen Schritt zurück.

„Was willst Du?“ fragte Caligula erneut.

„Wir fürchteten, Du stirbst. Du darfst nicht sterben.“

„Du verbietest mir zu sterben?“ lachte Caligula auf.

Das Fischlein blieb ernst. „Nicht ich verbiete. Er.“

„Er...“

„Der Vater.“

„Tiberius! Ist er ein Gott, dass er über Leben und Tod zu gebieten vermag? Wasser!“

Sie rechte den Becher. Senkte das Haupt. „In diesem Haus ist er Gott.“

Sie befeuchtete ein Tuch. Vorsichtig tupfte sie die glühende Stirn Caligulas ab, der unter Stöhnen wieder in die Kissen zurückgefallen war. Tatsächlich fühlte er sich krank und müde. Unendlich erschöpft.

„Wie heißt Du?“, fragte er das Mädchen nach einer Weile.

„Was spielt es für eine Rolle?“ erwiderte sie lächelnd.

„Sag schon.“

„Drusilla.“

„Drusilla? Ein guter Name. Meine…Schon gut. Ist es der Name, den Deine Eltern Dir gegeben haben?“

Sie schüttelte das Haupt.

„Mein Vater gab mir diesen Namen.“

„Ah.“

„Ich bin ein Geschenk. Ein Zeichen, seines guten Willens.“

„Deshalb nannte er Dich nach meiner Schwester? Wie grotesk. Wie wahnsinnig“, rief Caligula aus.

„Er weiß, dass Du ihr nahe stehst, dass ihr einander liebt.“

Caligula runzelte die Stirn. „Woher? Hat man mich in Rom ausspioniert? Natürlich hat man das...“

„Nicht in Rom. Du selbst hast es uns gesagt. Du redest im Schlaf.“

Caligula verbiss sich die Lippen.

„Mach Dir keine Sorgen. Er hat kein Interesse an Deiner Schwester. Nur Dein Wohlergehen liegt ihm am Herzen.“ Sie sah ihn mit sonderbar leeren Augen an, so als blicke sie durch ihn hindurch in eine ferne tote Landschaft hinein. Leise, fast flüsternd, fügte sie hinzu: „Die Dinge können sich indes ändern. Wenn Dir Dein und ihr Leben lieb sind, sei ein wenig verträglicher.“

Caligula dachte kurz nach.

„Du meintest, er habe Dir den Namen gegeben. Erzähl mir über ihn.“

„Auf dieser Insel und in diesem Haus herrscht er. Er gibt uns Namen und weist uns unseren Platz an. Er erhält und verdirbt“, sprach sie, als rezitierte sie den Text eines Gesetzes oder religiösen Litanei.

„Ich verstehe. Und wie nannte er Dich, bevor Du Drusilla wurdest?“

„Occella.“

„Äuglein? Ein sonderbarer Name.“ Noch während er diese Worte aussprach, begriff er. „Du bist blind.“

„Ich sehe anders.“

„Wie sonderbar, dass er Dich hierher gebracht hat. Man sagt, er habe nur gesunde und schöne Kinder entführen lassen, keine Krüppel.“

„Ich wurde nicht blind geboren. Er hat mich so gemacht“, erklärte Occella tonlos die Beleidigung übergehend.

„Eine Strafe also?“

„Man könnte es eine Strafe nennen. Oder einen Segen. Auf jeden Fall ist es für die Erfüllung meiner Pflichten notwendig.“

„Ich verstehe nicht? Wie kann Blindheit nützlich sein? Oh, der Wahnsinn in diesem Haus!“ rief Caligula aus. Ruckartig richtete er sich auf und packte Occellas Schulter.

Sie legte ihre kleine Hand auf seinen Arm und er sank zurück.

„Schhh! Es gibt viele Geheimnisse in diesem Haus, viele Fragen und viele Antworten. Du musst Geduld haben. Du wirst eine Lehre empfangen. Deshalb bist Du hier. Er selbst hat Dich ausgesucht. Ruh Dich jetzt aus, Caligula, Sohn des Germanicus. Ich komme mit Arznei zurück. Du darfst nicht sterben. Noch nicht. Er hat es verboten.“

*

Das Fieber erwies sich als ein rasch vorübergehendes Übel. Occellas Pflege und eine sehr potente Arznei brachten ihn nach einigen Tagen wieder auf die Füße. Sie verbrachte ungezählte Stunden in seinen Gemächern. Er genoss lange Unterhaltungen mit ihr, die Grazie ihrer wohl bemessenen fließenden Bewegungen, die besonnene Art mit ihm, der selbst zum Aufbrausen neigte, stets ruhig zu sprechen. Gewisse kleine Gesten, Bewegungen und Ausdrücke erinnerten ihn tatsächlich an seine Schwester und mehrfach nannte er sie aus Versehen bei ihrem Namen, nur um sich sogleich zu korrigieren. Er wollte Occella nicht als Geschenk des Tiberius annehme, eine Travestie seiner Bedürfnisse, wollte nicht zulassen, dass die blinde Freundin der Schwester Platz in seiner Seele ausfüllte. Nein. Dieses Mädchen war und blieb ihm Occella.

Occella war außerordentlich gebildet und ein angenehmer Gesprächspartner. Sie verstand sich nicht nur auf die griechischen und römischen Klassiker, sondern auch auf gewisse, Caligula kaum bekannte orientalische Texte. Diese standen ganz im Gegensatz zur nüchternen und oft mehr an Ausdruck als am eigentlich Inhalt interessierten Literatur, die in Rom den Kanon der Bildung diktierte. Es waren mystische Schriften, von denen sie erzählte, uralt und fremdartig. Sie schreckten weder vor Suggestion noch offener Paradoxie zurück, zerrissen das Gewebe der Wirklichkeit mit kindlicher Respektlosigkeit, um hinter dem Sichtbaren, Logischen, Angemessenem neue und aufregende Möglichkeiten des Denkens zu erforschen.

„Jeder Mensch“, sagte sie, „trägt in sich den Samen des Göttlichen. Man darf das allerdings nicht als Allegorie verstehen. Das Göttliche ist nicht der Logos, die Vernunft, wie die Stoiker behaupten. Nichts Abstraktes. Kein Weltgeist. Vielmehr lebt Gott in uns und strebt danach, sich in uns zu materialisieren“, erklärte sie. „Er schuf den Menschen als Fleisch, damit er durch ihn fühlen kann. Lust und Schmerz, Leben und Tod. Denn der prämaterielle Gott ist unvollkommen. Erst die Materie vervollkommnet ihn. Das Werk schafft den Schöpfer.“

„Was soll das bedeuten, Occella? Dass ein Mensch Gott werden kann. Sollte ich wie Jupiter Blitze schleudern können? Meine Gestalt verwandeln? Das ist unmöglich“, widersprach Caligula spottend. In Wahrheit zielten seine Einwürfe jedoch nur darauf ab, Occella zum Weiterreden zu ermuntern.

„Aber gewiss, Caligula! Um nur ein Beispiel zu nennen: Es gibt ägyptische Magier, die hunderte von Jahren alt sind. Sie beherrschen die Elemente und verfügen über das geheime Wissen der Götter, über ihre Sprache. Das sind Worte, die über die materielle Welt gebieten“ erklärte Occella ruhig.

„So einen Magier will ich gerne kennenlernen“, lachte Caligula.

„Und das wirst Du“, meinte Occella ernst. „In diesem Haus lebt Thrasyllos. Er ist vierhundert Jahre alt und kann die Zukunft vorhersagen. Tiberius vertraut auf seinen Rat. Er kann Tote zum Leben erwecken.“

„Unsinn!“

„Du glaubst mir nicht? Du wirst es selbst sehen.“

„Tricks, Verwirrspiele. Ich kenne dergleichen Scharlatane zu Genüge. Sie bevölkerten Roms Gassen wie die Ratten. Um ein As bieten sie ihre ach so ehrwürdige Kunst jedem Sklaven an, der dumm genug ist, ihrem Geschwätz zu lauschen. Tiberius hat gut daran getan, dieses Pack aus Italien zu verbannen, die mit ihren Lehren und sogenannten Vorhersagen nur Unheil stiften. Wie bezeichnend, dass er sich selbst einen solchen Schausteller hält“ scherzte Caligula.

Occella fasste seine Hand.

„Komm, Gaius. Du sollst es selber sehen.“

*

Etwa auf dem halben Weg durch das steinerne Labyrinth befand sich eine Grotte, die dem Mithras geweiht war. Occella führte Caligula wie ein Kind an der Hand dorthin. Der Weg war ihr vertraut, so vertraut, dass sie mit vollendeter Sicherheit die Flure und Kammern durchschritt, die teils nur spärlich beleuchtet waren, teils völlig in Finsternis lagen.

„Schnell“, zischte sie.

Sie huschten durch einen quadratischen Raum mit niedriger Decke. Auf der gegenüberliegenden Seite klaffte im Schatten einer mächtigen Säule ein Spalt im Gestein. Er war gerade weit genug, die beiden Körper aufzunehmen. Von dort konnte man den Altar in der Mitte des Raums beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.

Occella presste ihren schlanken Leib an Caligula.

„Still jetzt“, flüsterte sie.

Schritte hallten durch das Gewölbe. Dann erschienen zwei Germanen. Sie trugen Fackeln. Sie postierten sich neben dem Altar und verharrten dort regungslos. Wenig später betraten zwei weitere Germanen den Raum. Sie zerrten einen Knaben von zehn oder zwölf Jahren zwischen sich. Er war besinnungslos und nackt. Ein willenloses Bündel Fleisch. Sie hievten den Federleib auf den Stein. Der Kopf des Knaben fiel zur Seite, sodass Caligula seine Züge erkennen konnte. Nun betrat eine Gestalt in weiter roter Robe die Szene. Er sprach einige Worte zu den Bewaffneten, sich ihrer fremden Sprache bedienend. Seine Stimme glich dem Zischen einer Schlange. Occellas Finger krallten sich in seine Flanke. Er begriff sofort, dass dieses Wesen jener Magier sein musste, von dem die Rede gewesen war. Thrasyllos, der Astrologe des Kaisers.

Thrasyllos war von mittlerer Größe, dürr, mit unmäßig langen Gliedern, die er insektenhaft bewegte. Sein Gesicht war ohne Alter, die Haut glatt von grauer Farbe und wächsernem Schimmer. Tiefe Schatten lagen unter fast schwarzen, doch lebhaften Augen.

Er beugte sich über den Knaben, senkte die stark gekrümmte Nase tief hinab, roch an ihm. Caligula konnte deutlich sehen, wie sich die Nüstern des Magiers blähten. Danach betastete er Bauch und Flanken, seine langen Finger tief ins Eingeweide drückend. Der Knabe erwachte. Wimmerte, suchte, sich zu befreien. Doch die Germanen hielten ihn an Armen und Beinen. Thrasyllos zog einen Dolch aus seiner Robe, murmelte einige Gebete in der Sprache seiner schwarzäugigen Rasse. Stieß dann unverwandt die silbrige Klinge oberhalb des Nabels in den Leib. Der Knabe schluchzte auf. Thrasyllos vollendete das Opfer, indem er mit überraschender Kraft die Klinge bis hinab zum Becken zerrte. Dann legte er sie vorsichtig beiseite und fasste ins Innere des noch lebenden Jungen.

Caligula schloss die Augen. Er atmete schwer, kämpfte darum, sein Bewusstsein nicht zu verlieren. Allein die Anwesenheit Occellas, ihr ruhiger Atem, der seinen Hals streifte, die Wärme ihres Leibes, halfen ihm, die Fassung zu bewahren. Er dachte an seine Schwester, an deren Brust er oft geweint und Trost gefunden hatte.

Occellas Stimme erlöste ihn aus der dämmrigen Betäubung, in die hinein sich sein Geist vor dem Grauen, dessen Zeuge er geworden, geflüchtet hatte.

„Er ist weg“, sagte sie leise.

Sie löste sich aus seiner Umklammerung und zog ihn hinter sich her in Richtung des Altars.

„Komm und sieh.“

Caligula sträubte sich, folgte dann aber doch, halb benommen, mit schlagendem Herzen.

„Sieh.“

„Ich kann nicht.“

„Du musst. Sieh!“

Er überwand seinen Widerwillen.

Caligula erwartete Blut zu sehen, Eingeweide, die Überreste eines Menschen. Stattdessen lag in sanftem Schlaf und mit völlig entspannten Zügen der Knabe. Sein Leib war unberührt. Nicht der geringste Hinweis deutete auf eine Gewalttat hin. Sachte hob und senkte sich die Brust.

„Ich verstehe nicht.“

Occella fasste seine Hand, küsste sie, schmiegte ihre Wange daran.

„Deine Augen betrügen Dich, Caligula. Leben, wo Tod ist“, sagte die kryptisch. Sie schien sehr erregt zu sein, fast ekstatisch. „Du wirst verstehen, Gaius. Du wirst lernen, mit geschlossenen Augen zu sehen und mit versiegelten Ohren zu hören. Was unsere Sinne wahrnehmen, sind nur die Schatten einer größeren, helleren Wirklichkeit. Oh, Caligula, Du wirst sehen!“

„Meine Schwägerin Aemilia, Drusus Frau, weihte mich in gewisse Mysterien ein...“, erinnerte sich Caligula, ohne Recht zu wissen warum. „Ein Tunnel, dunkel und eng, er öffnet sich in eine kleine Bucht. Schwarze Felsen umschließen sie auf beiden Seiten. Knochen dort. Schädel. Treibholz. Tod und Wiedergeburt. Sie war dort mit mir, Aemilia meine ich, meine Schwägerin. Die Formen wiederholen sich.“

„Mysterien! Das sind Spiele für gelangweilte Römerinnen und eine lukrative Einkommensquelle für die degenerierte Priesterschaft toter Götter“, sagte Occella lachend. „Komm jetzt. Wir müssen gehen. Er wird gleich aufwachen.“

„Wer ist er?“ fragte Caligula.

„Sieh hin.“

Und Caligula glaubte ein jüngeres Abbild seiner selbst in jenem Körper zu entdecken, der doch nicht der seine war, nicht sein konnte, nicht sein durfte. Er verschwieg Occella diesen Eindruck. Verleugnete ihn sogar. Caligula sieht Gespenster. Caligula geht den Scharlatanen auf den Leim. Und doch blieb ein Zweifel zurück, der unendlich langsam an seinem Glauben an den Bestand der Wirklichkeit zu nagen begann.

*

Zwischen geträumter und ungeträumter Wirklichkeit steht das Erlebnis des Erwachens. Wehe, dem Träumer der nicht erwacht. Wehe dem Träumer, der es tut.

*

Occella ließ sich am folgenden Tag nicht blicken. Caligula wartete ungeduldig den ganzen Vormittag auf sie. Dann verließ er verärgert sein Zimmer mit dem ungefähren Wunsch, die Insel zu erkunden. Er wollte das sonderbare Haus hinter sich lassen, dessen Geheimnisse und rätselhafte Bewohner ihn in gleichem Maße faszinierten und abstießen.

Ein Wächter hielt ihn an Pforte der Villa an. Caligula erklärte seinen Wunsch, die Insel zu erkunden. Der Germane verstand Caligulas Vorbringen oder gab dies zumindest vor. Er nickte knapp. Dann bellte er einige Kommandos, worauf sich ein zweiter Wächter, den Caligula nicht bemerkte hatte, ins Innere der Villa bewegte.

Eine Weile verging. Caligula betrachtete zuerst schweigend den Germanen, der mit gleichgültiger Miene seinen Blick erwiderte. Dann begann er einige wüste Beleidigungen auszustoßen, wobei er äußerst freundlich lächelte, so als komplementierte er sein Gegenüber. Der Germane erwiderte das Lächeln und brachte nun selbst, wie es schien, einige Freundlichkeiten hervor.

Das seltsame Gespräch endete mit Nervas Erscheinen. Der Senator trug eine einfache Toga, einen breiten Strohhut und einen Reisetasche mit Mundvorrat.

„Du!“ stieß Caligula überrascht hervor.

„Ich werde Dich begleiten, Gaius, und Dir die Insel zeigen. Ich hoffe, Du wirst heute freundlicher mit mir umgehen“, erwiderte Nerva. Dann fügte er mit verschmitztem Lächeln hinzu: „Ich sehe ihr beide habt schon einige Höflichkeiten gesagt.“

Caligula stutzte.

„Oh, keine Sorge, sie sprechen kein Latein, aber sie sind bei Weitem nicht so einfältig wie die Propaganda sie dem Plebs vorzeichnet. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe übrigens ein Stückchen eures Lehrgesprächs aufgeschnappt. Er zahlte Dir mit gleicher Münze und, wie ich zugestehen muss, einem nicht unbeträchtlichem Zins heim, Gaius“, erklärte Nerva.

Caligula sah erstaunt den Germanen an, der ihm mit unveränderter Freundlichkeit zunickte. Er wurde rot. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Er reichte dem Hünen die Hand. Dieser ergriff sie sogleich.

„Gerovix“, sagte er. „Gerovix.“

„Das ist Dein Name“, erwiderte Caligula. „Ich bin Gaius, Du Affe.“

„Affe“, entgegnete Gerovix heftig nickend. „Affe.“

*

Nerva und Caligula stiegen den engen gepflasterten Pfad hinab, der in einer kleinen Siedlung am Fuße des Felsens mündete. Während des Marsches kamen ihnen mehrfach Diener entgegen, die alle möglichen Vorräte auf den Schultern zur Villa brachten.

„Was für ein Aufwand“, stellte Caligula fest. „Man hätte den Weg breiter machen können.“

„Es dient der Sicherheit“, erklärte Nerva schwer atmend. „Nur drei Wege führen zur Villa. Jener durch den Felsen und dieser Pfad hier. Auf keinem der beiden könnte ein Heer, geschweige denn Belagerungsmaschinen sich bewegen. So ist der Palast selbst im Falle einer Invasion der Insel gegen eine direkte Belagerung gefeit.“

„Was ist der dritte Weg?“ fragte Caligula.

„Oh. Es gibt noch einen Aufzug, der von der Bucht, an der Du gelandet bist, bis hinauf zu einer der Aussichtsplattformen führt. Man hat ihn errichtet, um Baumaterial zu transportieren.“

Die beiden Wanderer erreichten die Siedlung. Diese entpuppte sich als bloße Erweiterung der Villa. Garküchen, Werkstätten, Ställe, Kornspeicher, Bäckereien, Schmieden fanden sich kreisförmig um eine Art Marktplatz angesiedelt. Reges Treiben herrschte. Das lange vermisste Stimmgewirr erfreute Caligula und ließ ihn die bedrückende Stille auf der Villa schnell vergessen. Hohe Mauern und einige Türme umgaben das Dorf, auf denen germanische Söldner Wache hielten.

Kaum hatten Nerva und er den Marktplatz betreten, als ein dicklicher, stark schwitzender Schreiber auf sie zugeeilt kam.

„Nerva“, rief er atemlos, „welche Ehre! Die Schriften sind allesamt… Ich meine, ich meine eben nicht allesamt. Es gab eine Verzögerung, Unklarheiten… Deine Anwesenheit hier ist...unerwartet, aber nicht unerwünscht. Im Gegenteil! Unverhofft, ja...ein unverhoffter Glücksfall. Ich werde den Göttern ein Opfer darbringen, dass Du...Wegen der Bücher... “

Nerva winkte ab.

„Das ist Gellius, der Oberschreiber des Kaisers“, sagte er zu Caligula verwandt. „Alle Schriften und Edikte wandern von der Villa hierher, wo man sie überarbeitet und an die entsprechenden Stellen im Reich weiterleitet.“ Scherzend fügte er hinzu: „Gellius ist ein wichtiger Mann, Gaius, halte Dich an ihn.“

„Zuviel der Ehre“, entgegnete der Schreiber sich tief verbeugend. „Was also die Schriften anbelangt...“

„Mach Dir keine Sorgen“, unterbrach ihn Nerva. „Wir sind nicht deswegen gekommen. Mein Freund hier und ich wollen eine kleine Rundreise unternehmen. Schaff uns einen Wagen herbei.“

Gellius zwinkerte nachdenklich. Dann rieb er sich den Schweiß von den feisten Backen, lächelte.

„Aber natürlich, Nerva. Kommt derweilen in mein Haus. Beehrt meine bescheidene Unterkunft mit eurer Anwesenheit. Erfrischt euch, ruht aus, esst, trinkt, während ich mich um das Notwendige kümmere.“

Er wies ihnen unter einer weiteren, tiefen Verbeugung den Weg zu einem einfachen, zweistöckigen Haus. Caligula bemerkte, dass der Mann ihn die ganze Zeit mit unverhohlener Neugier beobachtete.

*

Gellius Nervosität gegenüber seinen hohen Gästen legte sich bald. Der Wein half. Er trank hastig und viel. Seine Wangen röteten sich. Er lächelte. Unschuldig, unwissend. Er mahnte den Sklaven, der sie bediente, die Becher der Gäste ja nie leer werden zu lassen.

„Der Wagen wird bald bereit sein.“ Er wiederholte sich mehrfach. Suchte nach Gesprächsthemen, die vor dem jungen Caligula unverfänglich. Man konnte nicht wissen, ob Nervas Begleiter verdammt oder auserwählt. Andere waren hier gewesen, die nun verschwunden, vernichtet, wie man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte. Gefoltert. Entseelt. Von den Klippen ins Meer geworfen. Verdammte vom ersten Tag ihrer Ankunft an, wie man im Nachhinein erfuhr. Auch sie waren mit Nerva gereist. Auch sie waren Gäste in seinem Haus gewesen. Hatten aus eben jenen wundervoll gearbeiteten bleiernen Bechern getrunken. Den gleichen Wein von den Hängen des Ätna, feurig wie Typhons Zorn.

„Diogenes“, Gellius fasste den Sklaven, der ihm gerade nachschenkte, am Ärmel, „was ist denn mit dem Wagen?“

„Willst Du uns loswerden?“ scherzte Nerva.

Gellius wurde rot. „Aber nicht doch! Wie kannst Du nur so etwas denken?“

Nerva lachte gezwungen, zwinkerte Caligula zu, wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Gellius, erkläre unserem jungen Freund hier, wie der Princeps von Capri aus sein Reich regiert.“

Gellius lächelte nervös.

„Nur zu! Du sprichst mit einem Sohn des Kaisers“, ermunterte ihn Nerva scherzend, wobei er Caligula genau im Auge behielt. Letzteres entging jenem nicht.

„Auch er beobachtet mich“, dachte er.

Gellius nahm einen weiteren Schluck, räusperte sich, als wolle er zu einer langen ausschweifenden Rede ansetzten und begann, lang und ausschweifend, zu reden. Er erläuterte in einer halben Stunde die unsichtbaren Fäden, an denen das Imperium Romanum hing. Zu Caligulas Erstaunen sprach er dabei weit weniger über Gesetze und Institutionen, als über eine Handvoll wenig bekannter Personen, die an den Stellwerken der Reichsbürokratie saßen. Ein freigelassener Buchhalter und Betrüger, ein Grundstücksspekulant, ein ausnehmend schöner Lustknabe, den man Narziss nannte, eine einäugige Hure, Betreiberin eines exquisiten Bordells in Rom und andere Gestalten des Zwielichts.

„Jene beeinflussen jene, die von Geburt, Reichtum oder Gesetz in Machtpositionen gesetzt wurden“, schloss Gellius. „Ein Wort von Strabo, einem weitläufigen Verwandten des geliebten Pompeius, und drei Legionen setzen sich in Bewegung, Tod und Verderben über Roms Feinde zu bringen, ein Hauch von Narziss, dessen Hinterteil er gänzlich verfallen, und die Legionen ziehen sich zurück.“

„Narziss steht in unseren Diensten“, stellte Nerva fest.

„Natürlich.“

„Du siehst, Gaius, in welch bedenklichem Zustand sich das Reich befindet“, sagte Nerva. „Unsere Machtstrukturen gründen nicht auf Gesetz und Vernunft, sondern auf den persönlichen und sehr prekären Befindlichkeiten unserer Funktionäre. Chaos und Verwirrung sind die notwendigen Folgen, der Bürgerkrieg eine reelle Gefahr wie die Vergangenheit oft genug gezeigt hat.“

„Das Prinzipat hat die Möglichkeit des Bürgerkriegs aufgehoben“, widersprach Caligula.

„Nicht aufgehoben, sondern reduziert, indem es die Anzahl der Verantwortlichen begrenzt und eine Person in den Mittelpunkt gerückt hat. Solange der Prinzeps Herr seiner selbst, herrscht er über Rom. Und solange er ein Interesse daran hat, die Angelegenheiten des Reichs zu fördern, wird jenes wachsen und gedeihen. Er ist der Schlüssel der Macht, der große Verteiler von Fluch und Segen. Doch wehe uns, wenn ein Irrer, ein Verbrecher, ein Schwächling oder ein Schurke je das Purpur des Kaisermantels tragen sollte“, sagte Nerva nicht frei vom Pathos seines Berufsstands.

„Der Republikaner spricht aus Dir“, scherzte Caligula.

Nerva senkte den Blick nachdenklich. „Die Republik hat Nachteile. Die Verteilung der Macht auf eine Vielzahl von Personen, die ihre je eigenen Interessen verfolgen, führt zur Notwendigkeit von Kompromissen...“

„Ein Kompromiss ist stets schlechter als die beste Entscheidung“, unterbrach Caligula.

„Ein Kompromiss ist aber auch besser als die schlechteste Entscheidung“, entgegnete Nerva. „Wir argumentieren mit Aristoteles und gegen ihn. Die ideale Herrschaftsform ist die Monarchie, sofern der Monarch eine ideale Person ist. Die Pervertierung dieses Prinzips kennen wir als Tyrannis.“

„Diese ideale Person gibt es nicht. Wir sprechen von einem Menschen, dessen ganzes Sinnen und Trachten auf das Gemeinwohl abzielt, und dessen Räsonieren von vollendeter Logik geprägt ist.“ Caligula spielte Nerva bewusst in die Hand, indem er den von ihm erwarteten Einwand brachte.

„Darum sieht er in der Polis, der Versammlung freier Bürger, die praktikabelste Staatsform. Die Demokratie, die Herrschaft des Pöbels und in unserem Falle des Plebs stellt ihr Zerrbild dar.“

„Und die Polis schafft Gesetze, die gleichsam der Willkür der Versammlung entgegenwirken sollen. Gerechte Gesetze, von allen und für alle. So kommen wir zur Republik, mein Nerva. Darauf wolltest Du doch hinaus, nicht?“

„Genau“, rief Nerva erfreut aus. „Genau so.“

Gellius, dem das Gespräch zunehmend unangenehm wurde, verabschiedete sich unter dem Vorwand, nach dem Wagen sehen zu wollen. Eine befremdliche Stille blieb zurück.

„Was ist die Lehre aus dieser Lehre?“ fragte Caligula nach einer Weile, sich mühend, möglichst desinteressiert und gleichgültig zu klingen.

„Die Lehre? Hm. Das hängt davon ab, was Du daraus machst. Es mag an einem kommenden Princeps sein, die Republik in ihrer Urform wiederherzustellen.“

„Du glaubst, ich folge Tiberius auf den Thron? Du bist wahnsinnig, Nerva“, rief Caligula aus. Er wusste nicht, ob man ihm eine Falle stellte oder ob Nerva wirklich die Möglichkeit in Betracht zog, dass seine Anwesenheit auf Capri mehr als eine Gefangenschaft, eine Geiselnahme sein könnte.

„Was auch immer geschehen mag, Gaius, die präzise Kenntnisse der Umstände, ihrer Ursachen und möglichen Wirkungen schadet nie. Es ist ein Gebot der Klugheit auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Die Sorge um die Zukunft zeichnet uns gegenüber den Tieren aus, die nur im Augenblick existieren.“

Caligula wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment kam Gellius zurück.

„Der Wagen, meine Herren!“

*

Capri war Tiberius Regierungszentrum. Etliche neugebaute Anlagen und Straßen überzogen die Insel. Überall begegnete man Schreibern, Advokaten und sonstigen Helfern und Helfershelfern der

Administration. Sie rekrutierte sich aus allen Teilen des Reiches, sprach alle Sprachen. Die meist wohl gekleideten und sorgfältig frisierten Beamten nahmen sich im Vergleich mit den Ureinwohnern der Insel – einfache Fischer und Hirten – äußerst sonderbar, ja geradezu befremdlich aus.

Nerva zeigte Caligula einige der neuen Gebäuden, die in ihren kühlen und schattigen Eingeweiden die Geheimnisse Roms auf Pergament und Ton beherbergten. Eine Unzahl griechischer und ägyptischer Schreiber war in den nüchtern ausgestatteten Kanzleien mit Korrespondenzen beschäftigt.

„Tiberius hat schon lange vor seinem Weggang Capri in eine zweite Regierungszentrale umgewandelt. Seine Agenten haben Personal aus dem gesamten Reichsgebiet – mit Ausnahme von Rom und den lateinischen Metropolen – angeworben. Jedes Dokument, das je in Rom abgefasst wurde, wurde kopiert und ist hier archiviert“, erklärte Nerva. „Allmählich und sehr heimlich verlagerte er die Bürokratie des Imperiums hierher. Er versetzte wichtige Beamte oder schuf neue Behörden unter dem willkommenen Vorwand, die ohnehin träge stadtrömische Administration zu entlasten. Als er dann endlich selbst herkam, floh er nicht wirklich aus dem Zentrum des Reichs, sondern zog ihm nach. Rom wird von Capri aus regiert.“

„Rom?“ fragte Caligula.

Nerva lächelte. „Ich meine das Reich, Imperium Romanum, das wofür Rom steht. Die Stadt selbst ist freilich in der Hand des Präfekten.“

„Seian.“

„Eben jener.“

Nerva zeigte Caligula die Archive, die Kanzleien, die Amtsstuben, er stellte ihm alle möglichen Personen vor. Sein Gesicht leuchtete voller Zufriedenheit und Genugtuung.

„Du scheinst beeindruckt, Nerva“, stellte Caligula fest.

„Ich bin es. Es ist eine große Leistung gewesen, die Verwaltung hierher zu bewegen und mehr als das, sie unendlich effizienter zu gestalten. In diesen Hallen arbeiten keine korrupten Adligen wie in Rom, die ihre Ämter nur zum eigenen Vorteil und in der Folge notwendig zum Nachteil der res publica führen. Sämtliche Beamten hier sind Spezialisten, die im Sold des Kaisers stehen.“

„...und daher natürlich nur die Interessen Roms verfolgen“, spottete Caligula.

„Der Kaiser ist Rom. Rom ist der Kaiser“, erwiderte Nerva.

Caligula zuckte die Schultern. „Das aus dem Mund eines eingefleischten Republikaners zu hören, überrascht mich.“

Nerva lächelte schwach. Bitternis und Enttäuschung sprachen aus seinen Zügen.

„Die Umstände sind wie sie sind. Es steht uns nicht an, sie zu kritisieren, sondern das Beste daraus zu machen.“

„Ich verstehe. Wie kamst Du auf die Insel?“ wechselte Caligula das Thema.

„Freiwillig, wenn Du das meinst“, antwortete Nerva.

„Du kamst freiwillig?“ wunderte sich Caligula.

Nerva klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.