In dieser Reihe sind bisher erschienen:

1 Tobias Wimbauer: Landschaften im inneren Vorbeifahren: Aus den Traumtagebüchern 1995-2016 (August 2016) | 2 Friedrich Helms: Tagebuch Wilhelmshorst und Uelzen 1948/1949 (August 2016) |3 Marie Curie: Selbstbiographie (September 2016)| 4 Friedrich Helms: Tagebuch Wilhelmshorst 1945 (November 2016) | 5 Tobias Wimbauer: Personenregister der Tagebücher Ernst Jüngers (März 2017) | 6 Eugénie de Guérin: Tagebuch und Fragmente 1834-1842 (Mai 2017) | 7 Fridtjof Nansen: Unter Robben und Eisbären (Mai 2018) | 8 Roald Amundsen: Mein Leben als Entdecker (Juni 2018) | 9 Stefan Zweig: Amundsen und Scott. Der Kampf um den Südpol (Juni 2018) | weitere Bände sind in Vorbereitung

Deutsche Übersetzung: von Julius Sandmeier.

Erschien zuerst 1926 (© 1925) im Verlag F.A. Brockhaus zu Leipzig.

Gleichzeitig mit dieser neu gesetzten Leseausgabe erscheint dieses Buch als
originalgetreuer Reprint der 1926er Ausgabe mit der ISBN 9783746006529.

1. Auflage dieser Ausgabe: 2018

© 2018 Tobias Wimbauer, Nimmertal 75, 58091 Hagen

www.wimbauer-buchversand.de

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Printed in Germany

ISBN 9783752871234

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieser Bericht über »meine ersten Erlebnisse im Eismeer« ist zum großen Teil eine Wiedergabe des Tagebuchs, das der damals - 1882 - noch sehr junge Verfasser geführt hat. Er schildert den Eindruck, den die Welt dort oben im Norden und das neue Leben im Eis unter Robben und Eisbären auf das jugendlich empfängliche Gemüt machte. Die Schilderungen, die Beobachtungen und Schlüsse des eifrigen, aber noch unerfahrenen Naturforschers werden vervollständigt durch die Ergebnisse und Erfahrungen, die der Verfasser im Laufe seines Lebens durch viele Untersuchungen in denselben Gegenden gewonnen hat.

Auf diese Weise wird der Leser hoffentlich nicht nur ein reicheres Bild der Natur und des Lebens im Norden empfangen, auch das Verständnis für die dort herrschenden Verhältnisse wird in besserem Einklang stehen mit dem Wissen der Gegenwart.

Diese erste Reise war die Folge eines glücklichen Zufalls; sie sollte für die spätere Lebensarbeit des Verfassers entscheidend werden. Der Anblick der damals noch nicht erforschten Ostküste von Grönland gab den Anlaß zur Reise des Verfassers über das grönländische Inlandeis im Jahre 1888, die Beobachtung der mächtigen Eisdrift aus dem unbekannten Meer im Norden der grönländischen Ostküste führte zur Reise der »Fram« über das Polarmeer in den Jahren 1893 bis 1896. Darüber hinaus ist zu beachten, daß die mancherlei wissenschaftlichen Beobachtungen auf der ersten Eismeerreise sich gerade auf jenen Wissensgebieten bewegten, auf die sich die spätere Tätigkeit des Verfassers hauptsächlich erstreckte; sie gaben Anregungen und führten zu Problemen, die den reifern Mann nicht ruhen ließen, bis er sie näher erforscht hatte. Einmal war es das Tierleben, dem der spätere Zoologe Jahre seines Lebens opferte, zum andern das Meer, seine Strömungen, seine physikalischen Verhältnisse und die Eisdrift; an ihnen stellte der Meeresforscher später eingehende Untersuchungen an, die in umfangreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen beschrieben sind.

Dieses Buch ist also nicht nur eine Beschreibung jener ersten Reise und ihrer Ergebnisse, es versucht auch die Anschauungen über Erscheinungen und Verhältnisse in jener Eiswelt darzustellen, zu denen die Forschung eines ganzen Lebens geführt hat.

Die Abbildungen1 hat der Verfasser nach eigenen Skizzen gezeichnet, die entstanden sind auf jener ersten Reise im Jahre 1882, auf dem Weg nach Grönland 1888 und auf der Framfahrt 1893 bis 1896.

Lysaker, 24. Oktober 1925. Fridtjof Nansen.


1 Anm.d. Herausgebers: Die Abbildungen sind in der vorliegenden Ausgabe nicht abgedruckt, sie finden sich aber sämtliche in der gleichzeitig mit dieser erscheinenden Reprint-Ausgabe mit der ISBN 9783746006529.

Erstes Kapitel: Nach Norden.

Welch ein wunderbares Märchen der Natur ist doch der Frühling für den jungen Menschen – dieses Erwachen nach dem langen Winter.

Zu sehen, wie die schneefreien Stellen mit jedem Tag sich ausdehnen – den Geruch von feuchter Erde und springenden Knospen zu spüren – das befreite Jubeln der überschäumenden Frühlingsbäche zu hören.

Und dann die ersten Leberblümchen auf dem braunen Waldboden – und die Lerche unter freiem Himmel – und die Drossel und das Rotkehlchen im dämmerigen Abend.

Aber am schönsten ist die weiße, sanfte Birke mit ihrem grünen Schleier, der wie ein leuchtendes Lächeln ist.

Welch ein unersetzlicher Verlust, ein solches Märchen aus seinem jungen Leben verlieren zu müssen – – –

Das empfand der Zwanzigjährige, der auf Deck des »Viking« stand, als dieser die Anker lichtete und am Sonnabend, 11. März 1882, frühmorgens den Hafen von Arendal verließ.

Die Seeleute sandten der schlafenden Stadt ein kräftiges Hurra zu. Da und dort am Lande wurde ein Hut geschwungen, ein Fenster wurde einen Spalt weit geöffnet, und es winkte jemand mit einem Taschentuch

Der »Viking« steuerte durch den Sund hinaus an den Leuchttürmen von Torungene vorbei, gerade als die Sonne aufging.

Wehmütig blickte der junge Mann zurück zu den Inseln und Landzungen und Höhenzügen, die in den Strahlen der Sonne golden aufleuchteten – – –

Der erste Frühling, in dem er sich nicht zwischen Holmen und Schären herumtreiben und die Zugvögel begrüßen durfte, in dem er nicht im großen Wald den Birkhahn kollern und den Kuckuck rufen hören sollte.

Ihm war, als blute es in seiner Brust.

Aber vor ihm lockte ein neues, noch größeres Märchen: das Meer – und dann weit droben im Norden die Eiswelt.

Für ihn wie für den »Viking« sollte es die erste große Fahrt ins Eismeer werden.

Nach vielem Schwanken hatte er sich endlich für das Studium der Zoologie entschlossen – warum? Wohl hauptsächlich, weil er ein leidenschaftlicher Jäger und Fischer war, ein Waldmensch, und weil er in jugendlicher Unerfahrenheit glaubte, ein solches Studium bringe ein beständiges Leben im Freien mit sich, zum Unterschied vom Studium der Physik und der Chemie, zu dem er sich eigentlich am meisten hingezogen fühlte. Dann hatte er sich eines Tags plötzlich in· den Kopf gesetzt, er wolle seine zoologischen Studien damit beginnen, daß er das Tierleben und die Naturverhältnisse des Eismeers studiere. Warum die jungen Kräfte gerade dort im Norden erprobt werden sollten, war unklar; wahrscheinlich waren es die Jagd und das Abenteuer, die ihn lockten. Mit wissenschaftlichen Kenntnissen besonders gut ausgerüstet war er noch nicht; aber als Schütze und Jäger besaß er eine gewisse Übung.

Er erkundigte sich nach den Robbenfängern und erfuhr, daß der junge schneidige Kapitän Axel Krefting unter den Eismeerfahrern als einer der tüchtigsten und vom Glück am meisten begünstigten, aber auch als einer der waghalsigsten galt. Er wandte sich an ihn. Ja, Krefting war bereit, den jungen Mann mitzunehmen. Aber da er in diesem Jahr ein neues Schiff aus Arendal nach Norden führen sollte, mußte auch die Erlaubnis der Reederei Smith & Thommesen eingeholt werden. Durch einen alten Familienfreund, der in Arendal wohnte, wurde die Anfrage an die Reederei vermittelt, worauf umgebend die telegraphische Antwort eintraf, die Reederei gebe mit Vergnügen ihre Zustimmung.

So kam es, daß dieser junge Mann an Bord des »Viking« als Fahrgast aufgenommen wurde und achtern an Backbord eine Kammer angewiesen erhielt. Die Kammer des Kapitäns befand sich gerade gegenüber an Steuerbord.

Viele Jahre sind seit jenem Märzmorgen hingegangen. Der Zwanzigjährige ist der »ältere Mann« geworden, der nun diese Berichte schreibt.

Es ging aufs Meer hinaus. Unser erstes Ziel war, so schnell wie möglich das Eis im Meer bei Jan Mayen zu erreichen, um den sogenannten »Jungenfang« in jenen Gegenden zu betreiben, wo die grönländischen oder Sattelrobben, wie die Robbenfänger sie nennen, sich zu Hunderttausenden auf dem Treibeis versammeln, um ihre Jungen zur Welt zu bringen.

Wir waren spät daran; die anderen norwegischen Robbenfangschiffe waren bereits eine oder zwei Wochen vor uns ausgefahren. Es galt aus Segeln und Maschine alles herauszuholen, um das Versäumte einzubringen. Und wir machten denn auch eine Fahrt, die nichts zu wünschen übrigließ.

Der Tag war schön und der Abend sternenklar, während wir Lindesnes umsegelten und uns weiter und weiter vom Land entfernten.

Auch am nächsten Tag hatten wir keinen besonders starken Wind, aber die See war doch ziemlich bewegt, offenbar von einem vorausgegangenen Sturm. Am Nachmittag wurde in der Kursrichtung ein Wrack gesichtet. Mit einem Satz war ich an Deck.

Wir steuerten gerade darauf zu. Alle waren sehr gespannt, ob Leute an Bord seien. Bald glaubten wir Menschen zu sehen, bald wieder schien es dem einen oder andern, es seien nur Maststumpen und Rauchkappen.

Endlich waren wir an der Seite des Wracks. Es war eine verlassene Bark; am Heck stand »Loyal, Grimstad«. Sie war mit Grubenhölzern beladen, soviel wir durch die offenen Luken und das zertrümmerte Deck sehen konnten.

Der Rumpf war überall leck; das Wasser spülte an den Seitenwänden aus und ein, während das Schiff im Seegang auf und nieder stampfte. Es schwamm auf der Ladung. Der Großmast und der Besanmast waren gekappt, der Fockmast stand noch. Das Marssegel hing in Fetzen an der Rahe. Ein Riemen war an den Stumpen des Besanmastes oben auf dem Kajütendach festgebunden, er hatte wohl als Notsignal dienen sollen. Zwei Boote standen unversehrt auf dem Deck des Vorschiffes, die Mannschaft war wahrscheinlich von einem Schiff geborgen worden, oder aber die Sturzseen hatten sie über Bord gespült.

Ein unheimlicher Anblick ist solch ein Wrack; man weiß nicht, welche Leiden sich darauf abgespielt haben mögen.

Es lohnte sich nicht, das Wrack nach Stavanger zu bugsieren, wir mußten uns beeilen, zum Jungenfang zu kommen. Da der Wind aufgefrischt hatte, setzten wir mehr Segel, und die Maschine durfte ruhen, zur großen Freude der Heizer, die zum erstenmal auf See waren und bei der schweren Dünung und der vierziggradigen Hitze im Maschinenraum sich nicht recht wohl fühlten.

Der »Viking« war ein als Bark getakeltes Robbenfangschiff von ungefähr 620 Registertonnen brutto und hatte eine Hilfsmaschine von 90 nominellen Pferdekräften. Er war vor kurzem in Arendal auf der eigenen Werft der Reederei Smith & Thommesen gebaut worden.

Ein Robbenfangschiff soll von vornherein eigens für die Schiffahrt im Treibeis gebaut sein und soll der unsanften Beanspruchung gewachsen sein, der es ausgesetzt wird. Die Spanten liegen dichter, und das Bauholz ist meist schwerer als auf einem gewöhnlichen Seeschiff, ebenso die Decksbalken des Oberdecks und des Zwischendecks. Auf dem »Viking« waren die Spanten hauptsächlich aus Föhrenholz, im Bug aus Eiche; ihre Dicke betrug ungefähr 9 Zoll oben und verstärkte sich bis zu 20 Zoll unten am Kielschwein.

Außen auf der Schiffshaut – ein gutes Stück über der Wasserlinie bis viele Fuß darunter – befindet sich eine besondere Haut, die Eishaut, ungefähr drei Zoll dicke Planken aus Greenheart oder harter Eiche. Der »Viking« hatte eine doppelte Haut aus vier Zoll dicken Föhrenplanken und eine Eishaut aus Greenheart, die vorn viereinhalb Zoll dick war und nach achtern bis auf zweieinhalb Zoll schwächer wurde.

Die Fähigkeit des Schiffes, sich durch das Eis Bahn zu brechen, hängt – abgesehen von der Maschinenkraft und der Manövrierfähigkeit – auch noch zum großen Teil von der Form und Stärke des Buges ab. Am günstigsten ist es, wenn er schräg überhängend ist, so daß das Schiff beim Rammen aufs Eis hinaufrennt und dieses unter sich hinunterdrückt. Ist der Bug senkrecht, wird sich das Schiff leicht zwischen den Schollen verkeilen und kann sich nicht so gut durch das Eis Bahn brechen.

Der Bug muß selbstverständlich besonders stark sein. Er hat meist mehrere starke Stemmbalken hintereinander, die durch innere Versteifungen gut verspreizt sind, schwere Eichenknie und dicke Pitchpinebalken. Die Stärke des Holzes im Bug des »Viking« betrug ungefähr sechs Fuß. Außerdem hatte er vorn einen dicken Eisensteven; quer über den Bug – von hoch über der Wasserlinie bis tief darunter – war das Ganze mit starken Eisenschienen verbolzt, die sich zu beiden Seiten mehrere Fuß weit nach hinten zu erstreckten.

Der verwundbarste Teil eines Robbenfangschiffes ist die Schraube, die, wenn die Maschine in Betrieb ist, bei dichtem Eis durch Schläge gegen die mächtigen Eisschollen beschädigt werden kann. Die neuen Robbenfangdampfer sind deshalb so eingerichtet, daß sie im Bedarfsfall die Schraube auf hoher See auswechseln können. Die Schraube liegt zu diesem Zwecke in einem Stahlrahmen; sie kann von der Welle abgehoben und mit dem Rahmen durch einen Schraubenbrunnen hochgehißt werden, worauf man eine neue Schraube in den Rahmen einsetzen und durch den Brunnen wieder hinunterlassen kann. Ein Zapfen an der vordern Kante der Schraubennabe paßt in eine Fuge der Schraubenwelle; dadurch wird die Schraube mit dieser angetrieben, wenn der Rahmen festgehalten wird. Der »Viking« besaß einen solchen Schraubenbrunnen.

Es ist nicht zu vermeiden, daß die Schraube bei der Fahrt durch Eis oft gegen Eisstücke schlägt. Ist die Scholle groß und schwer und schlägt der Schraubenflügel mit großer Gewalt an, dann ist es wichtig, daß der Flügel nicht zu stark ist, denn sonst kann es vorkommen, daß die Schraubenwelle sich verdreht, sich verbiegt oder auch bricht; eine solche Welle kann man auf hoher See unmöglich mehr instand setzen. Ebensowenig darf sich der Schraubenflügel verbiegen, da dieser sonst bei der Umdrehung leicht gegen den Rahmen schlägt und es dann nicht mehr möglich ist, ihn auszuwechseln, weil man den Rahmen mit der Schraube nicht mehr hochbringt.

Wenn es schon schief geht, ist es am besten, daß der Schraubenflügel nicht zu stark ist und eher abbricht, ohne sich zu verbiegen und ohne die Welle zu stark zu beanspruchen. Aus diesem Grund sind die Schrauben für Robbenfangdampfer aus Gußeisen. Solche Schrauben sind ein wenig dicker als Stahlschrauben und geben eine etwas geringere Geschwindigkeit, dafür aber kann man sie sicherer auswechseln.

Die Schrauben haben nur zwei Flügel. Während des Segelns, wenn die Maschine nicht in Betrieb ist, wird die Schraube so eingestellt, daß die Flügel senkrecht im Brunnen stehen und sich mit dem Schraubensteven decken; auf diese Weise hemmen sie die Fahrt am wenigsten, und außerdem kann auch das Eis sie dann nicht beschädigen.

Der »Viking« war, wie gesagt, neu gebaut; er hatte eine stärkere Maschine erhalten, als die anderen norwegischen Robbenfangschiffe sie damals besaßen.

Ihrer Bestimmung gemäß haben diese Schiffe stets eine große Mannschaft, in der Regel einige fünfzig Mann; auf dem »Viking« waren wir mit Kapitän und Fahrgast 62 Mann.

Wir hatten mehrere Tage guten Wind und segelten mit allem Tuch, das wir nur besaßen.

Meer, Meer, nur Meer, rollende Wellenrücken Das ist also »das freie, das mächtige Meer«. Ja, mächtig, überwältigend ist es zweifellos in seiner unendlichen Einförmigkeit. Aber die Freiheit? Ach ja, man möchte so gern bewundern, möchte sich von der frischen salzigen Größe erheben lassen – wären nur nicht diese unablässig und unerbittlich rollenden Wasserberge, durch die man ein so widerliches Gefühl der Übelkeit bekommt.

Ich stand an Deck und sah einer Schar Delphine (Lagenorhynchus acutus) zu, die uns lange zur Seite folgte. Wie beneidenswert heimisch sie sich in den Wellen tummelten. Blitzschnell schossen sie am Schiff vorbei, einer nach dem andern tauchte auf, um wieder in den Wellenberg hinunterzuschießen, während es blaugrün glitzerte, wenn sie verschwanden. Herrgott, die hatten mit keinen Gefühlen der Übelkeit zu kämpfen!

Und hinter uns, über dem Kielwasser, folgten die Stummelmöwen in ihrem leichten, anmutigen Flug, mit der weißen Brust, dem blauen Rücken und den schwarzen Flügelspitzen; ein einzelnes junges Tier unter ihnen hatte auch eine schwarze Schwanzspitze und einen schwarzen Streifen über den Rücken hin bis zu den Flügelspitzen hinaus.

So oft von Deck aus etwas hinausgeworfen wurde, flatterten und schossen sie pfeilschnell in unser Kielwasser hinab und blieben für eine Weile weg. Dann kamen sie wieder und schwebten uns nach, ohne die Schwingen zu rühren, bald in der Höhe mit dem Besantopp, bald in gleicher Höhe mit uns, die wir auf dem Achterdeck standen. Alke und Krabbentaucher sausten ab und zu mit ihren raschen Flügelschlägen am Schiff vorbei oder lagen auf dem Wasser.

Weit draußen schwebte schräg in der Luft ein mächtiger Tölpel (sula bassana) der Janfangent der Seeleute, auf langen, steifen Schwingen über den Wellenköpfen dahin.

In der Nacht zum vierten Tag (Dienstag, 14. März) stieg der Wind zu einer steifen Brise aus Südwest an. Die See wuchs und schlug von allen Seiten über. Es gab keine trockene Stelle mehr an Deck oder achtern auf dem Halbdeck.

Als ich morgens in der Koje lag und las, hörte ich ein Krachen und dann Lärmen und Rufen draußen auf Deck. Ich fuhr in die Kleider und begab mich hinaus. Die Großrahe war unter dem schweren Segeldruck gebrochen. Krefting segelt gern mit vollen Segeln. Sie waren gerade im Begriff, die Stücke der Nahe zu bergen.

Ein erfrischender Anblick war es: die mächtigen blaugrünen Wasserberge mit weißen schäumenden Kämmen, die über uns hereingerollt kamen und das Deck überfluteten – – die sorglosen Matrosen in Wasserstiefeln und Ölzeug, die ruhig an der Rahe weiterschafften, als sei dies eine alltägliche Arbeit – und dort – dort war ein neuer Gast. Der Eissturmvogel folgte uns. Auf steifen Schwingen schwebten diese Vögel an den Wogenkämmen empor und in die Wellentäler hinab, immer im gleichen Abstand vom Wasser, weite Strecken – dann ein Schwung rundherum, und höher hinauf ging’s in die Luft, einige lautlose Flügelschläge, dann wieder ein Zurückschweben, wieder rundherum, und auf steifen Flügeln über der Wasserfläche weiter vorwärts – stets in Bewegung, niemals anhaltend. Sturm ist ihr Element – - stumm, lautlos kommen sie aus einer neuen Welt – der erste Gruß aus dem Nördlichen Eismeer, dem der Eismeerfahrer begegnet.

Wenn es auch dem Kapitän nicht leicht fiel, die Segelfläche zu verkleinern, mußte er dies jetzt jedoch tun, sollten wir nicht Boote verlieren und uns die Deckfenster von den Wellen einschlagen lassen. Mächtig stampfte das Schiff in der schweren See.

Unentwegt aber ging es weiter, durch die Schaumwirbel dem Norden zu.

Auf allen Seiten nur blaugraues, wogendes Wasser – steigende und sinkende Berge mit weißen Schaumköpfem die in endloser Reihe über die unendliche blauweiße Ebene hinrollen. – Niedrige blaugraue Luft mit jagenden Wolken.

Rücken auf Rücken rollt einher, steigt höher empor, zerbirst in weißen Schaum, rollt weiter. Durch den Widerstand des Schiffes gereizt, halten die Wellen eine Sekunde an – überschlagen sich – welch wunderschöne tiefgrüne Farbe in ihrer Brust, die sich überwölbt – und stürzen dann in grünweißem Wasserfall über den dunklen Schiffskörper hinab.

Hier haben die Vorfahren Tausende von Jahren hindurch, Geschlecht auf Geschlecht das gleiche Leben geführt im gleichen Kampf mit diesem ungeheueren, wechselnden Spiel der Urmächte und haben die Lebensrechte unseres Volkes aufgebaut.

Aber das Meer – gleich unberührt von Mut wie von Feigheit – wogte und wogt seinen ewigen Rhythmus durch die Zeiten, die gingen, und durch die Zeiten, die kommen – bis alles einstmals in tausend Millionen Jahren in der ewigen Kälte erstarrt.

Im Laufe des Abends nahm die Brise an Heftigkeit zu und schlug nach Westen um – der Seegang wuchs.

Schwarze Nacht ringsum. Aus der Dunkelheit heraus kamen schäumend die weißen Kämme der Sturzseen von Luv auf uns zu; sie stiegen, barsten und wälzten sich mit donnerndem Brüllen über die Reling herein – ein Wasserfall von Meerleuchten sprühte über das Deck hin, und der Eischt erhob sich in die Luft wie eine Funkengarbe, während wir in das schwarze Unbekannte hineinfuhren.

Wie wir so achtern auf dem Halbdeck standen, rief der Kapitän neben mir: »Aufgepaßt!«

Ich sah luvwärts etwas Dunkles über mir und konnte mich gerade noch an die Besanwanten festklammern, als eine See hereinbrach und uns von Deck aufhob, so daß wir mit den Armen an den Wanten über den Wassern hingen.

Die Wasser stürzten weiter über die Deckfenster und über die Leute am Ruder.

Der Kapitän brüllte noch: »Ruder los!«, als der Mann am Ruder in Lee mit einem Satz in das Leebot hinaussprang, das in den Davits hing, während der Mann in Luv sich festkrallte, so gut er konnte, und das Raf pfeifend herumsauste.

Hätte er versucht es festzuhalten, wäre er vielleicht als Fleischklumpen auf Deck geschleudert worden. Ein Glück war es auch, daß die See, die das Boot füllte, ihn nicht mit sich riß.

Als der Kapitän ihn um dieser Dummheit willen schalt, grinste er nur.

Für das junge, unerfahrene Gemüt war dies eine neue Seite des Daseins, das Leben der fahrenden Geschlechter von den Wikingern bis zu den Seeleuten und Fängern unserer Zeit. Lachender Wagemut durch Sturm und Gischt.

Am fünften Tag (5. März) herrschte immer noch eine steife Brise mit ständigen Brechern über Vor- und Mittschiff, aber achtern auf dem Halbdeck konnte man sich einigermaßen trocken halten.

Ich stehe da, blicke über die wogende Ebene der endlosen Reihe jagender Schaumpferde hin mit ihren fliegenden weißen Mähnen und folge den ewigen Wellenrücken, die weit aus dem Westen heranrollen, steigen, gipfeln, in weißen Kämmen brechen, versinken und wieder steigen, unermüdlich und ohne Ende, – dann sich über die Luvreling hereinwölben und in grünweißem Wasserfall über das Deck stürzen, hinunter nach Lee. Die Wassermassen wälzen sich mit dem Rollen des Schiffes vor und zurück und reißen alles mit sich, was lose ist, bis sie einen Weg durch die Speigatten finden. Dann bricht eine neue Sturzsee herein.

Der Küchenjunge kommt durch die Türe am Halbdeck heraus; er ist achtern beim Steward gewesen, um die Küche zu versorgen, und hat beide Arme voll. Er bleibt ein wenig stehen und wartet, bis das ärgste Wasser nach der letzten Sturzsee abgeflossen ist.

Dann läuft er über das Deck, um die Treppe vorn zu erreichen, bevor der nächste Schwall kommt; aber dort erhebt sich eine neue See, der Wasserfall stürzt herein. Der Junge rennt ums Leben zum Fockmast hin, wird aber zu Boden geschlagen und saust mit den Wassermassen kopfüber wie ein Kleiderbündel nach Lee hinunter, während er noch krampfhaft versucht, die letzten Reste seiner kostbaren Last zu retten – die Seeleute brüllen vor Lachen. An der Reling in Lee faßt er Anker, kommt wieder auf die Beine und versucht ein paar von den Schiffszwiebacken zu retten, die umherschwimmen. Wie er so umherhüpft und immer wieder hingeworfen wird, gleicht er einer ins Wasser getauchten Krähe.

Aber draußen, hinter uns im Kielwasser, gibt es jetzt ein reiches Gastmahl für die Eissturmvögel, die sich in großer Aufregung herabstürzen und bis aufs Blut um die verlorenen, durch die Speigatten hinausgespülten Lebensmittel kämpfen.

Der Eissturmvögel sind immer mehr geworden. Einige Alke schießen jetzt auch dann und wann an uns vorbei; sie haben es eilig in diesem Wind. Die Möwen werden immer seltener.

Am sechsten Tag (Donnerstag, 16. März, -4° in der Luft) bekamen wir leichtes Schneetreiben. Der Wind hatte nachgelassen und war nach Norden umgeschlagen, so daß wir gerade Gegenwind hatten. Am Morgen machten wir Dampf auf und fuhren den ganzen Tag mit Dampf.

Die Stummelmöwen waren jetzt ganz verschwunden; wir sahen nur noch Eissturmvögel in allen Abarten, von den älteren mit weißer Brust und grauem Rücken bis zu den jüngeren, die ganz grau waren.

Der Eissturmvogel oder Seepferd (Fulmarus glacialis) gehört zu den Ozeanfliegern und ist aus der gleichen Familie (Procellariidae) wie der Albatros.

Unaufhörlich und unermüdlich schweben diese Vögel in ihrem lautlosen Flug um uns herum; niemals sah jemand sie rasten. Für den jungen wissensdurstigen Naturforscher war dieser Flug ein neues Rätsel, über das er immer und immer wieder nachdachte. Allen erlernten Gesetzen der Physik schien es zu widersprechen, daß ein Vogel auf starren Schwingen dahingleiten konnte, ohne einen Muskel zu rühren, vorwärts, vorwärts! Ja, daß er auch noch schneller fliegen konnte, ohne zu sinken, sondern im Gegenteil dabei sogar noch stieg! Das war gegen das Gesetz der Schwerkraft. Dieses Rätsel vermochte er nicht zu lösen.

Später im Leben bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß die Fähigkeit dieses Vogels, auf unbeweglichen Schwingen zu schweben, auf seiner genauen Kenntnis der aufsteigenden Luftströmungen beruht.

Wenn die Luft über die unebene Erdoberfläche hinstreicht oder über eine gewellte Wasserfläche so bilden sich Wirbel mit auf- und niedersteigenden Luftströmungen. Stets sinkt und steigt die gleiche Menge Luft; aber die hinaufgetriebene Luft hat eine größere Geschwindigkeit als die herabsinkende, sie hat deshalb eine größere lebendige Kraft, wie wir es in der Physik nennen. Diese ist imstande, einen Vogel, der sich ihrer zu bedienen weiß, in der Schwebe zu erhalten und ihn sogar weiterzuführen, wenn der Vogel die Schwingen so stellt, daß er sozusagen ständig über diese aufsteigende Luft hinabgleitet. Soweit ich es verstehen kann, muß dies auch die Erklärung sein für den Flug der Eissturmvögel über die Wellenrücken hinauf und den Wellentälern entlang. Wenn man sie und die Möwen an der Seite des Schiffes genau beobachtet, wird man bemerken, daß es gewisse Stellen gibt, wo die Vögel sich besonders leicht im Schwebeflug zu halten vermögen; dies ist gerade dort der Fall, wo man starke aufsteigende Luftströmungen voraussetzen darf, wie zum Beispiel an der Luvseite des Hecks, während sie, wenn sie an andere Stellen kommen, wie zum Beispiel in Lee des Schiffsrumpfs, unbedingt die Schwingen gebrauchen müssen.

Das für mich wertvollste Erlebnis dieser Zeit war sicherlich jenes, das ich im Tagebuch an diesem sechsten Tag aufgezeichnet finde: »Alle Anzeichen der Seekrankheit verschwunden. Befinden ausgezeichnet.« Ich feierte dies auch, indem ich bis 3 Uhr nachts aufblieb, holländischen Tabak aus einer langen Pfeife rauchte und dazu einen deutschen Räuberroman las.

Tags darauf (17. März) dampften wir immer noch im gleichen Wetter weiter. Die Temperatur sank ein wenig, es waren am Morgen -5°; aber das Wasser war noch warmes Wasser aus dem Atlantischen Ozean; es hatte an der Oberfläche 5°. Am Mittag waren wir auf 65°55‘ nördlicher Breite und 1°14‘ westlicher Länge, also ungefähr auf der gleichen Höhe mit dem nördlichen Teil von Island. Eissturmvögel sahen wir jetzt in großen Mengen; aber das war auch so ungefähr das einzige Leben rings um uns.

In diesen Tagen wurden Waren an die Leute verkauft. Viele von ihnen besitzen, wenn sie an Bord kommen, nicht viel mehr an Kleidern und anderen notwendigen Dingen, als was sie auf dem Leib tragen. Allerdings pflegen sie vor der Abreise einen Vorschuß für die Ausrüstung zu erhalten, aber der wird verjubelt; denn verjubeln, das müssen sie, solange sie an Land sind. Deshalb müssen sie jetzt das Notwendigste an Ausrüstungsstücken kaufen, die zu diesem Zweck auf Rechnung des Schiffs an Bord genommen worden waren.

Den einen Tag wurden Anzüge, Wollschlüpfer (die sogenannten »Lausnetze«), Wollzeug, Segeltuch für Überziehkleider, Wasserstiefel usw. verkauft. Die Leute kamen der Reihe nach und wählten sich aus, was sie brauchten. Was sie entnahmen, wurde aufgeschrieben und später von ihrer Heuer abgezogen. Am nächsten Tag wurden Tabak, Seife und Stiefelleder auf die gleiche Weise verkauft.

Das waren die Vorbereitungen zu dem neuen Abenteuerleben dort oben in Eis und Kälte; ich verfolgte sie mit lebhaftem Interesse. Die Vorbereitungen zu Jagd- und Fischfahrten sind wie ein erwartungsvolles Präludium, das schon einen Teil der Freude enthält. Sie gewähren einen Ausblick auf das, was kommen soll.

Überziehkleider aus Segeltuch mußte auch ich mir beschaffen; ich ließ sie mir vom Segelmacher nähen. Sie dienten nicht so sehr als Schutz gegen die Kälte, sondern mehr gegen das Geschmier von Speck und Blut, und sie erzählten von Jagd- und Fangerlebnissen.

Im übrigen kam jetzt das Leben an Bord nach und nach in seinen regelmäßigen Gang. Des Fanges halber führen, wie schon erwähnt, diese Eismeerschiffe eine große Mannschaft; wir waren unser 62 Mann.

Der Kapitän, zwei Steuerleute, zwei Maschinisten, der Steward und der Fahrgast hatten ihre Kammern achtern unter dem Halbdeck. Der Rest der Mannschaft einige fünfzig Mann, hielt sich in dem großen Mannschaftsraum vorn auf, wo längs der beiden Seiten ihre Kojen in zwei übereinanderliegenden Reihen untergebracht waren.

Zog man die Leute ab, die nicht regelmäßig Wache an Deck hatten, wie der Koch und der Küchenjunge, der Zimmermann, der Segelmacher, der Bootsmann usw., so war trotzdem für die Wachen an Deck, die nach allgemeinem Schiffsbrauch jede vierte Stunde wechselten, mehr Mannschaft zur Verfügung, als zur Bedienung des Schiffes, zum Setzen der Segel, für Ausguck und Ruder notwendig war.

Es herrscht deshalb an Bord dieser Schiffe, wenn kein Fang betrieben wird, meist ein faules Leben, und es ist schwer, die Leute zu beschäftigen.

Besonders wenn es an Deck kalt und widerwärtig war, wollten sie sich gern drücken. und in den Mannschaftsraum hinunterschleichen, wo sie beieinandersaßen und tauchten und schwatzten oder auf dem Herd brieten. Kapitän und Steuermann hatten ihre liebe Not damit, die Leute zu suchen und sie wieder an Deck zu jagen; dabei ging es oft heiß zu, sowohl mit Worten als auch mit schlagenderen Argumenten.

Da der »Viking« ein neues Schiff war, gab es ziemlich viel Bootsmanns- und gewöhnliche Matrosenarbeit; dadurch war ein Teil der Mannschaft ständig beschäftigt, zum mindesten vorläufig. Fendermatten und andere Matten wurden geflochten, Blöcke hergerichtet, Tauenden gesplißt usw. Der Zimmermann und der Schreiner hatten Arbeit genug mit der Herstellung von Rösterwerk und andern kleinen Dingen verschiedener Art.

Von einem andern Eismeerschiffer jener Zeit wurde übrigens erzählt, er habe die freie Zeit der Leute auf vernünftige Art auszunützen gewußt. Er hatte sich daheim ein eigenes Haus gebaut und Material zu allen möglichen Schreinerarbeiten für das Haus an Bord genommen, zu Türen, zu Schnitzwerk an Altanen und ähnlichem; als Mannschaft musterte er möglichst viele des Schreinerns kundige Leute an, so viele er nur finden konnte; dann wurde an Bord während der ganzen Eismeerfahrt, wenn kein Fang war, für sein Haus daheim in Sandefjord gearbeitet, das mit seinem reichen Schnitzwerk an den Altanen sicherlich bis auf den heutigen Tag sichtbare Spuren jener »Heimarbeit« auf dem Eismeer trägt.

Die lebhafteste Tätigkeit an Bord entfaltete sich beim Setzen der Marssegel. Da eine so große Mannschaft vorhanden ist, haben die Eismeerschiffe meist einfache, patentgereffte Marssegel, die von Deck aus gesetzt werden können und dabei mehr Kraft als Seemannschaft verlangen. Das Marsfall wird an Oberdeck längs geschoren, und dann holt die ganze Wache daran. Oft sind es zwanzig Mann in einer Reihe, die zur Melodie irgendeines Liedes daran ziehen, meistens nach dem Lied:

Und die zuerst im Tanze schritt,

das war die Jungfer Hansen,

tra-la-la-la, tra-la-la-la, tra-la-la-la, ohoi.

Lustig und taktfest trampeln sie über das lange Deck hin, während die Marssegel gestreckt werden. Sollen aber die Bramsegel gesetzt werden, dann müssen ein paar Matrosen hinauf, um die Segel loszumachen.

Bei der Ablösung der Wache gibt es vorn im Mannschaftsraum stets ein großes Getöse. Die Freiwache wird mit einem so fürchterlichem langgedehnten Geheul geweckt, daß der des Treibens Ungewohnte glauben muß, es gehe etwas ganz Entsetzliches vor sich. Dann taumeln die Schlaftrunkenen aus den Kojen und fahren in ihre Kleider; dabei herrscht da unten großer Tumult und ein lebhaftes Durcheinander von Menschen.

Dann wird gegessen. Der Koch hat das Essen auf dem Herd bereit, und es wird ausgeteilt. Zu essen gibt es genug, und die Leute lassen sich’s gutgehen; aber bei dem angenehmen Leben und dem vielen Essen werden sie auf einer solchen Fahrt nur immer dicker und dicker.

Mir wurde die Zeit nicht lang; es gab in diesem neuen Seemannsleben ständig viel zu sehen und zu lernen. Kam dann der Abend herbei, so war es überaus gemütlich, aus der Kälte und der Dunkelheit droben in die behagliche, erhellte Kajüte zu kommen, wo ein warmes Abendessen wartete. Der Kapitän und ich hielten eine vergnügte Mahlzeit, und ich hörte mit großer Begierde zu, wenn er von Fang und Jagd und dem Leben oben im Norden erzählte; kamen danach die Steuerleute und der Steward herein, so lauschte ich ihren Gesprächen über alles, was sich in früheren Jahren ereignet hatte, über Schiffe und Schiffer und besonders über unsere Fangaussichten.

Endlich, am achten Tag (Sonnabend, 18. März) sollte das Merkwürdige geschehen. Um 8 Uhr morgens war die Temperatur des Wassers auf 2° gesunken. Gegen Mittag waren wir auf 68°16‘ nördlicher Breite und 4°43‘ westlicher Länge gekommen. Wir konnten jetzt nicht mehr weit vom Eise entfernt sein.

Gegen Abend wurde denn auch das erste Eis gemeldet. Ich stürzte an Deck hinauf, sah aber in der Dunkelheit vorerst nichts. Doch, dort schoß etwas Weißes aus all dem Schwarzen heraus. Es wuchs und wuchs, wurde immer weißer, ganz leuchtend weiß auf der nachtschwarzen Fläche – es war die erste Eisscholle. Sie war von den ungeheueren Eisfeldern hergekommen, die sich, wie ich ja wußte, dort im Norden in der Polarnacht unter Nordlicht und Sternen ausdehnten. Es durchfuhr mich wie ein Stoß. Warum? Ich hatte wohl schon viele ebenso große Eisschollen gesehen, und es war nicht das geringste Merkwürdige daran gewesen. Aber hier war eben doch die Schwelle zu einer neuen, unbekannten Welt, die von der ganzen Phantasie und Abenteuerlust eines jugendlichen Gemütes verklärt wurde.

Dort war noch eine Scholle, viele Schollen. Weiß schossen sie aus der Dunkelheit auf uns zu, glitten mit einem glucksenden, knirschenden Laut, der von dem Auf- und Abwiegen in der See herrührte, an uns vorüber, und weiß verschwanden sie wieder hinter uns. Dann und wann stieß das Schiff gegen eine Scholle, so daß es bebte.

Aber was bedeutete dieser eigentümliche knirschende, rauschende Ton dort im Norden? Und diese unheimliche Beleuchtung? Ja, diese Beleuchtung! Jetzt erst sah ich sie deutlich. Im Süden war der Himmel von einem gleichmäßigen dunklen Wolkenschleier überzogen, aber im Norden war der Wolkenschleier von unten her durch einen weißen Schimmer beleuchtet, der sich von Norden bis nach Westen erstreckte. Am stärksten war er unten am Horizont, er reichte jedoch bis ganz zum Zenit hinauf.

Es war der Widerschein der weißen Eisfelder auf der Wolkenschicht darüber, und das Geräusch kam von dem Wellenschlag an der Eiskante und von den Schollen, die in der Dünung aneinanderrieben.

Mehr sah ich noch nicht, aber wir kamen ständig näher. Das Licht wurde stärker, die treibenden Schollen ringsum wurden zahlreicher. Dann stieß das Schiff ab und zu gegen eine größere Scholle; diese stellte sich senkrecht auf und wurde von dem starken Bug zur Seite geschleudert. Bisweilen waren die Stöße so heftig, daß das ganze Schiff erzitterte; man bekam gleichsam einen Ruck nach vorn und konnte nicht mehr im Zweifel darüber sein, daß man hier etwas Neuem entgegenging.

Ich hatte viel über diese Eiswelt gelesen, und die Phantasie hatte sich viele Bilder von ihr und von der ersten Begegnung hier ausgemalt – nur das nicht. Die wildesten Formen, mit turmhohen Eisbergen, aus den übertriebensten Reiseschilderungen konnten kaum einen solchen Eindruck machen wie diese Nacht mit dem unheimlichen Licht im Norden und dem gespensterhaft knirschenden Geräusch und den einzelnen Eisschollen auf der nachtschwarzen Wasserfläche. Und dann – später – leuchtete das Nordlicht hinter dem nach und nach verschwindenden Wolkenschleier auf.

Der Kapitän wollte nicht in der Nacht ins Eis gehen und hielt sich deshalb am Rand in nordöstlicher Richtung; aber die Stöße, die das Schiff erhielt, während ich in der Kajüte saß und las, gemahnten ständig daran, daß das Eis nicht fern war.

Als ich am nächsten Morgen herauskam, es war Sonntag, 19. März, waren wir im Eis (in 69° 52‘ nördlicher Breite und 4° 50‘ westlicher Länge, -1°).

Welch ein Anblick! Blendend weiß, mit Neuschnee bedeckt, erstreckte sich die Eisfläche nach allen Seiten. Nicht ein einziger dunkler Fleck ringsum, nur Weiß und Weiß, so daß man die Augen fast nicht offen halten konnte und nur einen schmalen Spalt zwischen den Lidern zu öffnen vermochte. Und über allem ein klarer Winterhimmel, hell und blau.

Hatten sich die Augen an das blendende Weiß gewöhnt, so sah man, daß es auch Öffnungen darin gab; aber die Schollen lagen so dicht aneinander, daß sie beim ersten Augenblick und aus einiger Entfernung wie eine zusammenhängende Fläche aussahen.

Aber dort kommen einige weiße Vögel herangesegelt, blendend weiß wie der Schnee und etwas größer als eine Stummelmöwe (Larus tridactylus). Wie sie so durch die blaue Luft heranschwebten und in der Sonne schimmerten, glaubte ich nie etwas so Schönes gesehen zu haben. Es war die Elfenbeinmöwe (Pagophila eburnea), die ich jetzt zum erstenmal sah, deren es aber später noch viele geben sollte. Ihr Federkleid ist, wenn sie ausgewachsen ist, ganz weiß, ohne eine dunkle Feder. Das einzige Dunkle an ihr sind Füße und Augen, die schwarz sind, und dann der Schnabel, der ebenfalls schwärzlich ist. Rund um die Augen hat sie einen wunderbar karminroten Ring, den man nur in der Nähe sehen kann, der sie aber noch schöner macht. Die jungen Vögel tragen im ersten Jahr ein über und über schwarzgesprenkeltes Federkleid. Diese Flecken verschwinden mit dem Heranwachsen nach und nach.

Der bezeichnende Name der Engländer für diesen Vogel ist Elfenbeinmöwe (ivory gull), aber unser norwegischer Name Eismöwe2 ist vielleicht ebenso treffend, denn im ureigentlichen Sinne ist er ein Vogel des Eises. Ebenso wie sein Gewand weißer ist als das irgendeines andern Vogels, gibt es wohl auch kaum einen typischern Bewohner des Eises – es sei denn die Rosenmöwe, aber diese Art ist sehr selten.

Die Elfenbeinmöwe trifft man fast nie außerhalb der Eisgegenden an, dort aber lebt sie fast überall. Während der Fram-Expedition fanden wir sie im Sommer über dem ganzen Polarmeer bis zu 85° nördlicher Breite, und manchmal geht sie gewiß noch weiter nach Norden. Sie streift umher, teils einzeln, teils in größeren und kleineren Scharen. Und kaum hat man einen Bären, einen Seehund oder ein Walroß auf dem Eis erlegt, so hört man auch schon ihren hitzigen Schrei in der Luft. Sie stürzt sich auf das erlegte Tier herab und beginnt ohne weiteres darauf loszuhacken. Steht man jedoch zu nahe oder ist man im Begriff, das Tier abzuhäuten, so läßt sie sich dicht daneben aufs Eis nieder, und bald hat man eine ganze Versammlung dieser Vögel rings um sich, die ungeduldig darauf warten, daß man seiner Wege geht und ihnen den Kadaver überläßt. Dauert es zu lange, so rücken sie näher und fangen vielleicht schon an, auf der einen Seite auf den Kadaver einzuhacken, während man noch auf der andern Seite beschäftigt ist. Ja, ich habe oft erlebt, daß, während ich dastand und flenste, sie ganz nahe heran und mir zwischen die Beine kamen und die Speck- und Fleischbrocken die vom Flensmesser herunterfielen, aufschnappten. Ist es nicht traurig, daran zu denken, welche Enttäuschungen einem die Natur bereiten kann? Wer von allen denen, die diesen schönen Vogel zum erstenmal sehen, würde ahnen, daß er ein so gieriger, aufdringlicher Aasvogel ist, schlimmer als ein Geier der Wüste? Verfolgt man seinen leichten Flug am blauen Himmel und wird die Seele durch seine reine Weiße, die so herrlich mit der Umwelt zusammenklingt, von einer Stimmung der Harmonie und der Unschuld erfüllt, so wird man häßlich aus dem Traum gerüttelt wenn er mit seinen heiseren zornigen Schreien plötzlich aufs Eis herabschießt, um Fleisch und Speck hinunterzuschlingen.

Den größten Teil des Jahres muß die Elfenbeinmöwe von Krusten- und andern Tieren leben, die sie im Meer zwischen den Eisschollen findet. Sobald sie aber kann, nimmt sie alles an Speck, Fleisch und Blut, das Eisbären, Füchse und Menschen ihr von ihrer Beute überlassen.

Weshalb sie ihre weiße Farbe erhalten hat, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Wohl hauptsächlich als Schutz gegen ihre Feinde, die sie dadurch auf dem Eis nicht so leicht entdecken; aber sie hat nicht viele Feinde. Der wichtigste ist wohl der Fuchs, den sie vielleicht besonders auf ihren Brutplätzen heimsucht, und die Bürgermeistermöwe, die vielleicht die Jungen raubt, manchmal auch ein umherschweifender Falke, doch dies ist selten.

Sie brütet tief drinnen im Eismeer, am liebsten auf niedrigen, einsamen Inseln und Landzungen, bisweilen auch auf den Absätzen an höheren Bergwänden. Ihre wenigen Eier legt sie in ein sehr primitives Nest, das meist nur in einer kleinen Erhöhung aus Moos besteht. Es sind nicht sehr viele Brutplätze bekannt. Man hat solche auf der Nordostseite von Spitzbergen und auf Inseln östlich davon, namentlich auf König-Karl-Land, gefunden. Einige Brutplätze hat man auf Franz-Joseph-Land beobachtet, ebenso in Nordgrönland, auf Grinnelland und auf den Parry-Inseln.

Beständig unterwegs waren Eissturmvögel und auch Stummelmöwen, die jetzt wiedergekommen waren; sie schwebten über dem Eise hin und her. In den Waken zwischen den Schollen lagen kleine Scharen von Alken und Krabbentauchern, und da und dort, ziemlich vereinzelt, einige Lummen. Sie alle sind auf den Vogelbergen von Jan Mayen, auf der Ostseite von Grönland, auf Spitzbergen und auf der Bäreninsel daheim, wo sie zu Tausenden und aber Tausenden an den Absätzen der lotrechten Felswände brüten. Von diesen Brutplätzen fliegen sie alle paar Tage Hunderte von Kilometern aufs Meer hinaus, um ihre Nahrung zu suchen, meist Krustentiere, die in den Waken im Eis oder im Wasser zwischen den Eisschollen, ganz draußen am Rande des Treibeises, leben. Haben sie genug gefressen, dann erhebt sich eine Schar nach der andern und fliegt in gerader Linie zu ihrem Vogelberg zurück. Das geht in brausender Fahrt; sie kennen die Richtung aufs Haar genau. Zu höchst oben fliegen die kleinen Krabbentaucher so hoch, daß man sie kaum noch erspähen kann, aber man hört schon von weitem das Pfeifen ihres scharfen Flugs durch die Luft.

Auch ein paar Schneesperlinge sah ich. Sie kamen munter dahergeflogen, ließen sich dicht neben dem Schiff auf das Eis nieder, hüpften über den Schnee dahin und flatterten dann wieder davon. Sie schienen ebenso vergnügt und zufrieden zu sein wie die Spatzen, die daheim auf dem Hofplatz umherhüpfen, obwohl sie sich wohl eigentlich weit weg verirrt hatten von jenen Gegenden, wo sie daheim waren; vielleicht waren sie aber auch auf der Wanderung nach der Ostküste von Grönland.

Es galt nun, sich so rasch wie möglich bereitzumachen, um die Robben im Eis zu suchen.

Mit Hilfe von Holzversteifungen und Ketten hatten wir unsere gebrochene Großrahe geschient und zusammengezurrt und hatten sie am Sonntag wieder an ihren Platz gehißt. Am Abend wurde auch die Tonne im Großtopp gehißt.

Die Tonne ist der wichtigste Teil eines Fangschiffes. Von dort wird Ausguck danach gehalten, wo man das offenste Wasser durch das Eis hat und am besten vorwärtskommt, und von dort aus wird mit einem langen Fernrohr über die treibenden Eisfelder nach Robben ausgespäht oder – was meistens das gleiche ist – nach anderen Schiffen, von denen man annehmen kann, daß sie beim Robbenfang liegen. Von dieser Tonne aus werden darum die Bewegungen des Schiffes und der Boote im Eis und beim Robbenfang geleitet. Sie ist sozusagen der führende Kopf des Schiffes.

Während des Fanges oder sonst, wenn es sich um Wichtiges handelt, ist meistens der Kapitän selbst in der Tonne; dort hält er sich dann oft unausgesetzt, Wache um Wache auf. Außer ihm haben meistens nur die Steuerleute Übung genug im Gebrauch des Fernglases, so daß man nur ihnen diesen verantwortungsvollen Ausguckposten anvertrauen kann.

Die Tonne ist ungefähr 1½ Meter hoch und so geräumig, daß zur Not zwei Mann darin stehen können. An der hintern Seite des Mastes führt eine Leiter, Jakobsleiter genannt, vom Mars zur Tonne hinauf. Die Tonne hat unten im Boden eine Klappe, durch die man hineinkriecht. Innen befindet sich eine kleine Sitzbank. Oben ist ein Schutzschirm aus Segeltuch angebracht, den man am obern Rand der Tonne entlang verschieben kann, um den Kopf gegen den scharfen Wind zu schützen. Man kann sich auf diese Weise da oben in der Luft ziemlich warm und behaglich einrichten. Außen um den obern Rand der Tonne läuft ein weiter Eisenring als eine Art Geländer; auf ihn stützt man das Fernrohr.

Unser alter Steuermann ging auf Deck umher und schüttelte den Kopf, während die Tonne gehißt wurde. Solch einen Unverstand, die Tonne an einem Sonntag zu hissen, hatte er noch nie erlebt. »Mit dieser Tonne werden wir niemals Glück haben«, versicherte er.

Mit seinem ehrwürdigen Bart sah er genau so aus, wie man sich einen Robbenfänger vom alten rechten Schlag vorstellt. Früher war er Schiffer hier auf dem Eismeer gewesen und hatte oft viel Glück gehabt. Aber er hatte eine Schwäche für Branntwein, wie sie seinerzeit unter den Schiffern nicht ungewöhnlich war. Eines Jahres geschah es, daß sein Schiff mitten in den Jungenfang hineintrieb, während er betrunken auf dem Boden der Kajüte lag, und dort blieb er denn auch liegen, während die Leute zum Fang aufs Eis gingen. Von da ab bekam er kein Schiff mehr zu führen, und jetzt fuhr er als Steuermann unter Krefting. Aber Branntwein, Gottesfurcht und Aberglauben wohnten bei diesen alten Burschen oft dicht beieinander.

Das Eis war verhältnismäßig jung – die Schollen waren nicht viel stärker als ein halbes Meter und lagen so weit verstreut, daß wir mit Segelkraft allein nach Norden vordringen konnten. Aber schließlich wurde das Eis zu schwer. Wir mußten den Kurs ändern und drehten für die Nacht bei, während Dampf aufgemacht wurde. Wir wollten uns der Maschine in der ersten Morgendämmerung bedienen, um mit voller Fahrt in östlicher Richtung vorzustoßen.

Wir mußten versuchen, in nördlicher oder in nordöstlicher Richtung längs der Eiskante oder am besten ein wenig im Eis vorwärtzukommen, um die Robben oder den Jungenfang, wie man es nennt, aufzusuchen.

Um dem Leser eine bessere Vorstellung zu geben, worum es sich bei diesem Aufsuchen handelt, lasse ich zunächst eine Schilderung des Eises, seiner Bildung und seiner Drift und dann eine Beschreibung der Robben und des Jungenfangs folgen.


2 In Deutschland bezeichnet man mit Eismöwe die Taucher- oder Bürgermeistermöwe (Larus glaucus). Der Übersetzer.

Zweites Kapitel: Das Treibeis und der Polarstrom.

Über den Ursprung, die Bildung und die Wanderung des Treibeises hatten wir damals, im Jahr 1882, noch sehr mangelhafte Vorstellungen. Erst nach der Framfahrt in den Jahren 1893–1896 haben wir etwas vollständigere Kenntnisse über seine ganze Lebensgeschichte gewonnen.

Das Treibeis bildet sich auf der See im Nordpolarmeer und im Nördlichen Eismeer; es befindet sich in ständiger Wanderung über diese Meeresgegenden und schmilzt wieder in der See. Große Mengen Treibeis werden durch Wind und Strömung von dem Meer nördlich von Sibirien, der Beringstraße und Alaska über das Meer nördlich von Franz-Joseph-Land, Spitzbergen und beim Nordpol gefrachtet. Sie kommen auf diese Weise nach Süden in die Öffnung zwischen Grönland und Spitzbergen und treiben, vom Ostgrönländischen Polarstrom mitgeführt, an Jan Mayen vorbei, vor allem zwischen dieser Insel und der Ostküste von Grönland.

Auf diesen südlicheren Breitengraden wird es im Sommer für das Eis nach und nach zu warm, und es schmilzt immer mehr und mehr zusammen, je weiter südlich es kommt. Der Eisstrom wird immer schmäler.

Er geht durch die Dänemarkstraße zwischen Grönland und Island weiter. Hier begegnet er dem wärmern Wasser des Atlantischen Ozeans; der Polarstrom wird schmäler, die Eismasse wird kleiner und verliert längs der Ostküste Südgrönlands immer mehr an Breite.