Ich weiß nur zwei Dinge über dich: dass du irgendwann geboren wurdest und dass du irgendwann sterben wirst.

– Hyrum Smith

1

»Es hat begonnen, Satomi«, sagte Kisara geistesabwesend durchs Telefon. Rentaro runzelte die Stirn, aber bevor er etwas entgegnen konnte, fuhr sie schon fort: »Schau dir den Monolithen an.«

Rentaro sah zum Monolithen hinauf.

Im nächsten Moment fuhr ihm der Schreck bis in die Zehenspitzen.

Es ging so schnell, dass niemand es noch hätte aufhalten können. Zwar konnte Rentaro nichts hören, aber der tonlose Schrei des Kolosses drang dennoch bis zu ihm vor. Zuerst brach nur eine Ecke ab. Dann breitete sich ein Riss aus. Danach weitere. Augenblicke später war der ausgeblichene Monolith von unzähligen Rissen durchzogen. Er neigte sich langsam zur Seite und fiel in sich zusammen. Rentaro lief es eiskalt den Rücken hinunter.

Wie in Zeitlupe wirbelten Brocken dieser riesigen Schutzmauer hoch. Ein gewaltiges Krachen ließ den Boden erbeben. Als Nächstes preschte eine unfassbare Druckwelle auf Rentaro zu, der schützend die Arme vors Gesicht hob. Der schwankende Boden wirbelte seine Eingeweide durcheinander, während die Druckwelle auf dem Weg zu ihm Trümmer und Herbstlaub mit sich riss.

Als er schließlich wieder hochsah, erhob sich eine graue Staubwolke, die den ganzen Himmel auszufüllen drohte.

»Aber, das ist …« Das durfte einfach nicht wahr sein. Der Monolith sollte doch erst morgen einstürzen! Seitenshis Wissenschaftler hatten es genau durchgerechnet!

In diesem Moment flatterte Rentaros Schuluniform, und ihm kam ein Geistesblitz. »Der Wind ist schuld …«

Selbst im Jahre 2031 war es schwierig, das Wetter genau vorherzusagen. Die Meteorologen hatten sich geirrt. Sie hatten nicht gewusst, dass der Wind an diesem Tag stark sein würde. Was für ein unglücklicher Zeitpunkt!

»Satomi!«, schrie Kisara durch den Hörer.

»Ich weiß«, sagte Rentaro – und legte auf.

Er sah noch einmal dorthin, wo der Monolith gestanden hatte. Dann rannte er los in Richtung Schlachtfeld.

Er durfte Enju nicht vergessen. Rentaro stürzte die Treppe im Polizeigebäude hinunter. Es war Chaos ausgebrochen. Die Polizisten hatten sich an die Fenster gedrängt. Sie zeigten fassungslos auf Monolith Nr. 32 und schrien durcheinander. »Enju!«, rief Rentaro. Und fand sie deprimiert im Wartezimmer sitzend. »Rentaro …«, erwiderte sie geistesabwesend und schaute in seine Richtung. Sie versuchte, einen heiteren Gesichtsausdruck aufzusetzen – für Rentaro sah sie dennoch elendig aus.

»Wir müssen los, Enju.«

Enju schien die Lage nicht zu begreifen. »Wohin denn?«

»Wohin wohl? An die Front! Der Monolith ist zerbrochen«, erklärte Rentaro.

Enju schaute sich um und schien erst jetzt das Chaos und das Geschrei um sich herum zu bemerken. »Der Monolith ist … zerbrochen?«

Rentaro antwortete zitternd: »Hast … du etwa nichts mitgekriegt?« Dabei hat es doch so laut geknallt …

Enju schüttelte heftig den Kopf, um sich wieder in den Griff zu bekommen. »Doch. Aber irgendwie war ich gerade in Gedanken.«

Rentaro schloss wortlos die Augen. Enju hatte gerade erst an diesem Morgen erfahren, dass ihre Klassenkameraden getötet worden waren. Eigentlich wollte er nicht, dass sie sofort an einer Schlacht teilnehmen musste. Aber die Situation ließ ihm keine andere Wahl.

»Rentaro, soll ich dich tragen und hinspringen?«, fragte sie.

»Nein … wir laufen«, erwiderte er.

»Warum?«

»Vertrau mir einfach«, sagte er und ergriff ihre Hand. Zusammen stürmten sie durch den Eingang nach draußen.

Eigentlich hätte er gern ein Taxi genommen, aber ihm war klar, wie sinnlos dieser Gedanke war. Schließlich waren alle Wagen längst entweder mit oder auch ohne Fahrgäste weggefahren. Auf den Straßen waren nur noch Einwohner unterwegs, die schreiend davonliefen.

Sie bogen auf eine Hauptstraße ab, wo die Situation noch schlimmer war: Sechsspurig standen die Autos Stoßstange an Stoßstange und kamen durch den Stau kaum vorwärts. Während einige Fahrer wie wild auf ihre Hupen einhämmerten, wimmelte es zwischen den Fahrzeugen von Leuten, die ihre Wagen aufgegeben hatten und nun zu Fuß versuchten, möglichst weit von Monolith Nr. 32 wegzukommen.

Rentaro und Enju wurden unzählige Male angerempelt, während sie gegen den Strom aus panischen Menschen ankämpften. Sie hatten kein Glück, ein Fahrzeug zu finden, und auch der Bahnhof war zu weit entfernt. Sowieso konnte man in dieser Ausnahmesituation wohl davon ausgehen, dass die Züge alles andere als nach Plan fahren würden.

Bevor sie sich versahen, betraten sie auch schon den angrenzenden 40. Bezirk. Zwischen den unzähligen hervorstechenden Ruinen waren viel weniger Menschen unterwegs. Obwohl Rentaro so schnell lief, wie seine Beine ihn trugen, blieb er gefasst genug, um die Situation genau zu analysieren. Als er sich rechts und links umschaute, stellte er fest, dass sie noch ziemlich weit von der Frontbasis der Wachdienste entfernt waren. Selbst wenn sie den großen Hügel, der vor ihnen lag, überqueren konnten, würde sein Körper bis zum Lager schlappmachen. Es muss doch irgendeinen Weg geben!

Er sah zwar zahlreiche Motorräder, Mopeds und Autos, aber die Motorräder und Mopeds waren verrostet und fielen fast auseinander. Die Reifen der Autos waren allesamt kaputt und die Kühlerhauben standen offen – da hatte jemand schon nach Herzenslust die Motoren ausgeschlachtet.

Schließlich fand er aber ein Fahrrad, das zwischen zwei Gebäuden versteckt war. Es hatte zwar schon einige Jahre auf dem Buckel, aber die Reifen waren aufgepumpt und anscheinend war es gut instand gehalten worden. Bestimmt war es von einem Bewohner dieses Außenbezirks repariert worden. Hinten war ein Kindersitz angebracht, was auf das Rad einer Mutter schließen ließ.

Leider war das Rad mit einem Kettenschloss an einem Pfahl angeschlossen. Rentaro schaute sich um, entschuldigte sich innerlich bei der Besitzerin und nahm sich vor, das Rad später wieder zurückzubringen. Dann zog er seine Pistole, trat drei Schritte zurück und zielte. Vorsichtig betätigte er den Abzug und schoss das Schloss auf.

Er schwang sich auf den Sattel und setzte Enju hinter sich. Dann trat er mit voller Kraft in die Pedale. Durch die Wucht wurde das Vorderrad fast hochgerissen, bevor er damit auf die Außenbezirksstraße fuhr.

Plötzlich hörte er ein lautes Sirenengeräusch. Er sah sich lauschend um. Hohe Töne wechselten sich mit tiefen ab, sie kamen aus mehreren Richtungen. Ist das eine Warnung vor biologischer Gefahr?, fragte er sich.

In den zehn Jahren seit dem Krieg war das Gebiet von Tokyo immer wieder durch Pandemien bedroht gewesen, aber es hatte dennoch nie einen Alarm dieser Art gegeben. Dass die Sirenen jetzt ausgelöst wurden, machte ihm bewusst, wie schlimm die aktuelle Lage wirklich war. Es fiel ihm außerdem noch etwas Seltsames auf: Während das Warnsignal nervenaufreibend weiterdröhnte, kam von Norden her ein schwarzer Wolkenklumpen auf sie zugeflogen. Mit einem Mal war die Straße vor ihnen von seinem Schatten verdunkelt, bevor auch Rentaro und Enju komplett umhüllt wurden, während sie mit dem Fahrrad die Straße entlangrasten. Die ganze Welt um die beiden schien sich auf einen Schlag verdunkelt zu haben. Man konnte fast meinen, es wäre plötzlich Nacht geworden.

Dann konnte man erkennen, was hinter der vermeintlichen Wolke steckte: Es waren Vögel. Unzählige Vögel jeglicher Art schrien laut am Himmel, während sie vor dem einstürzenden Monolithen flohen. Sie schienen aus dem Gebiet um Tokyo zu fliehen, was ein weiteres Zeichen dafür war, dass diese Stadt ihrem Ende entgegensah …

Enju hielt Rentaro fest umschlungen, während ihm am ganzen Körper der Schweiß hinunterlief. Er trat noch kräftiger in die Pedale, um zu beschleunigen. Er schaltete einen Gang höher und wäre dabei fast vom schweißnassen Lenker abgerutscht. Er hatte sich nach vorn gebeugt und machte einen Katzenbuckel, um beim Radeln möglichst windschnittig zu sein.