Autorenvita:

Gabriele Beyerlein wurde 1949 in Bayern geboren, studierte Psychologie in Erlangen und Wien, promovierte an der Universität Erlangen-Nürnberg und arbeitete dort in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Aus dem Erzählen für ihre Kinder entwickelte sich ihr zweiter Beruf, das Schreiben. Seit 1987 ist sie freie Schriftstellerin. Bekannt wurde sie durch ihre historischen Abenteuerromane für Kinder und Jugendliche. Seit sie bei Thienemann veröffentlicht, sind außergewöhnliche phantastische Romane hinzugekommen. Gabriele Beyerlein lebt heute in Darmstadt.

Buchinfo:

Frei zu sein wie ein Falke im Wind! Nicht mehr Latein lernen müssen! Durchs Land reisen! Konrad fühlt sich wie gefangen auf der Burg seines Bruders. Als er den berühmten Sänger und Dichter Oswald vom Finkengrund kennenlernt, tut sich ihm eine neue Welt auf. Hals über Kopf flieht Konrad, doch die Freiheit ist voller Gefahren. Da betraut ihn der mächtige Bischof von Passau eines Tages mit einem besonderen Auftrag ...

 

Ein fesselnder Mittelalter-Roman, der die Entstehung des Nibelungenliedes spiegelt

 

 

Das Falkenlied

 

 

Ich zôch mir einen valken    mêre danne ein jâr.

dô ich in gezamete   als ich in wolte hân

und ich im sîn gevidere    mit golde wol bewant,

er huop sich ûf vil hôhe   und floug in ándèriu lant.

 

Sît sach ich den valken    schône fliegen.

er fuorte an sînem fuoze    sîdîne riemen,

und was im sîn gevidere    alrôt guldîn.

got sende si zesamene    die gerne gelíep wéllen sîn!

 

Der von Kürenberg

 

 

Für Christian

 

 

 

NAMENSLISTE

 

Die kursiv gedruckten Namen sind historische Personen – oder, im Fall des Nibelungenliedes, überlieferte literarische Figuren –, die anderen Personen sind frei erfunden.

 

KONRAD VON FREIENFELS

Ritter Hartmann von Freienfels, sein Halbbruder, Lehnsmann des Bischofs von Passau

Ritter Hartmut von Freienfels, Konrads und Hartmanns verschollener Vater, Lehnsmann des Bischofs von Passau

Elisabeth, Konrads kleine Schwester

Agnes, Konrads Schwägerin, Frau von Hartmann

der kleine Hartmut, Sohn von Hartmann und Agnes

der Kaplan, Erzieher von Konrad, Geistlicher der zu Burg Freienfels gehörenden Kirche und Gemeinde

Ritter Bertram von Drachenstein, früher Erzieher von Hartmann

Ritter Otto von Drachenstein, Bertrams Sohn und Hartmanns Freund, Lehnsmann des Grafen Rapoto von Ortenburg

Mechthild, Ottos Schwester

Ritter Ekkehard, Mechthilds verstorbener Mann

Roswitha, Ottos Frau

 

 

OSWALD VOM FINKENGRUND, SÄNGER

Ulrich vom Finkengrund, sein Bruder, Dienstmann des Bischofs von Passau

Der von Kürenberg, Sänger

Reinmar von Hagenau, Sänger

Walther von der Vogelweide, Sänger

Wolfram von Eschenbach, Sänger und Ritter, Dichter des großen Epos Parzival

 

 

SPIELMANNSFAMILIE

Lena, Tochter einer fahrenden Spielmannsfamilie

Paul, ihr ältester Bruder

Peter, ihr zweiter Bruder

Ludwig, ihr Stiefvater

 

 

KLERUS

Bischof Diepold, Bischof von Passau, auf dem Kreuzzug 1190 verstorben

Bischof Wolfger von Erla, sein Nachfolger als Bischof von Passau (1191–1204), danach Patriarch von Aquileja (verstorben 1218)

Katharina von Hohenberg, sein Mündel

Notger, Mitglied des Domkapitels, Bibliothekar der Dombibliothek und Schreiber des Passauer Bischofs

der heilige Bischof Pilgrim, längst verstorbener Bischof von Passau, dessen Grab im Dom verehrt wird

 

 

ADEL

Graf Albert III. von Bogen

die Grafen Rapoto II. und Heinrich von Ortenburg

der Markgraf von Vohburg

der Landgraf von Thüringen

Herzog Ludwig I. von Wittelsbach, Herzog von Bayern (1183–1231)

Herzog Leopold V. von Babenberg, Herzog von Österreich (1177–1194)

Herzog Friedrich I. von Babenberg, Herzog von Österreich (1195–1198)

Herzog Leopold VI. von Babenberg, Herzog von Österreich (1198–1230)

 

 

KAISER UND KÖNIGE

Kaiser Friedrich I. (Barbarossa), deutscher König und Kaiser (1152–1190) aus dem Haus der Staufer

Herzog Friedrich VI. (auf dem Kreuzzug gestorben 1191), Herzog von Schwaben, jüngerer Sohn Kaiser Friedrichs I.

Kaiser Heinrich VI., deutscher König und Kaiser (1190–1197) aus dem Haus der Staufer

König Philipp von Schwaben, Bruder Heinrichs VI., deutscher König (1198–1208) aus dem Haus der Staufer, Sohn Friedrichs I.

König Otto IV., deutscher König und Kaiser (1198–1218) aus dem Haus der Welfen

König Richard Löwenherz, englischer König (1189–1199)

Isaak II. Angelos, Kaiser von Konstantinopel (erste Regierungszeit: 1185–1195), dann von seinem Bruder abgesetzt und gefangen gehalten, von 1203 bis 1204 gemeinsam mit seinem Sohn noch einmal Kaiser von Konstantinopel

Alexios IV. Angelos, Sohn von Isaak II. Angelos, Schwager König Philipps von Schwaben, durch Hilfe des Kreuzfahrerheers gemeinsam mit seinem Vater von 1203 bis 1204 Kaiser von Konstantinopel

Alexios V. Dukas Murtzuphlos, nach deren Sturz 1204 Kaiser von Konstantinopel

 

 

LITERARISCHE FIGUREN DES NIBELUNGENLIEDES:

Siegfried, Königssohn aus Xanten

die Könige der Nibelungen, Eigentümer eines sagenhaften Schatzes

Gunther, König von Burgund

Kriemhild, Gunthers schöne Schwester, später Gemahlin Siegfrieds

Gernot und Giselher, Gunthers jüngere Brüder

Brünhild, zauberkräftige Königin vom Isenstein jenseits des Meeres, später Gemahlin Gunthers

Hagen von Tronje, Freund und Gefolgsmann König Gunthers

Volker der Fiedler, Freund Hagens

Etzel, König der Hunnen

Blödelin, Etzels Bruder

Markgraf Rüdiger, Etzels Gefolgsmann

Dietrich von Bern

Walther und Hildegund, Figuren des Walthariusliedes, die im Nibelungenlied Erwähnung finden

 

Anno Domini 1193

 

S

ein Stück Freiheit: ein Fetzen Himmel, wolkenlos gespannt hinter der doppelten Arkade des Bogenfensters. Dieser Himmel: scheinbar zum Greifen nah und doch unerreichbar. Konrad starrte ihn an. Ein Falke glitt vorbei. Sicher war es der Falke, den sich Hartmann, der Bruder, für die Jagd gezähmt hatte.

Flieg weg, Falke, dachte Konrad plötzlich. Du bist frei, verstehst du, frei! Die ganze Welt gehört dir und der Himmel dazu, du musst es nur wollen! Kehr nicht zurück auf Hartmanns Hand!

Der Vogel entschwand dem Ausschnitt des Fensters. Ich ließe mir nie mehr die Kappe über die Augen legen, dachte Konrad, nie mehr!

»Nun?«, fragte der Kaplan ungeduldig. Die Schärfe seiner Stimme zerschnitt den Traum. Konrad erschrak. Er versuchte sich an die Frage zu erinnern, die diesem »Nun?« vorausgegangen war. Jetzt musste er seine Gedanken in die richtige Bahn zwingen, sonst würde ein Hagel von Beschimpfungen und Schlägen auf ihn niedergehen.

Ich würde ermahnt werden – das war der Ausdruck, nach dessen Übersetzung der Kaplan gefragt hatte. Konrad straffte sich: »Monerer!«

Ein Hund bellte. Die Geräusche draußen veränderten sich. Was konnte das bedeuten?

»Weiter!« Der Kaplan klopfte mit seinem Stock auf die Pultkante.

Konrad leierte herunter: »Monereris, moneretur ...«

Die Planken der Zugbrücke dröhnten. Kehrte Hartmann von der Jagd zurück?

»Moneremur, moneremini ...«, leierte Konrad weiter, aber seine Aufmerksamkeit galt weiter dem Hufschlag auf der Zugbrücke: Er hörte nur ein Pferd, Hartmann aber war mit seinem Knappen und zwei Knechten zur Jagd geritten.

»Besuch! Besuch!«, rief im Hof aufgeregt die kleine Elisabeth.

Mühsam unterdrückte Konrad den Wunsch, aufzuspringen und zum Fenster zu laufen. Er hörte Schritte auf der Treppe. Er wusste, jetzt eilte Agnes, Hartmanns junge Frau, in den Hof, um den Gast zu begrüßen. Aber er selbst musste bei dem Kaplan Latein lernen und wusste nicht, wer da angekommen war.

Qualvoll langsam verrann in dumpfer Eintönigkeit die Zeit, hin und wieder unterbrochen von spitzen Stichen jäher Angst, wenn sich eine Form nicht sofort bilden wollte. Bei jeder Frage schlug der Kaplan mit dem Stock auf das Pult. Solange er nur auf das Pult schlug ...

Endlich läutete dünn die Glocke der kleinen Kirche außerhalb der Burg. Der Kaplan erhob sich und schritt zur Tür. Konrad folgte ihm. Wie befohlen ging er mit gesenktem Kopf zwei Schritt hinter seinem Erzieher. Auf der schmalen, steilen Treppe raffte Konrad sein langes Gewand. Wie er ihn hasste, diesen schwarzbraunen Rock! Er war doch kein Mönch!

Im Burghof zwischen Wohnturm und Bergfried hatten sich die Burgbewohner versammelt: Agnes in ihrem Festgewand aus grün-roter Seide, Konrads kleine Schwester Elisabeth, das Gesinde. Hartmann mit seinem Knappen trat eben mit dem Gast hinzu.

Konrad maß den Fremden heimlich mit abschätzendem Blick. Wer war er? Ein Edelfreier wie sie selbst? Aber wäre er dann nicht reicher gekleidet? Ein Dienstmann eines adligen Lehnsherrn, vielleicht ein Ritter? Aber seine Erscheinung hatte so gar nichts Kriegerisches – neben Hartmann wirkte er schmal und fast zerbrechlich! Bürger einer Stadt schien er auch nicht zu sein, ebenso wenig wie ein Geistlicher, und ein Bauer schon gleich gar nicht. Dieser Gast ließ sich nicht so einfach einordnen.

Der Kaplan nickte würdevoll nach allen Seiten und ging gemessenen Schritts zum Tor. Konrad trat zu dem Fremden und grüßte ihn mit einer stummen Verbeugung.

Der Fremde war ein älterer Mann, Grau mischte sich in seine schulterlangen braunen Haare, Falten hatten sich in seine hohe Stirn gegraben. Auf unerklärliche Art wirkte er bescheiden und selbstbewusst zugleich. Irgendetwas zog Konrad zu ihm hin, ließ ihn wünschen, ihn näher kennenzulernen.

»Das ist mein Bruder Konrad«, sagte Hartmann zu dem Gast. »Kaum zu glauben, was? Na ja, wir sind nur Halbbrüder, trotzdem frage ich mich, wie es möglich ist, dass wir den gleichen Vater haben! So ein schmächtiges, schwaches Bürschchen! Ich lasse ihn zum Kirchendienst ausbilden. Schreiber, Diakon, Priester, was weiß ich, irgendwie wird man für ihn als Kleriker schon eine Verwendung finden, zum Ritter taugt er jedenfalls nicht. Er kann ja nicht einmal anständig reiten!«

Hartmann lachte.

Konrad trieb es das Blut in den Kopf. Schon oft hatte er Hartmann so reden hören, aber jetzt, vor diesem Fremden! Er zerknüllte den Stoff seines Rockes.

Der Fremde stimmte nicht in Hartmanns Lachen ein. Nachdenklich sah er Konrad an. Konrad erwiderte nur kurz den Blick, schaute schnell wieder weg.

»Ist es denn dein Wunsch, Kleriker zu werden?«, fragte der Fremde ihn leise.

Diese Frage: Noch nie hatte sie ihm jemand gestellt – nicht einmal er sich selbst. Aber nun, einmal ausgesprochen, war sie da, und er wusste, auch die Antwort war da. Aber er wagte sie nicht zu geben.

Stumm starrte er den Gast an.

Hartmann lachte noch lauter, doch ein gereizter Unterton schwang in seiner Stimme mit: »Oswald vom Finkengrund! Fragt einen unmündigen Knaben nach seinem Willen, als ob es auf den ankäme! Ein Sänger wie du ist immer zu einem Scherz aufgelegt, was? Aber spar dir den Spaß lieber für heute Abend! Nun komm, es wird Zeit zum Gottesdienst!«

Gemeinsam gingen sie in geordnetem Zug zur Kirche am Hang unterhalb der Burg. Einige verspätete Leute aus dem nahe liegenden Dorf ließen ihnen an der Kirchentür ehrerbietig den Vortritt.

Der Vespergottesdienst begann. Konrad kniete hinter Oswald vom Finkengrund. Konrads Lippen sprachen die lateinischen Verse der Liturgie mit. Doch in seinem Kopf war nur der eine Satz: »Ist es denn dein Wunsch, Kleriker zu werden?«

Er heftete seinen Blick auf den Rücken des Fremden. Wenn er nur mit ihm reden könnte! Wer war dieser Mann, der mit einer einzigen Frage ins Bewusstsein geholt hatte, was so lange im Verborgenen gewesen war? Einen Sänger hatte Hartmann ihn genannt. Ob er von niederem Adel war? Oder im Dienst eines großen Herrn stand?

Er war doch kein einfacher fahrender Spielmann, oder? Nein, so einen hätte Hartmann nicht als Gast willkommen geheißen.

Früher waren oft Spielleute in die Burg gekommen. Die Mutter hatte die Musik und die Lieder geliebt. Jedes Lied, das sie einmal gehört hatte, hatte sie sich gemerkt und es selber immer wieder gesungen. Sie hatte so schön singen können. Und die Fiedel spielen! Jetzt hatte er schon lange kein anderes Lied mehr gehört als die Psalmen und Kirchengesänge des Kaplans. Nichts war mehr so wie früher, als die Mutter noch gelebt hatte und der Vater noch daheim gewesen war und er selbst noch nicht Latein hatte lernen müssen ...

Die anderen erhoben sich. Hastig stand auch Konrad auf. Sie schritten an den grüßenden Dorfbewohnern vorbei und traten ins Freie. Es war kühl geworden. Rötlich leuchteten die zinnenbewehrten Mauern und der hohe Bergfried ihrer Burg auf dem Felsen am Ende des Höhenzuges.

Konrad versuchte an Herrn Oswalds Seite zu gelangen, aber Hartmann trat neben den Gast und führte ihn am Wirtschaftshof vorbei, über die Zugbrücke und durch den Torbau in den engen Burghof, auf der Freitreppe zum Eingang des Wohnturms hinauf und in den kleinen Saal. Agnes hatte eine Tafel errichten und festlich decken lassen. Talgkerzen beleuchteten den mit Leintüchern bedeckten Tisch, Frühlingsblumen waren daraufgestreut. Die Plätze lagen weit auseinander und der Sänger, zwischen Hartmann und Agnes sitzend, war für Konrad unerreichbar.

Hartmann redete laut und viel, prostete immer wieder dem Gast zu, spießte Fleischstücke mit seinem Messer auf und legte sie dem Sänger eigenhändig vor. Oswald vom Finkengrund aß mit großem Appetit, doch trank er wenig Wein. Er hörte höflich zu, lächelte hin und wieder, sagte hie und da ein paar halblaute Sätze. Konrad versuchte sie zu verstehen, aber es gelang ihm nicht.

Das Essen nahm kein Ende. Während man an gewöhnlichen Tagen oft nichts anderes hatte als Brei, Brot, Bier und Käse, ließ Agnes heute alles auftragen, was die Küche in der Eile leisten konnte: Suppe und Pastete, gebratenes Hühnchen, Schweinesülze und Hasenrücken, dazu stark gewürzten Wein und schließlich Kuchen, süßen Brei und Käse.

Konrad merkte kaum, was er aß, wartete nur auf das Ende des Mahles, auf den Augenblick, in dem Oswald vom Finkengrund nach seiner Leier, seiner Laute oder seiner Fiedel greifen würde.

Doch statt den Gast zum Singen aufzufordern, bat nun Hartmann: »Erzähl uns, Oswald, was du auf deiner Reise Neues erfahren hast! Worüber spricht man so in den Burgen und Städten?«

Oswald vom Finkengrund erwiderte: »Noch immer über den letzten Reichstag in Regensburg und darüber, wie der Kaiser den Grafen von Bogen bestrafen wird, weil er die schreckliche Kriegsmacht der Böhmen ins Land geholt hat – und dann natürlich über die Gefangennahme des englischen Königs Richard Löwenherz.«

»Richard Löwenherz? Wieso?«, fragte Hartmann.

»Du weißt nicht davon? Dann hast du aber in letzter Zeit sehr abgeschieden gelebt! Richard Löwenherz wurde auf seiner Heimreise aus dem Heiligen Land wahrlich vom Unglück verfolgt. Vor eineinhalb Jahren machte er sich auf den Heimweg vom Kreuzzug, doch erst trieben ihn widrige Winde vom Kurs ab, dann erlitt er Schiffbruch. Schließlich und endlich verkleidete er sich als Pilger und wollte auf dem Landweg seine Heimat erreichen. Doch er beging den Fehler, sich durch Österreich zu wagen. In der Gegend von Wien verirrte er sich, man wurde auf ihn aufmerksam, erkannte ihn. Kurz vor Weihnachten wurde er von Herzog Leopold gefangen genommen und in der Burg Dürnstein eingekerkert!«

»Aber«, rief Hartmann aus, »ein Kreuzfahrer auf dem Heimweg ist doch unantastbar! Wie konnte der österreichische Herzog es wagen, ihn gefangen zu nehmen! Hat denn der Papst nicht eingegriffen, den Kirchenbann über Herzog Leopold verhängt?«

Oswald vom Finkengrund lächelte spöttisch: »O doch, das nehme ich zumindest an. Aber diese Aussicht scheint den Herzog nicht abgehalten zu haben. Ihm war es wohl eine unwiderstehliche Genugtuung, sich an dem englischen König für die Demütigungen zu rächen, die dieser ihm auf dem Kreuzzug zugefügt hatte. Am Reichstag zu Speyer hat Herzog Leopold seinen hohen Gefangenen unserem Kaiser Heinrich ausgeliefert – gegen Zusage eines stattlichen Anteils am Lösegeld, versteht sich. Schon zu Würzburg wurde darüber verhandelt, der Bischof von Passau soll als Vermittler eingeschaltet gewesen sein. Es heißt, mindestens 100 000 Mark Silber soll der englische König aufbringen, eine unvorstellbare Summe – und was er nicht noch alles zusagen soll! Solange sitzt er auf Burg Trifels gefangen.«

Nur weil es Oswald vom Finkengrund war, der da sprach, hörte Konrad zu. Immer unerträglicher sehnte er sich danach, dass der Gast singen würde – und Fiedel spielen. Endlich gab Agnes den Dienern das Zeichen, die Speisen abzutragen und den Tisch aufzuheben, Tischplatte und Tischböcke aus dem Raum zu tragen und die Stühle und Hocker vor das Kaminfeuer zu rücken. Und endlich nahm Oswald die Laute und stimmte sie leise.

Noch nie hatte Konrad den Klang einer Laute gehört. Mit schmerzhafter Spannung erwartete er das erste Lied.

Da erhob sich der Kaplan und befahl: »Konrad, verabschiede dich und geh nach oben!«

Das durfte nicht sein. Nein!, wollte er schreien. Er schwieg. Etwas schnürte ihm den Hals zu.

»Aber, Hochwürden!«, rief Agnes. »Ihr wollt doch Konrad nicht verbieten, die Lieder unseres Gastes zu hören!«

Der Kaplan machte eine steife Verbeugung vor ihr: »Frau Agnes, die weltlichen Zerstreuungen sind Gift für einen angehenden Kleriker.«

Der Sänger sah auf, streifte Konrad mit einem aufmerksamen Blick und sagte: »Ihr könnt ganz unbesorgt sein, Hochwürden. Ich werde meinen Vortrag mit Bedacht wählen. Ihr seht, wie er sich darauf gefreut hat!«

Der Kaplan kniff die Lippen zusammen. »Es lenkt seinen Blick vom Eigentlichen ab!«, erklärte er.

Konrad hatte sich geschworen, niemals, nie, seinen Erzieher oder seinen Bruder um etwas zu bitten. Doch nun legte er die Hände zusammen, sah erst den Kaplan und dann seinen Bruder an und sagte: »Bitte! Lasst mich bitte zuhören! Ich wünsche es mir mehr als alles! Und ich würde alles dafür versprechen! Hartmann!«

Hartmann machte eine ungeduldig abweisende Bewegung. »Gehorche dem Kaplan, er ist dein Erzieher!«, sagte er knapp.

Ich hätte es wissen müssen, dachte Konrad voll bitterer Verzweiflung. O Gott, warum bist du so fern im Himmel, warum hilfst du mir jetzt nicht!

»Komm, Konrad!«, befahl der Kaplan.

Hinter dem Kaplan kletterte Konrad die steile Stiege hinauf. Ganz leer und kalt war ihm innerlich. Aber dann, als er die letzte Stufe verließ und die schmale Kammer betrat, die er gemeinsam mit dem Kaplan bewohnte, stieg plötzlich heiße Wut in ihm auf und er wusste: Er würde sich widersetzen. Diesmal würde er sich dem Kaplan und dem Bruder nicht beugen, diesmal nicht. Er würde Herrn Oswald singen hören. Um jeden Preis.

Neben dem Kaplan kniete er nieder, sprach mit ihm das lateinische Gebet und dachte nichts anderes als: Ich tue es. Er stand auf, schlug die Decke vom Strohsack zurück, als wolle er sofort schlafen gehen.

Der Kaplan verließ die Kammer.

Konrad schlich zur Tür, lauschte auf die Schritte des Kaplans, auf das Knarren der Tür zum Hof. Dann wartete er noch eine Zeit.

Er wusste, jetzt würde der Kaplan sich noch einmal das Burgtor öffnen lassen und zur Kirche gehen, um dort allein sein Abendgebet zu verrichten. Fast eine Stunde konnte es dauern, bis der Kaplan zurückkehren und ihm mit der Kerze ins Gesicht leuchten würde. Aber dem Kaplan vorzutäuschen, dass er längst tief und fest schlafe, war nicht schwer. So blieb ihm Zeit genug, heimlich die Kammer zu verlassen und Herrn Oswald zuzuhören!

Behutsam öffnete Konrad die Tür, stieg vorsichtig die Stiege hinunter, horchte im engen Flur an der Tür zum Saal. Durch das dicke Eichenholz drang kaum ein Ton. Die Tür einen Spalt zu öffnen, wagte er nicht – vielleicht würde sie knarren oder man würde im Raum den Luftzug spüren.

Also blieben nur die Fenster.

Er spähte in den dunklen Burghof. Nichts regte sich, nur die Musik drang aus den Fenstern des Saals. Er trat auf den Absatz der hölzernen Freitreppe, zog vorsichtig die Tür hinter sich zu, schwang sich auf das Geländer und hangelte sich von dort zum ersten Bogenfenster des Saales, zog sich hinüber, zwängte sich durch die Wölbung zwischen den zwei steinernen Säulen, die das Fenster unterteilten, und ließ sich in die Fensternische gleiten. Jetzt im Frühjahr waren die schweren Holzläden geöffnet, mit denen im Winter die Fenster verschlossen wurden, doch die dichten Vorhänge vor den Nischen waren zum Schutz vor der Kühle des Nachtwindes zugezogen, sodass Konrad vom Saal aus nicht gesehen werden konnte.

Er setzte sich auf die mit Kissen bedeckte steinerne Bank in der Fensternische, zog die Knie an und umschlang sie bebend mit den Armen. Doch schon nach wenigen Augenblicken vergaß er Kälte und Aufregung, vergaß den Kaplan und alles um sich herum, achtete nur noch auf eines: das Singen.

Herr Oswald leitete sein Lied mit einem Vorspiel ein und begleitete seinen voll und tief klingenden Gesang mit der Laute. Mit dem Kiel einer Gänsefeder zupfte er eine Stimme, welche die Melodie höher erklingen ließ und reich verzierte, schöner als alles, was Konrad je gehört hatte. Nach jedem Vers schob der Sänger ein kunstvolles Zwischenspiel ein, das die Melodie in immer neuen Formen ausschmückte.

Ganz versunken lauschte Konrad. Herr Oswald sang Minnelieder: Lieder von der Liebe zu einer fernen, hohen und unerreichbaren Frau, von der Sehnsucht nach ihr, dem Schmerz um sie, aber auch von der Freude und dem Glück, sie zu sehen und ihr zu dienen. Bilder und Erinnerungen stiegen in Konrad auf: seine Mutter, wie sie am Fenster saß und Fiedel spielte – er selbst auf dem Schoß seiner Mutter, den Kopf an ihrer Schulter, wie er den Liedern zuhörte, die sie leise in sein Ohr sang ...

Ein seltsam weiches Gefühl war in ihm. Als sei er von schwerer Krankheit genesen.

Er öffnete den Vorhang einen schmalen Spalt und spähte hindurch. Da sah er, wie der Sänger nach der Fiedel griff, die an der Wand gelehnt hatte.

Eine Fiedel ähnlich wie die, auf der zu spielen er von seiner Mutter gelernt hatte, als er kaum groß genug gewesen war, das Instrument zu halten, die Saiten mit seinen kleinen Fingern niederzudrücken, sie mit dem Bogen zu streichen. Früher hatte die Mutter immer gesagt: »Konrad spielt Fiedel, wie ein Vogel fliegt!«

Als die Mutter gestorben und kurz darauf der Vater zum Kreuzzug aufgebrochen war, damals, vor vier Jahren, war die Fiedel sein ganzer, sein einziger Trost gewesen. Aber dann war der Kaplan gekommen und hatte sie ihm weggenommen. Und nie wieder hatte er Fiedel spielen dürfen, ja nicht einmal mehr hören. Nie wieder, bis zu diesem Augenblick. Heidnisch sei es, das Spiel auf Musikinstrumenten, behauptete der Kaplan. Nur der Klang der menschlichen Stimme sei würdig, Gott zu loben.

Herr Oswald spielte eine ergreifende Melodie und alles begann in Konrad zu klingen. Schon nach wenigen Tönen erkannte er das Lied, unzählige Male hatte er es die Mutter singen hören: das Falkenlied – ihr Lieblingslied.

»Ich möchte jetzt ein Lied vortragen, das ich nicht selbst gedichtet habe, sondern mein Lehrer, der Herr von Kürenberg«, erklärte der Sänger nach Beendigung des Vorspiels und begann:

 

Ich zog mir einen Falken länger als ein Jahr ...«

 

Konrad sang leise, fast lautlos, mit. Er konnte einfach nicht anders. Er dachte nicht mehr an die Gefahr, entdeckt zu werden. Er war so glücklich.

Oswald von Finkengrund schloss das Lied mit einem ausgedehnten Nachspiel auf der Fiedel und sagte dann: »Lasst mich nun als Letztes ein altes Heldenlied vortragen, das seit Langem von Sänger zu Sänger weitergegeben wird. Es erzählt eine Geschichte aus längst vergangener Zeit. Vielleicht kennt ihr sie: die Geschichte von Siegfried.«

Konrad beugte sich vor, öffnete den Vorhang noch ein Stück weiter, ließ den Blick nicht mehr von dem Sänger. Dieser hatte die Leier genommen und begann das Lied von Siegfried, dem Königssohn aus Xanten. Dabei begleitete er seinen Gesang auf dem Instrument mit einer Stimme, die der Melodie folgte, sie abwandelte und verzierte.

Er erzählte, wie der junge Siegfried allein im Wald auf die beiden Könige der Nibelungen mit ihrem Gefolge stieß, die eben ihren unermesslichen Schatz aus einer Höhle ans Tageslicht gebracht hatten, um ihn unter sich aufzuteilen, und wie die Könige Siegfried baten, die Teilung des Schatzes zu übernehmen, wofür sie ihm das berühmte Schwert Balmung zum Lohn boten. Doch als sie mit seiner Aufteilung unzufrieden waren, fielen sie zornig über ihn her. Da zog Siegfried das Schwert Balmung und tötete die Könige.

Konrad erschrak: Wie sollte Siegfried sich nun gegen die Gefolgsmänner der Könige wehren? Zwölf Riesen waren unter ihnen, Hunderte starker Ritter und ein durch Zauberkraft übermenschlich starker Zwerg. Gegen sie alle musste Siegfried ganz allein kämpfen!

Konrad hielt den Atem an, bis er erfuhr, dass Siegfried in seinem Kampfeszorn alle Gegner bezwungen und den Hort des Königs Nibelung gewonnen hatte, zu dem nicht nur Unmengen Gold und Edelsteine gehörten, sondern auch die Tarnkappe, die ihren Träger unsichtbar machte und ihm die zusätzliche Kraft von zwölf Männern verlieh. Und so wurde Siegfried zum Herrn und König über Nibelungenland ...

Gebannt hörte Konrad weiter zu, wie Siegfried mit einem Drachen kämpfte und in dessen Blut badete, sodass seine Haut bis auf eine kleine Stelle zwischen den Schultern unverletzlich wurde. Konrad erfuhr, wie Siegfried von der schönen Kriemhild reden hörte, der Schwester der Könige von Burgund, und an den Königshof zu Worms ritt, um sie zur Frau zu gewinnen. Und als Oswald vom Finkengrund von den Heldentaten sang, die Siegfried im Krieg gegen die Sachsen vollbrachte, dachte Konrad: Einen größeren Helden als Siegfried kann es nie gegeben haben! Gegen den wäre selbst Hartmann nichts! Lachen würde Siegfried über einen Gegner wie Hartmann!

Draußen im Burghof wurde die kleine Pforte im Tor geöffnet und kurz darauf wieder geschlossen. Konrad bemerkte es nicht. Konrad hörte dem Sänger zu.

Dieser beendete das lange Lied und verneigte sich leicht. Hoffentlich singt er noch einmal von Siegfried, dachte Konrad, ich muss einfach wissen, wie es Siegfried weiter ergangen ist!

Doch der Sänger legte sein Instrument beiseite und sagte: »Wenn es euch beliebt, so berichte ich euch morgen weiter von Siegfried und von seiner Fahrt gemeinsam mit dem Burgunderkönig Gunther nach dem Isenstein zu Brünhild.«

Und was ist mit Kriemhild?, dachte Konrad. Ich muss morgen wieder Herrn Oswald zuhören! Ich muss!

Er sah Agnes nach dem Sträußchen Frühlingsblumen greifen, das sie an ihrem Oberkleid befestigt hatte. »Oswald vom Finkengrund«, sagte sie, »ich danke Euch! Ihr habt uns einen wunderbaren Abend bereitet.« Damit warf sie dem Sänger ihr Blumensträußchen zu.

Dieser fing es auf und verbeugte sich lächelnd: »Meine Dame, Ihr macht mich zum glücklichsten Mann der Welt!«

Hartmann lachte und schlug dem Sänger auf die Schulter: »Das Lob einer Dame ist des Sängers edelster Lohn! Aber es löscht nicht den Durst! Komm, sprich dem Wein zu, er ist stark und würzig und ich habe dir im Trinken eine Menge voraus! Und dann erzähl uns noch vom Kreuzzug!«

Der Sänger nahm den Becher, den Hartmann ihm bot, trank einen Schluck und fragte: »Wovon soll ich erzählen? Von dem langen Weg des Kreuzfahrerheeres durch Österreich und den Balkan nach Konstantinopel? Von den alles Menschliche übersteigenden Strapazen, unter denen das Heer durch Kleinasien zog? Oder soll ich von jenem unglückseligen Tag erzählen, an dem unser großer Kaiser Friedrich Barbarossa im Fluss Salef ertrank?«

Hartmann strich sich das Kinn, streifte den Sänger mit einem kurzen Blick von der Seite und erwiderte betont beiläufig: »Du hast nichts über unseren Vater gehört?«

Konrad hielt den Atem an. Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung.

Der Sänger verharrte mitten im Trinken, stellte den Becher behutsam zurück: »Was weißt du über das Schicksal deines Vaters?«, fragte er zögernd.

»Ich weiß nur, dass er vor vier Jahren mit zwei Knappen und fünf Pferden davongeritten ist, um sich im Gefolge unseres Lehnsherrn, des Bischofs von Passau, dem Kreuzfahrerheer anzuschließen und für die Befreiung Jerusalems von den Ungläubigen in den Heiligen Krieg zu ziehen. Und bis heute nicht zurückgekehrt ist.«

Oswald vom Finkengrund räusperte sich. »Nun«, sagte er langsam, »viele Nachrichten erreichen das Ohr eines Sängers. Ich habe den Markgrafen von Vohburg berichten hören, der als einer der wenigen von der Kreuzfahrt zurückgekehrt ist – aber Sicherheit ...« Er brach ab, fügte dann leise hinzu: »Sicherheit gibt es nicht. Und vielleicht ist das ein Trost.«

Er machte eine Pause, sprach dann langsam weiter: »Nach dem Tod des Kaisers herrschten im Heer unbeschreibliche Trauer und Verwirrung und viele Ritter versuchten sich in die Heimat durchzuschlagen. Dein Vater aber gehörte zu denen, die im Gefolge Bischof Diepolds treu an der Aufgabe festhielten, die sie geschworen hatten. Er zog mit dem von Herzog Friedrich geführten Rest des Heeres weiter zur Festung Akkon und beteiligte sich an ihrer Belagerung. Doch dann fand Bischof Diepold den Tod und bald darauf wurde Herzog Friedrich von einer Seuche dahingerafft. Da muss deinem Vater so wie vielen anderen Rittern klar geworden sein, dass der Kreuzzug gescheitert war. Er hat sich mit einigen anderen zusammengetan, darunter Bertram von Drachenstein, um den Heimweg anzutreten – vor bald zweieinhalb Jahren. Der Markgraf wusste nicht, ob sie auf ein Schiff stiegen oder ob sie den Landweg wählten. Keiner von ihnen kam jemals zu Hause an. Es fehlt jede Spur oder Nachricht.«

»Also ist mein Vater tot!«, rief Hartmann, winkte seinem Knappen, ließ sich den Becher voll Wein gießen und trank ihn in einem Zug leer.

Der Sänger beobachtete ihn mit kaum verhohlenem Widerwillen. »Es ist möglich, dass dein Vater tot ist«, sagte er. »Ich muss gestehen, dass auch ich dies befürchte. Aber trotz allem besteht doch noch Hoffnung. Schon manches Mal ist ein Kreuzfahrer noch heimgekehrt, den die Seinen längst tot geglaubt hatten!«

»Hoffnung!«, sagte Hartmann verächtlich. »Pfaffengeschwätz! Wo sollte mein Vater denn sein, zweieinhalb Jahre nach seinem Aufbruch aus Akkon, wenn er nicht tot wäre?! Morgen sage ich dem Kaplan, er soll eine Seelenmesse für ihn lesen! Obgleich ihm ja Vergebung seiner Sünden sicher ist, da er auf der heiligen Kreuzfahrt sein Leben ließ!«

Agnes begann zu weinen.

»Warum weinst du?«, fuhr Hartmann sie mit schwerer Zunge an. Der Wein hatte sein Gesicht gerötet. »Passt es dir nicht, dass ich nun endgültig der Herr von Burg Freienfels bin?!«

»Es ist nicht recht, dass du in diesem Augenblick so redest«, sagte sie stockend.

Hartmanns Gesicht wurde noch röter. »Was hast du mir das zu sagen! Soll ich dir beibringen, was recht ist?«

Agnes wischte mit einem Tüchlein ihr Gesicht und suchte ihre Tränen zu verbergen.

Hartmann ließ schon wieder seinen Becher füllen.

Agnes stand auf. »Meine Herren, verzeiht mir, wenn ich mich zurückziehe, es ist spät, und diese Nachricht ...« Sie brach ab, unterdrückte mühsam ein Schluchzen und verließ hastig den Saal.

Hartmann trank.

Konrad schauderte. Er kletterte vorsichtig durchs Fenster und über das Geländer auf den Treppenabsatz, stand vor der Tür in der klaren Nacht. Der Mond war hervorgekommen und erhellte den Burghof. Doch Konrad dachte nicht an den Kaplan. Er dachte an das, was er gehört hatte.

Sein Vater ...

Tränen liefen seine Wangen hinab.

Er schloss die Augen und lehnte sich an die Wand.

Endlich gab er sich einen Ruck und betrat den Wohnturm, kletterte langsam die Stiege hinauf, öffnete die Tür zur Kammer. Da schloss sich mit eisernem Griff eine harte Hand um seinen Arm. Er wurde herumgerissen, sah im Mondlicht den Kaplan und hörte dessen empörte Stimme: »Du hast also mein Verbot missachtet! Ich bin sicher, du hast den Sänger belauscht! Leugne nicht!«

Wütende Schläge prasselten auf Konrad nieder. Er biss die Zähne zusammen. Doch schlimmer noch als die Rute traf ihn, was der Kaplan sagte: »Ich werde dafür sorgen, dass du diesem Sänger nicht noch einmal begegnest! Solange er in der Burg ist, wirst du diese Kammer nicht mehr verlassen!«

 

D

rei Schritte hin, drei Schritte zurück, vom Fenster zur Wand, von der Wand zum Fenster, hin und her, hin und her.

Konrad hielt das Wachstäfelchen in der Hand, in das er am Vorabend die lateinischen Verse eines Psalms mit dem Griffel eingeritzt hatte. Gleich begann der Unterricht. Dann musste er den Psalm aufsagen können, ohne zu stocken.

»... nonne cognoscent omnes qui operantur iniquitatem ...«

»Ob nicht sie erkennen alle, die bedeckt werden, die Ungleichheit ...«

Aber das gab doch keinen Sinn! Oder hieß »operantur« nicht »sie werden bedeckt«? Immer wieder verstand er die Sätze nicht, die er aufsagen musste, begriff sie einfach nicht. Aber wehe, wenn er nur eine Silbe falsch wiedergab!

Konrad lehnte die Stirn an das kalte raue Mauerwerk. Das konnte doch nicht alles sein: auswendig lernen und lernen und lernen – und nicht wissen, was man lernt und wozu.

Es musste doch noch etwas anderes geben.

Wem hätte er von seinem Gefühl erzählen können, dass da irgendwo etwas auf ihn wartete und ihm verloren ging, während er sich hier abmühte, Wörter in seinem Kopf aneinanderzureihen, deren Bedeutung er nicht verstand? Diese Sehnsucht nach – wonach eigentlich?

Wär’ ich ein Falke im Wind …

Er schüttelte den Kopf: Dieser Gedanke – woher kam er plötzlich?

Ob seine Mutter ihn verstanden hätte?

Oder Oswald vom Finkengrund?

Im Burghof wieherte ein Pferd. Konrad sah aus dem schmalen Fenster. Ein Knecht führte das Pferd des Sängers an den Brunnen und da kam auch Herr Oswald mit Hartmann die Treppe herab. Der Sänger verabschiedete sich und stieg auf.

Heute zog er weiter. Und Konrad hatte ihn nicht mehr gehört, nicht mehr gesprochen.

Er würde Herrn Oswald niemals mehr hören. Und niemals erfahren, wie er die Antwort auf seine Frage aufgenommen hätte.

Der Sänger unten im Burghof wandte den Kopf, suchte mit den Augen die Fenster des Wohnturms, entdeckte Konrad und hob grüßend die Hand.

Konrad grüßte zurück.

Als der Sänger zum Burgtor hinausgeritten war, sagte Konrad laut: »Nein, Herr Oswald, ich will nicht Kleriker werden!« Er erschrak über den Klang seiner eigenen Worte.

Der Unterricht begann. Konrad gab sich große Mühe, denn seit jener Nacht war der Kaplan noch strenger als sonst.

Das Aufsagen des Psalms gelang. Danach fragte der Kaplan alte Lektionen ab. Zum unzähligsten Male leierte Konrad dieselben lateinischen Verse herunter.

Wenn mein Vater hier wäre, müsste ich nicht dasitzen und Latein lernen, dachte Konrad.

Der Vater: Er hatte nie etwas von Gelehrtheit gehalten, hatte selbst – wie es für einen Ritter nicht anders üblich war – weder lesen noch schreiben gelernt, geschweige denn Latein!

Dafür wusste Konrad noch genau, wie sicher der Vater im Sattel gesessen hatte und wie erfolgreich er bei der Jagd gewesen war.

Manchmal hatte der Vater ihn zur Jagd mitgenommen. Nicht oft, denn sehr geschickt hatte er, Konrad, sich dabei nicht angestellt.

Einmal war er bei der Eberjagd vom Pferd gefallen und wäre von den Stoßzähnen des gereizten Ebers durchbohrt worden, wenn sein Vater ihn nicht mit einem sicheren Speerwurf gerettet hätte. »Ach Konrad«, hatte der Vater damals gesagt, »wie soll aus dir je ein Ritter werden!«

Böse hatte das eigentlich nicht geklungen. Eher ratlos. Oder enttäuscht.

Richtig böse war der Vater selten geworden.

Umso schlimmer war es gewesen, zu wissen, dass er den Vater enttäuschte.

Warum konnte er nicht so sein wie andere? Wie die Knappen des Vaters. Oder besser noch: wie Hartmann. Stark und ausdauernd, geschickt, entschlossen und mutig.

Dann hätte der Vater stolz auf ihn sein können.

Der Vater.

Hartmann sagte, er sei tot.

Aber Oswald vom Finkengrund hatte erklärt, es bestehe noch Hoffnung. Schließlich hatte sich der Vater auf den Heimweg aus dem Heiligen Land gemacht!

Und der Vater war ein so tapferer Ritter und er reiste gemeinsam mit dem berühmten Bertram von Drachenstein, von dessen Kämpfen Hartmann wahre Wunderdinge erzählte – da konnte ihm doch gar nichts zugestoßen sein!

Der Vater lebte.

Aber warum dauerte es so lange, bis er heimkehrte, warum kam er nicht endlich und befreite ihn von diesem schrecklichen Latein?

Hatte sein Schiff den Kurs verloren wie das des englischen Königs? Hatte er Schiffbruch erlitten wie dieser? Sich auf dem Landweg verirrt? Oder ...?

Plötzlich schlug Konrads Herz rasend. Der englische König!, dachte er. Richard Löwenherz ist gefangen genommen worden! Gefangen, obwohl er ein Kreuzritter war! Gefangen und festgehalten für Lösegeld.

Wenn nun auch sein Vater gefangen war und in einem Verlies in einer Burg schmachtete und darauf wartete, ausgelöst zu werden?

»Konrad!«, fuhr der Kaplan ihn heftig an. »Antworte!«

Konrad zuckte zusammen. »Ich ... wie bitte ... ich weiß nicht ...«, stotterte er.

Die Rute zischte durch die Luft, traf seine Schultern, seinen Rücken. Wild brannte der Schmerz.

Der Kaplan begleitete die Prügel mit heftigen Vorwürfen: »Ich lehre dich Latein, die edelste aller Sprachen, die Sprache der Gebildeten, die Sprache der Kirche, die Sprache Gottes – und du träumst!«

Konrad duckte sich unter den Hieben. Ich hasse den Kaplan!, dachte er. Ich hasse ihn! Und ich hasse Latein! O Vater, Vater, komm doch und hilf mir hier raus!

Mittags bekam Konrad kein Essen, sondern wurde in die Kirche geschickt, musste allein dort knien und Psalmen beten.

»Custodi me Deus quoniam speravi in te ...«, murmelte er vor sich hin, ohne auf den Sinn seiner Worte zu achten. Seine Gedanken glitten ab.

Wenn nun sein Vater in einem Kerker lag? In so einem schrecklichen, beinahe lichtlosen Kerker, wie sie selbst ihn in der Tiefe ihres Bergfrieds hatten?

Wenn er nur seinem Vater helfen könnte! Wenn er nur wäre wie Siegfried!

Dann würde er in die Welt ziehen und nicht ruhen, bis er die Burg gefunden hätte, in der sein Vater gefangen gehalten wurde. Im Schutz der Tarnkappe würde er sich hineinschleichen, sich Zugang zum Kerker verschaffen und den Vater befreien. Und jeden, der sich ihm in den Weg stellte, würde er töten. Dann würde der Vater sagen: »Mein Sohn, ich verdanke dir mein Leben!« Und er würde ...

Konrad schrak zusammen. Mit lautem Knarren öffnete sich die Kirchentür. Der Kaplan!

Schnell begann Konrad wieder lateinische Verse zu murmeln.

Hoffentlich hatte sein Lehrer nicht gemerkt, dass er vor sich hin geträumt hatte, statt wie befohlen zu beten! Der Kaplan kniete neben ihm nieder und sprach den Psalm zu Ende mit. Dann erhob er sich und sagte beinahe freundlich: »Es ist gut, Konrad. Ich hoffe, du hast deine Unaufmerksamkeit nun genügend bereut. Wir fahren im Unterricht fort!«

Den Nachmittag überstand Konrad, ohne seinem Erzieher Anlass zu neuem Zorn zu geben. Aber die ganze Zeit, während er mit dem Griffel Buchstaben in das geglättete Wachstäfelchen ritzte, Antworten gab und lateinische Sätze nachsprach, hatte er das Gefühl, er spiele den aufmerksamen Schüler nur, während er in Wirklichkeit jemand ganz anderes sei und sich in ihm irgendwo ganz tief innen etwas Entscheidendes ereigne.

Als der Kaplan ihn entließ, stieg er in den Wohnraum von Hartmanns Familie hinauf.