Angelika Overath
Sie dreht sich um
Roman
Luchterhand
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© 2014 Luchterhand Literaturverlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Cover: unter Verwendung einer Photographie von Angelika Overath
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-12525-7
V002
Für Henrike Lähnemann
Something produces intensity, a holy feeling, as oranges produce orange, as grass green, as birds heat. Some hearts put out more love and some less of it, presumably. Does it signify anything? There are those who say this product of hearts is knowledge.
Saul Bellow, Herzog
Aber es gab Augenblicke, in denen es ihm vorkam, daß die Welt weniger eine moralische denn eine mystische Angelegenheit sei.
Tania Blixen, Babettes Fest
ERSTES BILD, ERSTER TAG
1
Bist du da?
Sie saß auf einem ovalen, rückenlosen Plüschmöbel. Es roch nach Staub wie nach altem Puder. An den Türen standen Aufseher in dunkler Uniform.
Anna Michaelis sah zu der Wand mit den Bildern, auf die gedehnten Choreographien von Körpern, die sich an ihnen vorbeibewegten. Vom Hotel aus war sie gleich hierher gekommen. Die National Gallery lag unterhalb der Altstadt, nur wenige Schritte über unregelmäßiges Kopfsteinpflaster, dann eine Treppe hinunter durch einen Park. Museen waren sichere Orte. Tarnkappen. In ihren Räumen mußte man sich nicht verhalten. Im Grunde war man gar nicht da. Die Bilder waren da, und man selbst konnte untergehen in ihrem Muster oder sich wegschauen in das Leben anderer. Ein lichtflimmernder Salon, eine Frühstücksgesellschaft im Grünen. Eine hohe Dame in blauem Brokat mit Hündchen. Ein Klatschmohnfeld, eine Meerlandschaft. Anna war unsichtbar, aber nicht allein.
Sie streifte ihre Slipper von den Füßen, bewegte die nackten Zehen und sah ihnen zu. Wissen Zehen, wo sie sind? Zehen machten alles richtig. Beim Aufsetzen, beim Abrollen, Druck ausgleichen. Anna streckte ihren Rücken durch. Stellte die Füße vorsichtig auf das weiche, vom Laufen noch warme Leder. Seit frühmorgens war sie unterwegs. Es mußte jetzt später Nachmittag sein. Eine Stunde Zeitverschiebung. Das Museum würde bald schließen. Sie sah den Besuchern nach. Einige von ihnen waren zu zweit; ab und an sprachen sie leise miteinander. Wiesen sich, gegenseitig Zustimmung voraussetzend oder zumindest ein Interesse erwartend, auf etwas hin. Waren sie einzelne, bewegten sie sich stumm von Bild zu Bild. Manche notierten etwas in ein dünnes Büchlein, auf einen Block.
Edinburgh, Schottische Nationalgalerie, Saal der Impressionisten. Fraglos saß sie da. Aber was tat sie hier, Anna Michaelis, an einem regnerischen Tag am Ende der Woche? Wenn das Museum schloß, würde sie wieder ins Hotel gehen. Und dann?
Am Morgen hatte sie noch einmal in seine Augen gesehen. Es waren alte Augen, älter als er, Augen von dieser samtenen Schärfe, als habe er eine hyperrealistische Aufmerksamkeit im Blick. Ein verdienter Oberstudienrat, immer schon einen pädagogischen Schritt weiter als seine begabten Schüler. Doch sie war ruhig aufgestanden und hatte wie in Zeitlupe (ja, sie hatte sich regelrecht dabei zugesehen!) ihr Handgepäck zusammengesucht. Sie konnte blind packen, ohne viel nachzudenken. Einen warmen Pullover, Strickjacke, T-Shirts, einen Rock, eine Jeans, etwas Unterwäsche; Reisen gehörte zu ihrem Beruf. Dann verließ sie das alte Münchner Reihenhaus, zwanziger Jahre, privilegierte Lage, mit dem maßvoll verwilderten Obstgarten und der kleinen, im Sommer rosenumrankten Dachterrasse. Kaum hörbar zog sie die Haustüre zu, wissend, daß er dieses sanfte Geräusch empfinden würde wie eine Detonation. (Gefolgt vom leiser werdenden Knirschen der nassen Kiesel, dem kurzen Quietschlaut der niedrigen Vorgartentür mit dem Löwenknauf.) Das Taxi wartete schon.
Sie hatte den nächstmöglichen Flug genommen. München – Edinburgh! Sie kannte diese Stadt nicht.
Eine Menschengruppe gab im Weitergehen ein Gemälde frei. Sie hatte es beim Betreten des Raums flüchtig gesehen, aber kaum wahrgenommen. Es war ein Gauguin, das Bild mit den Bretoninnen, die sich um einen roten Platz versammelten. Anna kannte das Bild von verschiedenen Reproduktionen, »Jakobs Kampf mit dem Engel«. Bei einer Studienfreundin hing es einmal über dem Schreibtisch. Hier also war das Original. Sie hatte nicht erwartet, in der fremden Stadt gleich ein vertrautes Bild zu sehen. Sie schlug die Beine übereinander, stützte die Ellenbogen auf ihren Oberschenkel und legte das Gesicht in die Hände. Die Augen geschlossen. Die Berührung der Finger auf den Augäpfeln erzeugte ein buntes Blitzen. Das Sehorgan reagiert bei Druck mit Sichtbarem. Mit was reagiert die Seele?
Am Abend waren sie noch in einem Konzert gewesen. Eine Geigerin mit blonder Kurzhaarfrisur spielte die Solosonaten von Bach. Sie spielte ohne Vibrato und so ruhig und zugleich virtuos, als sehe sie mit Erstaunen ihrem Bogen zu. Es war etwas Keusches in diesem Spielen. Als sei sie einzig ein Medium für die Bachsche Musik. Und als müsse sie sich nur hingeben und schon entstünde unter ihrem Atmen zwischen Schulterkugeln und Handgelenken dieser Klang wie von selbst.
Da es stark regnete, waren sie mit dem Taxi nach Hause gefahren.
Sie hatte noch etwas trinken wollen und in der Küche ihrem Mann vom Kühlschrank aus zugerufen, ob er auch etwas möchte. Da hatte er, er stand mittlerweile in der Tür wie in einem Rahmen, mit der sicheren Stimme des Oberstudienrats gesagt: Ich war nicht allein in Triest.
Noch in der Hocke vor dem summenden Kühlschrank, war ihr der Altphilologenkongreß an Ostern eingefallen. Und sie hatte gleich gewußt, mit wem er in Triest nicht allein gewesen war.
Weißwein? hatte sie nach drei Sekunden Ewigkeit gefragt. Er hatte nicht geantwortet. Sie hatte, immer noch in der Hocke vor dem offenen Kühlschrank, auf das angeschnittene Stück Mozzarella gesehen das sie, in seinem Rest Plastikhaut in ein weißes Porzellanschälchen gelegt hatte, damit es nicht austrocknete. Und auf einmal hatte dieses Stück Käse sie gerührt, wie es so dalag in einer kleinen milchigen Pfütze. Und ihr ganzer Restalltag hatte sie gerührt, wie sie ihn bewahren wollten, immer wieder, in all den kleinen und größeren Gefährdungen einer langen Ehe.
Da hatte er gesagt: Sie wünscht sich ein Kind von mir.
Schockfrosten. Gefrierschockverfahren dienten der sensiblen Haltbarmachung von Lebensmitteln. Manchmal fielen Anna in schwierigen Situationen seltsame Wörter ein, die sie ablenkten und damit schützten. Sie glaubte dann mehr an die Wörter als an den Moment. Und dann war der Moment in seiner schlimmen Heftigkeit meist schon ein wenig vorbei. Bei mindestens minus achtzehn Grad, aber nur kurz, vielleicht zwei Minuten.
Sie hatte den Kühlschrank geschlossen. Sie war aufgestanden und sah zu ihm hin, ein Scherenschnitt in der offenen Tür.
Dann mußt du dich entscheiden, hatte sie gesagt. Er aber hatte sich umgedreht und war über den Gang in seiner Bibliothek verschwunden.
Nullpunkt, dachte Anna und öffnete die Augen. Wie oft hatte sie diese Szene rekapituliert in den letzten Stunden. Sie richtete sich wieder auf. Vor ihr lagen die weißen, die übergroßen und flächigen Hauben der bretonischen Mädchen. Sie sah nach ihren Schuhen, schlüpfte mit den Füßen hinein. Ihre Finger halfen den Fersen nach. Und als sie jetzt aufstand, um zu gehen, da hörte sie es.
2
So war es aber nicht.
Wir sind nicht dagestanden und haben fromm und ergriffen hingeschaut. Warum auch! Es gab nichts zu sehen. Ich meine, für uns. Und was hätten wir zu tun gehabt bei diesem Apfelbaum auf rotem Sand! Das war seine Idee.
Ganz langsam, dachte Anna und setzte sich wieder.
Und dann malte er uns, wie er uns brauchte: ergriffen von einer Vision. Seiner Vision. Aber wir haben das nie gesehen. Wir nicht. Und der Pfarrer auch nicht. Gut, in der Kirche hat Monsieur le Curé von einem Kampf mit dem Engel erzählt. Nein, erzählt nicht gerade. Er hat aus der Bibel gelesen, heiliges Wort für heiliges Wort, und dann hat er etwas gepredigt. »Furt« weiß ich noch. Und »Mann«. Und »Ringen«. Und »Hüfte«. Und »Mensch und Gott«, und: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«. Aber wer sagt, daß uns das interessiert hätte? Er.
Anna sah auf die Leinwand vor sich. Und sei es, daß sie zu müde war, um zu staunen, sei es, daß ihr das fremde Sprechen gar nicht so fremd schien, jedenfalls ließ sie sich unwillkürlich von der Stimme weiter mitnehmen.
Wir haben ihm gepaßt für sein Bild. Von uns. Vor allem farblich. Ein frischgestärkter Bogen aus weißen Hauben um dieses glühende Rot herum. Aber so rot war der Sandplatz vor der Kirche dann doch nicht. Auch wenn er glühte. Und er meinte wohl diesen Sand. Und als Glutkern in das Rot hinein – das wir rahmten – setzte er die zwei Männer. Jakob und den Engel. Oder wer diese winzigen, durchtrainierten Kerle auch gewesen sein mögen. In Blau und in Grün.
Und der eine hatte gelbe Flügel.
Nicht genau auszumachen, was die beiden taten. Kampf, Tanz? Ein Sich-Messen jedenfalls. Ums Leben? Um Mut, Anmut. Schwer zu sagen, was schwer war. Für uns war etwas anderes schwer als für ihn. Aber das fiel ihm nicht ein. Und dann hat er noch dieses Tier dazugemalt. Wie eine junge Kuh oder wie ein kleiner Stier, auf der anderen Seite des Apfelbaums, der mit seinen bunten Blättern in den Himmel stieg. Die Beine des Tieres waren komisch, staksig, ein wenig verdreht, genau wie die Beine der Kämpfenden.
Anna sah auf die Kämpfenden und auf das Tier. Sie sah von den Beinen des Tiers zurück auf die Beine der Kämpfenden.
Denn auch sie, diese seltsamen Kerle – und der eine geflügelt! – waren ein einziger Körper, eine einzige Gestalt. Ich sah das gleich. Sie waren nicht zwei. (Und ich wußte auch warum.) Und selbst der Pfarrer, der nichts wußte und nichts sah, muß es geahnt haben.
Von Pont-Aven haben sie ihm das Bild hinaufgeschleppt, durch Buchweizenfelder, Kastanienwälder. Eine seltsame Prozession, heidnisch: Er, der ernste Maler, und seine zwei jungen Freunde; sie trugen das Bild bis in die Kirche von Nizon. Dort haben sie es aufgestellt in das stickige, fromme Dunkel mit den hölzernen Heiligen und den geschnitzten Gesichtern, die von den Dachbalken herunter grimassierten. Dieser alte Gegenzauber gefiel ihnen! Das Gemälde würde es mit ihm aufnehmen und mit dem christlichen Glauben dazu. Jakobs Kampf mit dem Engel sollte sich in der Kirche beweisen. Das Bild erzählte von einer anderen Religion.
Auf einmal schien es Anna, als ginge eine ganz leichte Bewegung durch die Blätter des Apfelbaums. Sie wischte sich über die Augen. Sie hatte kaum geschlafen.
Als der Pfarrer, das Brevier in der Hand, endlich aus seinem Garten auftauchte, genügte ihm ein Blick. Er versuchte, höflich zu bleiben. Doch er schüttelte nur den Kopf. Nicht für geschenkt wollte er das haben, nicht in seiner Kirche! Das war kein frommes Bild. Das wenigstens war ihm klar.
Warum ich das weiß? Weil ich dabei war, weil ich ihnen nachgeschlichen bin. Jemand wie ich fällt nicht auf. Ein Dorfkind, das man zu Besorgungen schickt. Aber mir fiel auf, daß dieses Bild eine andere Geschichte erzählt.
Welches Dorfkind? Welche Geschichte? Selbstvergessen zog Anna die nackten Füße auf das Sofa, schlang die Arme um die Beine und hörte zu.
Jedenfalls brauchte er unsere Köpfe für seine Erleuchtung. Ausgerechnet als Rahmen. Als anmutigen Bilderrahmen im Bild. Haube an Haube an Haube. Gestärktes, kühles Weiß, heiß gebügelt von uns, von unseren Müttern mit Bügeleisen, die glühende Kohlen im Bauch hatten. Mit uns konnte er das machen. Wer waren wir denn für ihn und seinesgleichen? Bauernmädchen aus der Bretagne. Reine Motive. Auf der Leinwand jedenfalls.
Oft genug gezeichnet. Geduldig. Alle diese Maler, die kamen, haben uns gezeichnet. Wir waren ein einfaches Sujet. Immer wieder. Sie fanden unsere Hauben pittoresk. Sie fanden uns pittoresk. Frisch, die Wangen gerötet vom Wind. Pont-Aven war pittoresk. Ein exotisches Nest jedenfalls, wenn man aus Paris kam, aus Brüssel, Kopenhagen, New York. Und ein Maler war. Und wir, wir waren neugierig. Freilich. Geschmeichelt von diesen jungen Herren. Und nervös. Und hingerissen. Und standen im salzigen Wind.
Jetzt, auf dem Bild, ist alles einfach. Hinterher kann einem nichts mehr geschehen.
Aber damals –
3
Eine Aufsicht in nachtblauer Uniform stand vor ihr. Anna erschrak. Das Museum schließe in wenigen Minuten. Sie stand sofort auf und ging, nun wieder in der Wirklichkeit der Wärter angekommen, einige Schritte weiter.
Sie war durcheinander, es ging ihr nicht gut. Sie wußte nicht, was sie hier machte in diesem Museum auf einer Insel zwischen Nordsee und Nordatlantik und wo sie hin sollte in der schottischen Stadt. Aber verrückt war sie nicht.
Das Bild hatte gesprochen. Daran gab es keinen Zweifel. Dieses wirkliche Bild, das sie bislang nur kannte von Kalendern, Postkarten, von einem Plakat über dem Schreibtisch einer Freundin, hatte erzählt.
Sie wußte, daß sie jetzt gehen sollte. Und sie ging zu dem Bild zurück. »Jakobs Kampf mit dem Engel oder Vision nach der Predigt«, Pont-Aven 1888, 73 auf 92 Zentimeter. Sie setzte sich wieder (auf das Plüschmöbel, das nach Staub roch wie nach Puder). Ruhig bleiben, dachte sie. Haltung bewahren. Etwas Ungewöhnliches ist geschehen. Und doch war dieser Vorgang auch fast natürlich gewesen. (Also hatte sie nicht aufgeschrien, sondern zugehört.) Ihr Hinschauen war kaum merklich in ein Hinhören übergegangen.
Nun war es wieder still. Aber genau in dieser Stille hallte nach: das Bild sprach.
Sie war jetzt doch aufgeregt. Sie drehte sich nach den letzten Besuchern um. Niemand außer ihr schien etwas gehört zu haben. Dann sah sie noch einmal auf die weißen Hauben, die einen Halbkranz bildeten, den Schwung eines Rahmens um einen Platz. Lackrot. Japanisch. Keine Schatten.
Eine Geschichte aus der Bibel. Was aber sahen die Bretoninnen auf dem Platz? Und was sah sie, Anna, im Museum?
Bilder verändern sich nicht. Bilder sind so da, wie sie gemalt worden sind. Dann werden sie angesehen von vielen Menschen. Sie verstauben. Werden geputzt. Umgehängt. Sie sind begehrt und gehen auf Reisen zu anderen Museen. Wo sie auch sind, wer vor ihnen steht, sie sind dieselben über ein Jahr, ein Jahrhundert, ein Jahrtausend. Gut, sie altern, sie dunkeln nach. Doch ist das, was auf ihnen zu sehen ist, lange auf ihnen zu sehen. Auch Bilder, die eine Geschichte erzählen, sind stumm.
Aber dieses Bild hatte leise und mit einer jungen, festen Stimme gesprochen. Zu ihr, Anna, Journalistin, fünfzig Jahre alt, frischverlassen, sich wie fünf fühlend. Wie fünf, oder fünfzehn. Ein Alter, in dem man gerade schreiben lernt. Oder lieben. Frischverlassen, mit einem flatternden Ich.
Immerhin ein Anfangsgefühl. Null. Es kam also nur darauf an, wie man weiterzählte. Weitererzählte. Anna sah auf die beiden winzigen, muskulösen Männer. Ineinandergreifend, blau und grün und gelb geflügelt.
War es nicht auch als Kind so gewesen, daß Bilder erzählten und einen mitnahmen? In der Kirche die frischen Heiligenbildchen, die man sich an besonderen Feiertagen neben dem Portal von der Bank nehmen durfte und dann vorsichtig in das Gebetbuch legte. Welche lange Kinderzeit war ein lateinisches Hochamt! Bis die schmalen, nach Druckfarbe riechenden Figuren anfingen, sich zu bewegen: Und eine Geschichte in Weihrauch und Myrrhe begann.
Sie sah noch einmal zur Seite. Nein, es hatte tatsächlich niemand außer ihr etwas gehört. Sie sah die Rücken der letzten Museumsbesucher, die in der Flucht der Haupttür weitergingen. Ein Wärter sammelte Audioführer ein.
Vor den Fenstern wurde es langsam dunkel. Eine wattige Helle erfüllte den Raum. Wie ein Unterwasserlicht noch dicht am Meeresspiegel.
Anna fragte sich, warum sie sich nicht mehr wunderte. Aber es ging ja nur ums Aushalten, irgendwie. Bei Geburten etwa produzierte der Körper schmerzstillende Stoffe. Damit die Trennung leichter gelang, betäubte er sich selbst. Vielleicht konnte die Seele das auch.
Anna spürte, wie sie ruhiger wurde. Sie sah noch einmal auf die weißen Hauben. Sie sah, daß es auch Helme waren. Vor allem eine ganz im Vordergrund. Und war diese Helmhaube nicht von einer eigentümlichen Flächigkeit? Anna versuchte, die Helmhaube in ihrer Vorstellung weiter nach oben zu schieben. Fast, dachte sie. Fast wäre diese Haube eine Leinwand für die Szene des Kampfes. Und wie die Flügel der Kämpfenden nach oben zeigten, so wiesen, beinahe spiegelsymmetrisch, die beiden Haubenbänder hinunter.
Das Bild schwieg.
Anna sah noch einmal auf das Schild neben dem Rahmen.
Was war los in Pont-Aven im Sommer 1888?
Es klingelte zum dritten Mal. Die Wächter begannen, die Seitentüren zu schließen. Anna nickte dem Bild zu, als grüße sie es. Dann war sie auf dem Weg ins Hotel.
4
Vieles ist möglich, was man nicht für möglich hält. Anna sah in den Spiegel und zog ein Stück Zahnseide durch die Zähne. Es ist möglich, verlassen zu werden, nach einem halben Leben. Es ist möglich, sehr schnell ein Handgepäck zusammenzusuchen, in ein Taxi zu steigen, in ein Flugzeug. Es ist möglich, in einer fremden Stadt zu landen, in der man noch nie war. Weil es ein Anfang sein soll. Wenigstens ein Anfang. Was bleibt einem am Ende sonst übrig.
Edinburgh also. Sie nahm einen Schluck Mundwasser und bewegte die leicht beißende Flüssigkeit zwischen den Backen. Und dann war es möglich, in eine Gemäldegalerie zu gehen. Wie Tiergärten, wie Kirchen waren Museen zuverlässige Orte. Bilder vor allem schienen ihr eine immer angenehme Gesellschaft zu sein. Sie forderten nichts. (Weniger als die neugierigen Zebras hinter den Stäben; von den Heiligen in den Kirchenräumen ganz zu schweigen.) Bilder hatten eine einladende Überzeugungskraft. Sie waren versöhnlich, gesammelte Zeit. Schon geleistete Erfahrung. Bilder sind immer neu da, Anna spuckte das Mundwasser aus, und doch haben sie zugleich schon alles hinter sich.
Unwillkürlich zog sie mit den Zähnen die Oberlippe ein, dann die Unterlippe. Sie leckte mit der Zungenspitze nach. Daß man auch in der Katastrophe an die Mundhygiene denkt. »Mundhygiene«! Machte nicht gerade das Wort »Hygiene« jedes weitere Wort, dem es sich verband, ein wenig verdächtig? Ohrenhygiene, Nasenhygiene, Vaginalhygiene. Augenhygiene, Herzhygiene. Sie drehte sich um.
Vor ihr lag ein schmales Bett mit abgesteppter altrosa Bettdecke. Am Kopfende des Bettes, da, wo sie die Erhebung eines Kissens ahnte, lag ein Konfekt. Sie begann, sich langsam auszuziehen.
Als sie jung gewesen war, konnte man Monatsfahrkarten kaufen für das europäische Streckennetz der Eisenbahn. So war sie damals durch viele Städte gekommen, mit Schulfreunden im letzten Sommer vor dem Abitur, in den folgenden Jahren mit Studienkollegen, aber auch allein. Und ganz selbstverständlich, ohne sich bewußt zu sein, daß das nicht selbstverständlich war, hatte sie in jeder neuen Stadt sofort nach den Galerien gesucht. Eine Stadt besichtigen hieß für sie, ihre Bilder zu sehen. Eine Stadt versäumt haben war identisch mit dem Versäumen ihrer Gemälde. Es gab also in jeder Stadt eine zweite Stadt der Bilder. Und wenn sie jetzt zurückdachte, dann hatte sie durch die Bilder, die sie jeweils sah, doch einiges verstanden von der fremden Stadt, die sie nur flüchtig besuchte. Und konnte dort auf ihre Weise zu Hause sein.
Anna saß nackt auf der Bettkante. Sie sah hinunter auf ihre Füße. Sie mochte ihre Füße, ihre Zehen erinnerten sie an Gefieder. Flugbereit. Sie drehte sich zur Seite und sah zum Fenster.
Und wenn man kein Ziel hat, dachte sie, muß man sich eines erfinden.
ERSTES BILD, ZWEITER TAG
1
Vor dem Hotel nieselte es. Anna schlug den Kragen ihres Trenchcoats hoch und lief schnell die braunglänzende mittelalterliche Gasse entlang Richtung National Gallery. Erstaunlicherweise hatte sie geschlafen. Traumlos. Zum Frühstück hatte sie ein Glas Orangensaft getrunken und eine Kanne grünen Tee. Essen mochte sie noch nicht.
Vom Rand der Altstadt sah sie hinunter auf das Museum, das in einer großzügigen Parkanlage lag, und sie begann, die lange Flucht von Stufen hinunterzugehen. Auf einer Plattform kam sie an einem Bettler vorbei. Offensichtlich hatte er hier die Nacht verbracht, eingewickelt in eine Decke, unter Plastikfolien. Er mochte so alt sein wie sie oder jünger, auch wenn er älter wirkte. Sein Hals war schmal, seine Backenknochen standen mager hervor. Seine tiefliegenden Augen unter den dunklen Brauen erwiderten ihren Blick nicht.
Eine kleine Drehung, dachte sie. Nur eine ganz kleine Drehung und man könnte Kontakt aufnehmen zu ihm. Der Gedanke erschreckte und beruhigte sie zugleich. Man könnte ihm Geld geben. Ihn zum Frühstück einladen. Und dann? Sie sah, wie er die Decke enger um sich zog. Auf einmal bemerkte sie an der Höhe seines Oberschenkels etwas, das sich bewegte. Sie verzögerte ihren Schritt. Eine schmale Schnauze schob sich flach über den Boden. Jetzt hob ein zerzauster weiß-grauer Hund seinen Kopf und sah sie mit schwarzen Augen an. Wann war man zuständig? Sie ging jetzt wieder schneller. Berührbar? Wann suchte man die Nähe zu einem ganz Fremden? Und stolperte in eine spontane Brüderlichkeit?
Sie dachte an ihren Mann.
Nach der Geburt ihres ersten Kindes hatte er, auf dem Weg von der Klinik zurück, in der Eisenbahnunterführung einem Bettler, der im feuchten Dunkel saß, einen großen Schein zugesteckt. Sie hatten damals kein Geld gehabt, wirklich nicht, Georg aber hatte, so war es ihm wohl erschienen, sein Glück teilen müssen. Damit er es aushalten konnte. Und sei es nur durch diese vermutlich alberne Geste. Als er ihr am Abend, am Bett in der Klinik, verschämt davon erzählte, hatte sie für eine sichere Sekunde gewußt, daß sie ihn liebte, und lachen müssen, ihr kleines Kind im Arm.
Vor dem Museum stand ein Dudelsackbläser. Seine bloßen Knie sahen rosa und eckig unter einem karierten Faltenrock hervor. Er hatte unter einem Vordach Platz gefunden. Er blies und drückte. Da es regnete, blieb niemand vor ihm stehen, um ihm zuzuhören. Selbst zum Photographieren schien es zu naß. Im Wind erinnerten seine Töne an Katzen. Anna schob ihre Hände tiefer in die Trenchcoattaschen. Er stimmte hier nicht, er zitierte nur seine Existenz. Und dann dachte sie: immerhin.
Das Museum hatte eben erst geöffnet. In den Gängen waren noch Putzfrauen unterwegs. Sie nickte zu den Belehrungen eines Museumswärters in Strickweste, der sie anwies, ihren kleinen Rucksack sorgfältig am Körper zu tragen, damit sie nirgends anstoße. Besser noch, sie würde ihn abgeben. Schnell war sie weitergegangen, den Rucksack wie eine Tasche halb unter die Achsel geklemmt.
Sie nahm die Stufen hinauf, immer zwei der mit rosa Teppichboden überzogenen Stufen auf einmal.
Und gleich stand sie wieder bei den Impressionisten.
Als sie den runden Raum betrat, hörte sie es schon. Das Bild sprach. Hatte es auch in der Nacht gesprochen? Oder hatte es auf sie gewartet? Vorsichtig ging sie näher auf die Hauben, die Helme zu. Sie war allein im Raum, an den beiden Türen standen noch keine Aufseher.
Er kannte mein Gesicht, war das erste, was Anna verstand.
Aber er hat es nicht gemalt.
Anna ging vorsichtig einen Schritt näher.
Er kannte mein Gesicht. Und er malte es nicht. Aber so, wie er mich gemalt hat, steht er direkt hinter mir. Wir beide sehen dasselbe, das wir nicht sehen. Vision nach der Predigt! Seine Erfindung. Er steht in meinem Nacken. Ich spüre seinen Atem. Das war keine Erfindung. Auf keinem Bild.
Natürlich, es war nicht das ganze Bild, das sprach. Anna blieb still stehen, als könnte sie das Bild erschrecken. Es war eine der Figuren, eine der bretonischen Frauen. Sie horchte. Sie trat wieder einen Schritt zurück und wartete.
Nur aus meiner Haube, hörte sie nun leise, nur aus meiner Haube hat er Haare herausschauen lassen.
Es mußte das Mädchen vorne sein, das sprach. Das Mädchen mit dem Haubenhelm, unter dem, abgeflacht und weiß wie eine Leinwand, sich einige Locken hervorkringelten.
Niemandem wird das auffallen. Außer mir. Hat er es deswegen gemalt? Hat er es gemalt, damit ich es sehe, damit ich ihn sehe, der mein Haar kannte, dieses so schlecht zu bändigende Haar. Hat er es für mich gemalt? Auch wenn er mir mein Gesicht nicht gegeben hat? Florence schon. Florence bekam ein Gesicht. Züge, die ihr ähnlich sehen. Wie konzentriert sie auf diesen Ringkampf schaut, als könne, als müsse ihr Blick ihn beglaubigen. Den Engel, der Jakob niederdrückt, den Jakob um die Taille faßt, an der Wade hält. Florence war die klügste von uns, die schönste. Wir bewunderten Florence, wir liebten sie.
Anna sah auf die junge Bretonin vorne im Halbprofil.
Wie sie mit Schwung die Wasserkaraffe auf den Tisch setzte, die Weingläser. Wie sie das knusprige Brot schnitt, daß die dünne Kruste absplitterte. Wie sie sich umdrehte in der langen Schürze. Die Hände abstreifte am steifen Stoff. Und er, der sie festhielt am Arm. Florence. Ich habe mich nicht gewundert, als ich sie auf dem Bild sah. Sehend. Als einzige von uns.
Und Monsieur le Curé schlägt die Augen nieder. Vor allem! Glaubte er wirklich, wir hätten ihn nicht erkannt, da am Bildrand. Hier ist nichts fromm, und am wenigstens dieser Pfarrer, der nur darauf zu warten scheint, daß die mit offenem Blick schauende Florence ihn mit ihren schönen Lippen auf die Stirn küßt.
Alle, die dabei waren in diesen Tagen, haben es gesehen: Der Mann unten rechts ist der Maler. Und kein Pfarrer. Es ist der Maler, der sich unter uns geschmuggelt hat. Vor dem Begehren schlägt er die Augen nieder. Nicht vor Gott.
Vor Florence. Und Florence ist Florence. Und er war vernarrt in sie. Mit ihr hatte seine Vision zu tun. Also ein wenig auch mit uns.
Und auch der geflügelte Kampf ist er. Das haben wir begriffen, bevor er uns malte. Mit sich ringt er! Ein Maler muß er werden. Endlich ein richtiger Maler. Und beugt, wie ein Pfarrer, davor sein Haupt. Vor diesem Ringen.
Frau und Kinder hatte er in Paris zurückgelassen. Daß er sie mit uns betrog, hat ihn nicht wirklich irritiert. Aber dieser Engel, dieser Engel, der etwas von ihm wollte. Der schon.
Als ich das Bild sah, wußte ich, er würde gehen. Familienvater, Bankangestellter. Das war vorbei. Und jetzt auch Florence. Als ich das sah, wußte ich, auch Florence war vorbei.
Pont-Aven war vorbei.
Anna sah auf die Haube. Täuschte sie sich oder bewegten sich kaum merklich die breiten Bänder?
Ja, und einmal stand er auch hinter mir. Ich war zu jung, die jüngste und die blödeste. Ich war nicht sicher und schön und erfahren wie Florence, die mit den Malern machte, was sie wollte. Gegen jeden Pinselstrich.
Auf einmal schüttelte das Mädchen den Kopf, eine Locke rutschte ihr tief zwischen die Schulterflügel auf ihr dunkles Kleid.
Ich weiß schon, welche Furt er meinte.
Dagelegen bin ich wie ein Strom. Unterm Apfelbaum.
Anna blieb ganz still. Sie sah das Helmmädchen jetzt im Halbprofil. Sie war jünger, als sie erwartet hatte. Sie hatte ein weiches Kinn. Und eine Sekunde weiter sah Anna, daß ihre Augen braun waren. Anna sah in die Augen des bretonischen Kindes, das durch Anna hindurchsah.
Aber es war ja nicht die Liebe, wie denn auch! Es war nichts, was mit dem Leben zu tun hatte, nur mit der Leinwand. Die Liebe war ihm wie die Farbe. Ein schönes Material, mit dem er etwas machte. Es war –
Kinder stürmten herein, eine Schulklasse. Ihre Lehrerin, das schwarze Haar streng zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, ein rotes Moleskine-Notizbuch in der Hand, folgte ihnen. Bei jedem Schritt spannte der enge Rock ihres tintenblauen Deux-Pièces. Sie trug schmale Pumps und anthrazit schimmernde Seidenstrümpfe. Die Schüler hielten Zettel in den Händen, offensichtlich standen darauf Fragen, die sie auszufüllen hatten. Suchend schwärmten sie aus. Sie schienen nicht alle die gleichen Bögen zu haben, denn sie ließen sich vor verschiedenen Bildern nieder. Sie begannen zu diskutieren. Manche schrieben schon oder zeichneten am Boden hockend im Schneidersitz. Die Lehrerin lehnte an der Türöffnung.
Als ihre Blicke sich trafen, sah Anna weg und schnell wieder hin zu den hellen, weißen Hauben über den dunklen Kleidern, vor dem lackroten Platz. Auf einmal roch sie einen Hauch von Sommerluft. Warmen Sand, Heu. Aber das Bild hatte sich wieder geschlossen; das Mädchen stand bewegungslos, eine behelmte, flächige Rückenfigur. Anna schien es, als nähme sie noch ein Zittern der Hauben wahr, eine letzte Bewegung im Blattwerk des Baumes. Dann lag das Bild still unter Glas.
2
Anna war in der Stadt herumgestrichen. Sie wich doppelstöckigen Bussen aus, die unerwartet hielten oder anfuhren. Der Linksverkehr irritierte sie und machte sie leicht schwindelig. An einer Straßenecke entdeckte sie einen alten Pub. Hinter seiner grünen Schwingtür öffnete sich eine Art Speisehalle. Anna rutschte auf einen Barhocker an einem der marmornen, in Messing eingefaßten Tische. Sie bestellte ein Thunfisch-Sandwich, das mit fetten, safrangelben Pommes Frites serviert wurde.
Sie hatte Hunger. Sie begann zu essen. Sie sah in die fülligen Dekolletés sehr junger Frauen, die Bier tranken und nach Make-up rochen. Warum frieren sie nicht? dachte sie. Aber nicht zu frieren schien eine Art Sport der Schönen zu sein. Frieren verbrauche Kalorien, hatte sie einmal in einem Magazin gelesen. Vielleicht ließ sich die Sünde des Nährwerts, die man mit dem Bier beging, so gleich wieder durch Nacktheit abarbeiten. Dann mischten sich Lust und Sühne und Lust.
Vor dem Fenster hatte es zu regnen begonnen. Anna leckte sich die salzigen Fingerspitzen ab und beschloß, ins Hotel zurückzugehen. Es war früher Nachmittag. Sie war jetzt 24 Stunden in der Stadt. Was mache ich hier, dachte sie, als sie wieder in die Schwingtür trat. Aber dann sah sie sich kurz um und durch das bewegte Glas zurück, und für einen Moment fand sie, daß die anderen auch kein größeres Recht darauf hatten, da zu sein.
Der Zimmerservice hatte ihr Bett gemacht. Ihre Zahnbürste steckte soldatisch im Glas, neben der auf den Kopf gestellten Zahnpasta. In der Seifenschale lag das schon einmal aufgeschäumte, nun getrocknete Seifenstück. Es freute sie, daß man die Seife nicht ausgetauscht hatte. Sie hinterließ Spuren.
Anna schlug das Bett auf, rutschte hinein und zog die abgesteppte Tagesdecke mit den rosa Moosrosen über sich. Sie roch Kampfer und Solidität.
Als sie wieder zu sich kam, hörte sie Stimmen vor dem Fenster. Es klang nach der Betriebsamkeit eines Feierabends. Jemand grölte. Es gab Gelächter und Lärm von Motoren. Alles könnte normal sein. Sie stand auf. Mit den Geräuschen gehörte auch sie zu diesem kleinen Alltag in Edinburgh.
Sie suchte nach ihrem Notebook. Sie hatte eine Abwesenheitsnotiz eingerichtet. Wegen einer Recherchereise im Himalaya sei sie für vier Wochen nicht erreichbar. (Die absurdesten Ausreden hatten sich als die glaubwürdigsten erwiesen.) Sie war fest entschlossen, das Mailprogramm nicht zu öffnen.
Der WLAN-Zugang im Hotelzimmer funktionierte. Sie ging auf Bibel-Online und tippte »Jakob Engel Furt« ein. Im Fenster öffnete sich Genesis 32,23:
Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok, nahm sie und führte sie über das Wasser, so daß hinüberkam, was er hatte, und blieb allein zurück.
Anna las die Stelle noch einmal. Sie konnte sich nicht mehr richtig an den Bibeltext erinnern. Da war Jakob, das Oberhaupt der Familie, mit den Seinen unterwegs. Und er bringt sie an die schmale Stelle am Fluß, dahin, wo man das Wasser gut überqueren kann. Er läßt sie hinübergehen, sieht ihnen wohl nach, wie sie so waten und wanken, mit Tieren, Gerätschaft, Zelten. Warum eigentlich nachts? Machten sie das heimlich? Man geht doch besser bei Tageslicht über den Fluß, damit man mögliche Untiefen, Strudel oder Steine gut sieht. Und warum blieb er zurück? Was war so wichtig, daß er im Dunkeln nicht bei den Frauen und Kindern blieb? Wußte er, daß etwas geschehen würde? Hatte er es erwartet?
Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, daß er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.
Wo kam der Mann auf einmal her? Warum kämpfte er mit Jakob? Bestehlen konnte er ihn kaum; er hatte ja nichts mehr bei sich. Was also wollte er?
Er verletzt Jakob, aber Jakob hält ihn fest. Und nun kann sich der Mann nicht befreien. Er, der angefangen hatte mit dem Kampf, muß Jakob bitten, er möge ihn loslassen. Er ist also nicht so stark. Und dann diese seltsame Begründung: denn die Morgenröte bricht an. Ist das ein Vampir? Darf man ihn nicht sehen im kommenden Licht? Anna zog die Beine an. Es dürften wohl zwei oder mehr Geschichten sein, die hier zusammenkamen. Uralte Splitter, die ein letzter Schreiber mutig verband. Und doch war ein wunderbarer Text entstanden. Sie beugte sich wieder über die leuchtende Fläche.
Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.
Und die Antwort Jakobs:
Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Was für eine verrückte Argumentation. Anna fuhr mit der Hand über die rosa Erhebungen und Täler der Steppdecke, als könnten die Fingerspitzen hier etwas ablesen. Ein kurzer Ton signalisierte, daß gerade eine Mail ankam. Sie schaltete die Benachrichtigungsfunktion aus. Sie wollte nicht wissen, wann jemand und wer sie zu erreichen versuchte. Sie war im Himalaya. Sie war auf einer Expedition. Etappe Basislager.
Ich lasse dich nicht.
Auf einmal spürte sie die Melodie der Bachkantate. Sie wußte nicht, wann sie dieses alte Lied das letzte Mal gehört hatte. Sie stand auf und ging ans Fenster. Es war noch nicht spät, aber im trüb-feuchten Wetter dunkelte es vorzeitig. A
Auf dem Bett las sie weiter. Der seltsame Angreifer fragte jetzt:
Wie heißest du?
Mein Gott, war das unlogisch! Da überfällt einer einen anderen, den er nicht kennt und der offensichtlich nichts bei sich hat. Und als ob das nicht schon unplausibel genug wäre, fragt der Angreifer den, der ihn niederringend fast überwältigt ausgerechnet nach seinem Namen!
Jakob.
Und der Mann:
Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.
Schon als Kind, als sie nichts begriff (wie sie auch heute nicht verstand), hatte sie gespürt, daß die beiden füreinander bestimmt waren. Schwach und stark zugleich und abhängig voneinander. Der Angreifer aber hatte die Deutungshoheit. Er war es, der die Magie der Namen beherrschte. Und er verriet den seinen nicht, sagte dem andern aber, wie er von nun an heißen solle. Gotteskämpfer.
Anna klickte den Text weg. Schaltete das Notebook aus. Der Bildschirm wurde hellblau, dann dunkel.
Vielleicht wußte Jakob, daß er kämpfen mußte, alleine am Fluß, um den Segen eines neuen Namens zu bekommen.