1: Siehe dazu die Ausgabe der Société Octave Mirbeau: Paris déshabillé L’Échoppe, Caen 1989.
2: Vgl. Correspondance avec Monet, Le Lérot, Tusson 1990, S. 126.
3: Während zwölf oder dreizehn Jahren von 1872 bis 1884/85 hat er als Privatsekretär auch Dienstbotenaufträge ausgeführt und sich als Journalist »an jeden, der zahlt, verkauft«.
4: Brief an Paul Hervieu vom 20. Juli 1887 (abgedruckt in Band der Correspendance générale, L’Âge d’Homme, Lausanne 2003).
5: Der Held einer der ersten Geschichten von Mirbeau, Un raté (1882), beklagt sich bitter darüber, all seine Rechte an den Romanen und Theaterstücken, die er als »Neger« verfaßt hatte, zu verlieren. Forderte er sie ein, würde er des Diebstahls bezichtigt werden ... (Dieser Text ist im Band II seiner Contes cruels, Les Belles Lettres, Paris 2000, zu finden).
6: Diese dreibändige, viertausendseitige Ausgabe ist bei Buchet/Chastel in Mitherausgeberschaft der Societé Octave Mirbeau (Hrsg. Pierre Michel) erschienen. Die »Negerromane« sind L’Écuyère, La Marchérale, La Belle Madame Le Vassart, Dans la vieille rue, und La Duchesse Ghislaine – alle fünf sind tragische Schicksalsromane.
7: »Littérature infernale«: In L’Événement vom 22. März 1885.
8: Zu dieser Frau, die ihn sehr unglücklich gemacht hat, siehe die Monographie von Pierre Michel, Alice Regnault, épouse Mirbeau, À l’Écart, Reims 1994.
9: Veröffentlicht von Pierre Michel bei Éditions du Limon, Montpellier, 1989 und in Band I der Correspondances générale von Mirbeau.
10: Siehe dazu Contes cruels, Belles Lettres, Paris 2000, Band I, S. 117 ff. (Erstveröffentlichung 1990 bei Séguier, Paris).
11: »triste à mourir«: Brief an Pissarro Ende Januar 1892 (Correspondances avec Camille Pissarro, Le Lérot, Tusson 1990, S. 87).
12: Combats estétiques, Séguier, Paris 1993, Band II, S. 526.
13: Erinnern wir uns, daß es Mirbeau ist, der Vincent van Gogh den ersten Artikel widmet, der in der Publikumspresse am 31. März 1891 erscheint (vgl. dazu die Ausgabe der der Société Octave Mirbeau Dans le ciel, Éditions du Boucher 2003, S. 145) und der gleichzeitig Père Tanguy für 600 Francs und ohne das Wissen seiner geizigen Ehefrau Alice »Iris« (»Die Schwertlilien«) und »Tournesols« (»Die Sonnenblumen«) abkauft, heute zwei der teuersten Gemälde der Welt.
14: Correspondances avec Monet, loc. cit., 1990, S. 50.
15: Siehe dazu Combats esthétiques, loc. cit., 1993, Band II, S. 81–95, 103–106, 153–164 und 178–190.
16: Es ist natürlich kein Zufall, daß Mirbeau das Pseudonym »Nirvana« gewählt hat, um seine erstaunlichen Lettres de l’Inde zu publizieren (veröffentlicht von Pierre Michel in den Èditions de L’Échoppe, Caen 1991).
17: Siehe dazu Combats pour l’enfant (Ivan Davy, Vauchrétien 1990), Combats politiques (loc. cit.), L’Affaire Dreyfus (Séguier, Paris 1991) und L’Amour de la femme vénale (Indigo & Coté Femmes, Paris 1994).
18: »Van Gogh«, L’Écho de Paris, 31. März 1891 (Combats esthétiques, loc. cit., 1990, Band I, S. 443). Siehe dazu die Ausgabe der Société Octave Mirbeau: Dans le ciel, Éditions du Boucher 2003, S. 145 ff.
19: Ebenda.
20: La 628-E8, Octave Mirbeau, Éditions du Boucher der Société Octave Mirbeau 2003, S. 4 (Préface).
Ein Haus auf einer Bergspitze, völlige Einsamkeit, der Blick in den Himmel unverstellt, Stille. Ein Paradies für einen Künstler, ein Rückzugsort. Doch als der anonyme Erzähler seinen Freund Georges dort besucht, findet er ihn völlig verändert und lebensmüde vor.
Zur Erklärung gibt Georges dem Erzähler sein Tagebuch.
Als kränklicher Sonderling wächst Georges auf dem Land auf und erkennt erst in der Bekanntschaft zum selbstbewußten und charismatischen Maler Lucien, daß auch er ein Künstler ist. Gemeinsam leben sie in Paris, doch das der Kunst gewidmete Leben offenbart bald seine Tücken: Ein Wechselspiel zwischen manischer Arbeitswut und lähmender Depression setzt bei Lucien ein. Die Flucht aufs Land – auf eben jene einsame Bergspitze – entpuppt sich als dramatische Fehlentscheidung. Während Georges in Paris gerade erst langsam seine eigene Identität entdeckt, wird Lucien zunehmend unzurechnungsfähig und quält sich mit seiner Einsamkeit und Zweifeln an seinem Werk.
Zurück in Paris stürzt sich Lucien in eine letzte fieberhafte, geradezu wahnsinnige Arbeitsphase, die in einer Katastrophe endet.
Der Maler Lucien ist leicht als Vincent van Gogh zu identifizieren, den Mirbeau gut gekannt hat: Octave Mirbeau war derjenige, der als einziger ein Werk van Goghs zu dessen Lebzeiten gekauft hat.
Octave Mirbeau (1848–1917) war Journalist, Kunstkritiker, Dramatiker und Romanautor. »Diese verdammte Hand« (im französischen Original: »Dans le ciel«) wurde zwischen 1892 und 1893 in der Zeitung »L’Echo de Paris« als Fortsetzungsroman veröffentlicht.
Octave Mirbeau
Diese verdammte Hand
Roman
Aus dem Französischen von Eva Scharenberg
Mit einem Nachwort von Pierre Michel
CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Die Übersetzung folgt dieser Ausgabe des Originals: »Dans le ciel«, erschienen 2003 bei Éditions du Boucher Société Octave Mirbeau, www.leboucher.com. Auch das Nachwort stammt aus dieser Ausgabe. Der Roman wurde zuerst in Fortsetzungen in der Zeitschrift L’Écho de Paris zwischen September 1892 und Mai 1893 publiziert. Wir danken M. Pierre Michel.
Diese Ausgabe ist dem Andenken an den großen Mirbeau-Übersetzer Wieland Grommes (1953–2016) gewidmet.
Printausgabe: © Weidle Verlag 2017
Lektorat: Stefan Weidle
Korrektorat: Kim Keller, Nele Kather
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: März 2017
ISBN 9783959880756
www.culturbooks.de
www.facebook.com/CulturBooks
twitter.com/CulturBooks
plus.google.CulturBooks.com
Gern informieren wir Sie über unsere Neuerscheinungen und aktuelle Aktionen:
CulturBooks/Newsletter
Lange schon hatte ich meinem Freund X versprochen, ihn in seiner Einsamkeit zu besuchen. Indes, jahrein, jahraus hinderten mich die Geschäfte daran, verlockendere Vergnügungen – welch feiger Gleichmut, welche feigen und verlegenen Bedenken auch immer –, mein Versprechen zu erfüllen, zu dem ich mich übrigens nur deshalb halbherzig hatte hinreißen lassen, um einen Freund, der mir einst lieb und teuer gewesen war, nicht durch eine unverblümte Zurückweisung zu kränken. Unglückseliger X! Ach! Ich erinnere mich an frühere Zeiten ... gemeinsame Zeiten ... nüchtern und doch voller Gefühl, ist das nicht eine seltsame und antiliterarische Sache? Unglückseliger X! Welch wackeres und aufrichtiges Naturell! Welche Hingabe! Welch treu ergebene Seele! Gemeinsam hatten wir in Paris unsere ersten Freuden erlebt, unsere ersten Hoffnungen, hatten unseren tiefsten Kummer miteinander geteilt, um ihn in eine gemeinsame Bereicherung zu verkehren. Unsere Freundschaft war anrührend gewesen! Wie weit all das für mich doch zurückliegt! X war es gelungen, sich durch die Schriftstellerei einen Namen zu machen. Er war außergewöhnlich begabt. Doch wahrlich zu empfindsam. Das Leben hatte ihm zugesetzt ... In der Schlacht, die jeden dahinrafft, bleibt keine Zeit, einem lieben Freund zu helfen. Und zudem, wozu? X hatte keinen Ausweg aus seiner verzwickten Lage gefunden. Seine Arglosigkeit hatte mich entmutigt. Je weiter wir nach und nach emporwuchsen, um so mehr beharrte er darauf, bodenständig zu bleiben. Eines Tages erbte er von einem alten Verwandten ein kleines Anwesen in einem fernen Departement.
»Ich glaube«, sagte er zu mir, »ich sollte hinfahren. Ich glaube, die Einsamkeit, die Besinnung ... Nicht wahr? Was hältst du davon? Weite Horizonte ... der weite Himmel!«
»Gut so! Gut so!« antwortete ich. »Ich an deiner Stelle würde hinfahren.«
»Also gut! Ich werde hinfahren.«
»Gut so! Gut so! Auf Wiedersehen.«
Er reiste ab. Das war vor fünfzehn Jahren!
Man vergißt seine Freunde in der Ferne leicht, oder diejenigen, die unglücklich sind ... Trotz seiner flehenden Briefe und meiner Versprechen habe ich diese Reise wieder und wieder aufgeschoben. Auch fürchtete ich, offen gestanden, die ungemütlichen Räume, die tristen Mahlzeiten, das stinkende Dienstmädchen und besonders – oh, ganz besonders – die ausgedehnten Gespräche mit einem Geschöpf, welches meiner Lebensweise so vollkommen entwöhnt war und dessen Gesicht und Kleidung ich mir schmutzig vorstellte, besudelt durch den ländlichen Geist, mit langem Bart, verwahrlostem Haar und noch verwahrlosteren Ansichten und moralischen Gewohnheiten.
Ich wäre gern großzügig, unter der Bedingung jedoch, daß es mich nichts kostet und daß meine Großzügigkeit mir in doppeltem Maße egoistische Befriedigung und eitle Freude beschert. Nun, welche Befriedigung, frage ich Sie? Und wie sollte ich mich vor meinen reizenden Freunden damit rühmen, meine Ferien bei diesem armen Teufel verbracht zu haben?
Der letzte Brief war so drängend, zeugte in seiner krankhaften Zärtlichkeit von so heftigem, so schmerzerfülltem Verlangen nach meinem Besuch, daß ich mir sagte: »Es wird mich schon nicht umbringen. Zwei Tage gehen schnell vorüber«, und mich dazu entschloß, die unerfreuliche Reise anzutreten. Dennoch war ich angesichts der Schwierigkeiten, die daraus entstehen konnten, nicht unbesorgt. Ach! Wie anspruchsvoll Freundschaft doch ist!
* * *
X lebt in einer ehemaligen Abtei, die hoch oben auf einer Bergspitze gelegen ist. Doch weshalb bricht in diesem Land der beschaulichen Ebenen, wo sich der Boden an keiner anderen Stelle ausbeult, diese Bergspitze aus der Erde hervor wie ein riesiger und widersinniger einsamer Kegel? Das bizarre Schicksal meines Freundes mußte ihn durch unerklärliche Ironie in diese sonderbare Landschaft geführt haben, wie schwerlich eine zweite irgendwo zu finden ist. Schon diese Tatsache schien mir ziemlich bitter. Von der Abtei war nur eine Art Haus übriggeblieben, oder eher eine Orangerie, niedrig und lang und unter Louis XIV. an das Haupthaus angebaut, dessen baufällige Mauern allein durch eine dicke Schicht Efeu vor dem Verfall bewahrt wurden. Trotz seiner Verwilderung und des Zustands der Verlassenheit, in den es seinen Besitzer versetzt, ist das Haus mit seinen hohen Fenstern, seiner großen Freitreppe und seinem Mansardendach, das von seltsam grünem Moos geschmückt ist, bezaubernd. Ringsum freie Rasenflächen, wo sich Lindenalleen kreuzen, Beete voll blühender Wildblumen, Zisternen, die sich im Gestrüpp auftun wie tiefe grünliche Augen, Terrassen im Schatten von Laubengängen und großen Bäumen, hohe Baumgruppen, die Kolonnaden gegen den Himmel formen, spitzbogige Wege, prachtvolle Schneisen hinein in die Unendlichkeit. Und man scheint sich in diesem Himmel zu verlieren, in diesen Himmel hineingetragen zu werden, diesen unermeßlich weiten Himmel, bewegt wie ein Meer, diesen phantastischen Himmel, in dem unablässig ungeheuerliche Formen, wirre Tierreiche, unbeschreibliche Pflanzenwelten und Gebilde aus Alpträumen erwachsen, umherschweifen und wieder verblassen ... Um sich diesem großen Himmelstraum zu entreißen, der einen mit stiller Ewigkeit umgibt, um die lebendige und sterbliche Erde wahrzunehmen, muß man an den Rand der Terrassen treten, muß man sich weit über deren Rand beugen. Am Fuße des Gipfels fließt ein durch einen Damm aufgestauter Fluß, der das rauschende Wasser zu Gischt zerfranst. Hier warten zwei Schleusen mit ihren steinernen Becken; zwei Lastkähne sind am Ufer vertäut. Entlang des Treidelpfads verteilen sich einige Häuser, einige Bootshäuser, von denen man nicht viel mehr als die flachen rötlichen Dächer sieht. Und jenseits des Flusses erstrecken sich Ebenen, so weit das Auge reicht, sanft wogende Ebenen, in die sich Dörfer einschmiegen, unschuldig und klein, kaum sichtbar, unförmige Kirchen, kindlich, Kirchen und Dörfer, verloren wie Lerchennester. Am Horizont zeichnen sich Wälder als dünne Striche ab. Doch der Blick steigt nicht die himmlischen Terrassen hinab, nein, er überwindet den schwindelnden Abgrund einfach und erreicht die irdische Landschaft.
* * *
Ach! Welche Freude war es für meinen Freund, als ich keuchend, da ich die Bergspitze, die hoch emporragende Bergspitze bei Sonnenschein erklommen hatte, bei seinem merkwürdigen Anwesen ankam! Und wie er sich verändert hatte! Ein Greis, ein kleiner Greis, mager und krumm, mit ruhelosem Blick, unstet und gequält, wie der Himmel, der sich in seinen Augen spiegelte. Er sah mich lange an, drückte meine Hände, weinte, konnte nur stammeln:
»Ach! Du! ... Du! ... Ich bin froh, ich bin sehr froh ...«
Wir setzten uns auf eine Steinbank, und um die Gefühlsausbrüche meines Freundes, die mich unangenehm zu berühren begannen, im Keim zu ersticken, rief ich:
»Das ist ja ein herrliches Fleckchen hier!«
X nahm meinen Arm und flüsterte nervös:
»Sag das nicht ... nicht hinsehen!«
»Nicht hinsehen?« fragte ich verwundert.
»Der Himmel! Oh, der Himmel! ... Du weißt ja nicht, wie er mich erdrückt, wie er mich zugrunde richtet! Er darf dich nicht auch zugrunde richten.«
Er stand auf.
»Laß uns zur Schleuse hinuntergehen. Wir wollen in einem Gasthaus essen. Ich wünschte, du wärst nicht hierhergekommen ... Ich habe hier niemanden ... Ich habe hier nichts ... Laß uns zum Gasthaus hinuntergehen. Dort sind Menschen, die sprechen, Menschen, die lebendig sind! Hier spricht niemand, ist niemand lebendig. Niemand kommt jemals hierher ... und schuld ist dieser Himmel.«
Und da ich, beunruhigt ob der Worte meines Freundes und seiner geisterhaften Aura, die er während seines abgehackten Sprechens ausgestrahlt hatte, instinktiv zögerte, sagte er:
»Nein ... du kannst es noch nicht verstehen ...«
Dann deutete er mit einer Geste des Entsetzens auf den Himmel und verkündete feierlich:
»Schau, man muß den Himmel ernst nehmen! Laß uns zum Gasthaus hinuntergehen!«
Trotz der kühlen Eigenartigkeit dieses Empfangs, trotz des Zustands der Ermüdung, in dem ich mich nach dieser langen Reise und dem beschwerlichen Aufstieg auf den Berg in der prallen Sonne befand, wagte ich nicht mehr, darauf zu beharren, in diesem reizenden Refugium zu bleiben. Die Augen meines Freundes verrieten eine solch bleierne Qual, solch schmerzhaftes Entsetzen!
»Also gut! Meinetwegen«, sagte ich. »Laß uns zum Gasthaus gehen, wenn du es möchtest.«
»Ja ... ja! So ist es«, rief X. »Ja! Wenn du wüßtest, wie wohl man sich im Gasthaus fühlt ... Es ist ganz schwarz!«
Ich erhob mich und nahm meinen Koffer wieder auf.
»Also gut. Laß uns gehen.«
Im stillen murrte ich und bereute, einem Gefühl aberwitziger Großzügigkeit nachgegeben zu haben, mich so leicht von diesem Gespenst des Mitleids hintergehen zu lassen, diesem beharrlichen Gespenst, welches zur Stunde der Einsamkeit die Tore des Herzens auf bricht, die am wenigsten vor der Liebe gefeit sind. Was konnte mir alles zustoßen mit diesem Wahnsinnigen an meiner Seite? Das Wort »Gasthaus« erweckte in mir Bilder des Verbrechens. Nein, ich war ganz und gar nicht beruhigt. Es schien mir, als liefe ich geradewegs in einen Hinterhalt. Im übrigen wußte ich nichts daüber, wie X die letzten fünfzehn Jahre verbracht hatte. Aus seinen Briefen? Doch wieviel davon war geheuchelt, wieviel gelogen? Ich musterte X, war versucht, ihm gründlich auf den Zahn zu fühlen, eine Erklärung zu suchen, weshalb er sich so eigenartig gebärdete. Beinahe erregte er mein Mitleid. Unter dem Blick des Himmels zitterte er wie ein Hase, der von einem Hund beschnüffelt wird, dessen Neugier er gereizt hat.
»Brechen wir also auf?« fragte ich leicht ungeduldig.
Wir stiegen den Berg wieder hinab.
Die Hänge waren kahl, rutschig, die Steine gerieten unter unseren Füßen ins Rollen. Ein schmaler Ziegenpfad führte um die Bergspitze herum, beschrieb im kurzen und öden Grün enge Serpentinen. Kümmerliches Knabenkraut, zarter gezackter Mohn, magere Kugeldisteln, eine geradezu mickrige und kränkliche Flora gedieh hier und da unter den zähen Kräutern, und schleichende und ausgedörrte Ranken von Brombeerpflanzen wanden sich auf der Erde wie tote Blindschleichen. Je näher wir der Ebene kamen, je weiter die Erde sich in den Himmel aufzubäumen und in ihn überzugehen schien, je mehr die flacher werdende Wölbung des Himmels über unseren Köpfen zurückwich, desto mehr beruhigte sich X, entspannte er sich, seine Physiognomie wurde gewissermaßen wieder menschlicher. Sogar ein Lächeln belebte das scheue Durcheinander seines Bartes. Er sagte mit weicher Stimme:
»Oh! Wie nett, daß du gekommen bist. Bedenke doch, es ist ja so lange her, daß ich jemanden gesehen habe. Und es kommt mir so vor, als hätte ich dir unzählige Dinge zu erzählen ... Dinge, die sich während der letzten fünfzehn Jahre angesammelt haben ... Das macht mich ganz krank ... ich gehe daran zugrunde.«
»Konntest du sie mir dort oben nicht sagen?« fragte ich.
»Dort oben! Nein! ... Nein! Ich kann nicht ... Dort oben ersticke ich, bin ich wie gelähmt, auf dem Kopf spüre ich die Bürde eines ganzen Berges lasten ... Es ist der Himmel, so schwer, so bleischwer! Und dann diese Wolken ... Du hast sie also noch nicht gesehen, diese Wolken? Sie sind leichenblaß, fratzenhaft verzerrt wie das Fieber ... wie der Tod!«
»Du bist krank«, sagte ich.
»Aber nein, ich bin nicht krank. Warum sollte ich krank sein? Die Luft ist rein dort oben. Sie ist durch die Wälder gezogen, durch das Flachland, durch die Filter der Bäume, die Filter der Blumen ... Ich bin ganz allein ... und ganz allein, so unansehnlich ich auch sein mag, kann ich all diese Luft nicht vergiften ... Ich bin nicht krank.«
»So ist es also der Überdruß? Warum bleibst du dann?«
»Wo, meinst du, sollte ich hingehen? Ich habe kein Geld ... Ich habe gerade genug zum Leben. Und im übrigen bin ich dessen nicht überdrüssig, das ist es nicht ... Es ist etwas anderes, siehst du ... ich glaube, ich wäre sehr glücklich, wenn da nicht dieser Himmel wäre. Der Himmel versetzt alle Welt in Schrecken ... Sobald jemand nach dort oben kommt, ergreift ihn der Schwindel ... Ringsherum nichts außer dem Himmel, nichts außer der Leere ... Nie die Erde, nie etwas Festes oder Vertrautes, auf das man seinen Blick richten könnte! Also möchten sie fort ... Ich hatte ein junges Hausmädchen, sie war hübsch ... gelegentlich, du verstehst, hat der Mensch das Bedürfnis ...«
Und da ich lächelte, fügte mein Freund hinzu:
»Nein, nein, du irrst dich ... Ach! Gott, nein! ... Ich spreche davon, das Schöne um einen herum anzusehen, das lebendige Schöne ... das irdische Schöne! Die Augen, der Mund, die Rundung der Taille, die Hände, die sich bewegen, die welligen Haare in der Sonne ... das Rascheln eines Kleides hören, fröhliches Lachen, Worte so sanft wie Gesang! Nun gut, sie ist fort, verscheucht worden von diesem Himmel, verscheucht worden von diesen Wolken ... Und seither wollte keine neue kommen ... Ich hatte auch einen Hund ... Eine ganze Nacht lang hat er gebellt. Am nächsten Morgen, als ich hinunterkam, um nach ihm zu sehen, mit ihm zu sprechen, entdeckte ich, daß er seine Kette zerrissen und daß auch er das Weite gesucht hatte ... Ist es zu glauben, daß es dort oben nicht einen Vogel gibt? Da sind bloß Maulwürfe ... Aber das ist ganz sinnfällig, wahrhaftig! Du verstehst sicher, daß ...«
Der Irrsinn seiner Worte war mir unerträglich. Ich wollte ihn von diesem absurden Thema ablenken.
»Sicherlich arbeitest du?« unterbrach ich ihn. »Du hast damals Talent gehabt!«
»Ich habe ... das heißt ... früher habe ich gearbeitet ... Ich habe meine Eindrücke niedergeschrieben, all meine Gedanken ... Aber was erwartest du? ... Ich habe kein Buch, ich habe niemanden ... ich weiß nichts über die Gegenwart außer dem, was mir die Schiffer erzählen und dem, was ich in den Ausgaben des Petit Journal lese, die auf den Tischen des Gasthauses liegen geblieben sind ...«
»Nun, gerade deshalb ist es gut ... Immerhin ist das, was du geschrieben hast, dein ...«
»Ich fürchte, es ist womöglich etwas bizarr. Wenn du willst, werde ich dir die Seiten geben ... Du solltest sie mitnehmen und lesen ...«
»Und weshalb schreibst du nicht weiter?«
»Ich habe keine Zeit ... keine Zeit mehr. Ich gehe statt dessen morgens zur Schleuse hinunter. Und ich verbringe den Tag damit, an den Quais entlangzuschlendern oder mit den Matrosen zu trinken. Obendrein habe ich etwas Herrliches für mich entdeckt. Wenn ein Fremder bei der Schleuse ankommt, spreche ich ihn an: ›Der Herr kommt zweifellos, um die Abtei zu besichtigen ... Sie ist die einzige Sehenswürdigkeit der Gegend, eine wunderbare Architektur.‹ Und ich lasse ihm keine andere Wahl, als mit mir auf die Bergspitze zu steigen. Doch es kommen sehr wenige Fremde ...«
»Dann bist du auch noch ein Schelm?« fragte ich lachend.
»Aber nein! Ich scherze nicht ... Ich tue das, um Gesellschaft zu haben, ich tue das, um mit jemandem zu plaudern, um etwas zu erfahren ... Allerdings bin ich bis jetzt nur Dummköpfen begegnet, und jeder gab mir dieselbe Antwort: ›Ein überwältigender Ausblick. Aber wie schade, daß es so neblig ist. Man sieht die Dinge nicht recht klar! ‹«
Wir waren am Quai angelangt, der wie ausgestorben war. Auf einem der Lastkähne hängte eine Frau Wäsche auf, ein Mann pumpte, wobei er das Gesicht zu drolligen Grimassen verzog, und man hörte das Wasser gegen den Staudamm brausen.
Wir betraten das einzige Gasthaus. Laute Stimmen, Rauch, der beißende Geruch von Alkohol und sauren Getränken, nach ranziger Butter, nach scharf Frittiertem.
»Komm hier herüber«, sagte X und zupfte mich am Ärmel meines Mantels. Ich fand mich in einem düsteren Zimmer wieder, wo Schiffer beisammensaßen, tranken und rauchten, vor ihnen auf den Tischen Gläser voll Branntwein. Gesichter schwarz von Kohle, speckige Pickel, grobe knotige Hände, die auf die Tische schlugen. Und der Lärm der Faustschläge, das Gläserklirren, wenn sie sich zuprosteten, und die schwerfälligen Stimmen, deren »Verdammt noch mal!« stets anschwoll, erfüllte den Raum.
»Hier läßt es sich aushalten! Nicht wahr?« fragte X, dessen Gesicht vor wiedergefundener Freude strahlte.
Er schien den Gestank dieser Absteige mit wahrer Wollust einzusaugen. Man servierte uns auf einem Klapptisch unsägliche Eintopfgerichte, von denen ich kein einziges anrühren mochte.
»Hier läßt es sich aushalten, nicht wahr?« wiederholte mein Freund, der gierig aß und trank.
Ich mußte ihn an diesem Abend trunken zur Abtei zurückbringen. Sein magerer, kraftloser Körper hing schlaff an meinem Arm.
Ich verbrachte eine grauenhafte Nacht und tat kein Auge zu. Gewaltige gewitterschwere Wolken, die der blasse Mond mit einem Rand säumte, wälzten sich über den Himmel. Sie verursachten eine drückende Hitze, die mir die Lunge verstopfte und mich gequält und keuchend atmen ließ. Der Kopf war schwer, ebenso der Magen, und die Beine zitterten. War es das Fieber? War es der Hunger? Ich hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Die Ohren dröhnten mir vor eigenartigen Geräuschen; ich hörte weit entfernte Glockenschläge und das Summen von Wespen. Und Fanfaren zogen mich mit unbekannten Melodien in ihren Bann. Ich wollte mich nicht ausziehen und streckte mich ganz angekleidet auf dem Bett aus, einem ekelerregenden Bett, dessen Decke und Laken einen schimmligen Geruch ausdünsteten, einen Leichengeruch. Oh, dieses Zimmer! Die schmutzigen nackten Wände mit den gelblichen Salpeterausblühungen und versteckten Nestern schwarzer Insekten und Larven! Zahllose Spinnweben hingen in den Ecken, bauschten sich an den Balken. Hatte ich nicht mit einemmal Eulen und Fledermäuse lautlos über meinen Kopf hinweggleiten sehen? Tatsächlich spürte ich, wie das dumpfe Grauen von Spukhäusern an mir nagte, der namenlose Schrecken meuchlerischer Quartiere. Und der Wind frischte auf, ein zorniger Wind, der bald in der Nacht anhob wie ein Rudel Wölfe auf der Jagd zu heulen. Die Szenerie war vollkommen. Das Haus ächzte, vom First bis zum Sockel geschüttelt, so arg, daß die Mauern um mich herum zu schwanken schienen wie Uhrpendel; zu schlagen und zu wallen wie fließende Draperien. Ich fürchtete mich. Es schien, als drängen durch die Fensterdichtungen, die Risse in den Türen unheilvolle Schreie in diese schummrige Kammer ein; das Johlen von Menschenmengen, das Knurren von Raubtieren, das Lachen von Dämonen, das Röcheln verendender Tiere. Das flackernde Kerzenlicht erweckte an der Zimmerdecke und auf den Wänden fratzenhafte Schatten zum Leben.
Ich stand vom Bett auf und wanderte durch das Zimmer.
»Ich hätte das alles voraussehen müssen«, dachte ich, während ich mir, um das Grauen zu verscheuchen, das sich meiner zu bemächtigen begann, den Kontrast zu meiner Wohnung in Paris ins Gedächtnis rief: so traulich, so still, so voller tröstender und hübscher Dinge ... Ach, welche Torheit die Rührung doch ist! Und welcher Schwindel! Was kümmerte X mich? Er war vollkommen aus meinem Leben getilgt gewesen! Warum nur hatte ich das Bedürfnis gehabt, diesen ungehobelten Barbaren wiederzusehen? Ich erinnerte mich an seine Briefe. »Ich habe Dir so viele Dinge zu erzählen«, hatte er mir geschrieben, »so viele Dinge, die mich ersticken!« Und nun erzählte er mir nichts als Unfug und betrank sich. Das war alles! Man kann noch so lebenstüchtig sein, man geht doch stets wieder dieser Unvernunft ins Netz: dem Gefühl! Und hoffentlich versucht er nicht, sich Geld von mir zu borgen! Er ist womöglich ganz einfach ein abscheulicher Habenichts! ... Geld! ... Ach, nicht doch! ... Und vorhin, als wir den Hügel wieder hinaufgestiegen sind, warum habe ich ihn auf dem Gipfel nicht abrutschen lassen?
Dieses Bild des armen Teufels, der den steilen Hang hinunterstürzt, dem es den Schädel zerschlägt und die Glieder unten auf den Felsen entzweireißt, erregte in mir keinen Widerwillen.
»Das wäre besser für ihn«, dachte ich, als wäre es ganz natürlich. Da ist zweifellos niemand, der etwas für ihn übrig hat. Nicht die Schiffer der Erde und auch nicht die Maulwürfe des Himmels hätten sich beschwert ... Wenn man sich einmal diesem Zustand der Umnachtung und der Verwahrlosung hingegeben hat, ist es besser zu sterben. Was soll aus ihm werden? Man wird ihn eines schönen Morgens finden, von den Spinnen und den Ratten zerfressen! Nein, wahrhaftig, ich hätte ihm damit einen guten Dienst erwiesen.