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Buch

Nach einigen Jahren in London kehrt Lucy Briar wieder nach Melbourne zurück. Sie möchte ein ruhiges Leben führen, doch als ihr Vater Ron einen Unfall hat, holt sie ihre Vergangenheit ein. Lucys Vater bittet sie, in Bitterwood Park, dem mittlerweile halb verfallenen Anwesen der Familie, nach einem alten Fotoalbum zu suchen. Mit Bitterwood verbindet Lucy böse Erinnerungen und düstere Träume, die sie seit ihrer Kindheit quälen. Auf der Suche nach dem Album entdeckt sie schließlich ein schreck­liches Geheimnis. Und sie muss sich endlich ihren Dämonen stellen …

Weitere Informationen zu Anna Romer sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Anna Romer

Der Schattengarten

Roman

Aus dem Englischen
von pociao und Roberto de Hollanda

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Copyright © der Originalausgabe 2016 by Anna Romer
Published by Arrangement with Anna Romer
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Redaktion: Marion Voigt
BH · Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-21237-7
V002
www.goldmann-verlag.de
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Meiner Mum Jeanette
für deine Weisheit und Güte
und weil du immer an mich geglaubt hast

Die Höhle, vor der du dich fürchtest,
enthält den Schatz, den du suchst.

Joseph Campbell

Ein schlaues Mädchen mit goldenem Haar. Rötlich braune Sommersprossen tanzten auf ihren Wangen, und ihre aufmerksamen Augen waren so dunkel wie der wilde Seetang, der jenseits des Ufers wuchs.

»In einer Muschelschale gefunden«, behauptete der Fischer.

Die Königin presste die Hände aneinander, damit sie aufhörten zu zittern. Ein Kind war an den Strand gespült worden, ganz allein auf der Welt. Es brauchte eine Mutter, und sie, die Königin, hatte leere Arme und ein Herz, das sich nach Erfüllung sehnte.

DIE MUSCHELKÖNIGIN

1

Bitterwood, 1931

Unendlich vorsichtig hob er sie hoch und stolperte durch das dunkle Haus hinaus in den Garten. Sie war so leicht, als wäre ihre lebende Seele das Einzige gewesen, das ihr Gewicht verlieh.

Mit schweren Schritten stapfte er über den Rasen, den Hang hinab zum Obstgarten, an den weißen Maulbeerbäumen vorbei, die sie so geliebt hatte. In der sternenlosen Nacht wirkten die dunklen Schatten des Gartens besonders unheimlich. Als er zu der Senke kam, wo das Eishaus unter dem vielen Laub kaum zu erkennen war, blieb er atemlos stehen.

Er sog die Nachtluft ein und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Dann drückte er sie fest an sich und wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen, wünschte … Doch nein, er durfte nicht daran denken, was er getan hatte. Später, in der verstaubten Stille seines Zimmers, inmitten seiner Bücher und vertrauten Gegenstände, könnte er zusammenbrechen. Aber nicht jetzt, nicht hier …

Die Bäume um ihn herum verschwammen; der eisige Seewind blies ihm ins Gesicht. Er drückte die Lippen auf ihre Stirn, eine vertraute, tröst­liche Geste – doch die Kälte ihrer Haut, die feuchte Schicht aus Schweiß und Blut und die vage, dunkle Ausdünstung des Todes führten ihm die Realität schlagartig wieder vor Augen.

Er hatte sie verloren.

Der Dreh- und Angelpunkt, der die Fragmente seiner Welt zusammengehalten hatte, der einzige Lichtblick in seinem eintönigen Leben, war nicht mehr. Es war seine Schuld. Er hatte versucht, sie im Käfig seiner Liebe einzusperren, und sie dabei erstickt. Er hatte versucht, sie zu beschützen und ihr das Leben zu geben, das er sich für sie ausgemalt hatte. Ein gutes Leben. Stattdessen hatte er ihr die Flügel gestutzt und ihr alles genommen, was sie liebte.

Niemand konnte es wissen. Sollte ihn jemand fragen, würde er sagen, sie sei zu ihrer Familie zurückgekehrt. Zu ihrem alten Leben, das sie geführt hatte, ehe sie ihn kennenlernte. Einem Leben, das er immer aus tiefstem Herzen gehasst hatte …

Ein leises Murmeln driftete durch die Dunkelheit. Sein Atem wurde schneller, als er ihr blasses Gesicht im Mondlicht musterte. Schatten tanzten über ihre Gesichtszüge und spielten seinem Verstand einen Streich. Er flehte um ein Zeichen – ein anderes Murmeln, eine geflüsterte Vergebung, den Hauch seines Namens. Nicht dass er es hätte hören können, der Herzschlag in seinen Ohren war viel zu laut. Minuten verstrichen. Ohren und Augen schmerzten, so angespannt wartete er, und trotzdem war er wie gelähmt. Wieder hörte er das Geräusch, dieses Mal deut­licher. Doch die Hoffnung schwand. Es war nicht ihr Atem, nicht ihr Flüstern, bloß das Rauschen der Blätter über dem Backsteinweg des Obstgartens.

Erneut presste er sie an sich und zwang seine gefühllosen Beine, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Langsam bahnte er sich einen Weg durch die Dunkelheit bis zum Eishaus.

»Gleich bist du in Sicherheit, Liebling. Und ich werde immer da sein und dich beschützen.«

Der Schlüssel war in seiner Tasche. Er nahm ihn heraus und schaffte es irgendwie, ihn ins Schloss zu stecken. Ächzend gab die Tür den Weg frei in eine noch tiefere Dunkelheit. Ein klammer Luftstrom schlug ihm entgegen, es roch nach Erde und Gestein, nach Luft, die seit vielen Jahren ungestört geblieben war und nach dieser Nacht erneut viele Jahre ungestört bleiben würde.

2

Melbourne, Juni 1993

Der Winter hatte früh eingesetzt. Es war erst fünf Uhr nachmittags, und schon hatte sich der nächt­liche Himmel wieder über die Stadt gesenkt. Die Straßenbahnen ratterten kreischend über die Kreuzungen und wirbelten leere Chipstüten und Staub auf. Die Luft roch nach Dieselabgasen und schwach nach Meer.

Während die Straßenlaternen auf der Dandenong Road aufflackerten, lief ich über den Bürgersteig in Richtung Astor Theatre. Auf dem Programm standen zwei Hitchcock-Filme. Fenster zum Hof hatte ich schon unzählige Male gesehen, anders als Cocktail für eine Leiche. Die Kritik hielt den Film für sein Meisterwerk, und ich konnte es kaum erwarten, ihn zu erleben.

Ganz am Ende der Schlange vor dem Eingang stand ein kleiner, etwa sechzigjähriger Mann mit schütterem Haar und struppigem Bart. Er trug Jeans, eine Wolljacke und hatte eine abgewetzte Aktentasche unter dem Arm. Seine Ohren waren gerötet von der kalten Abendluft. Am liebsten wäre ich auf ihn zugelaufen und hätte mich ihm in die Arme geworfen, um seine runden Bäckchen mit Küssen zu überschütten, so wie ich es als Kind immer gemacht hatte. Stattdessen schlich ich mich von hinten an und tippte ihm auf die Schulter.

Er drehte sich um und strahlte mich an, verzog dann aber gleich wieder das Gesicht. »Lucy, du siehst ja furchtbar aus.«

Ich umarmte ihn hastig. »Danke, Dad. Ich finde es auch schön, dich wiederzusehen.«

Er starrte mich an. »Hast du nicht geschlafen?«

»Es ist nur der Jetlag. Morgen geht es wieder besser.«

»Und Adam?«

Ich versuchte, fröhlich zu wirken. »Er hat gestern Abend angerufen, es geht ihm gut.«

»Hat er es sich inzwischen anders überlegt und kommt doch noch nach?«

Ich warf einen Blick über die Straße und zwang mich zu lächeln. »Er hat zu viel zu tun, sonst wäre er hier. Keine Bange, er will dich nach wie vor unbedingt kennenlernen.«

Dad schüttelte den Kopf und seufzte. »Wieso habe ich dann das Gefühl, dass du mir nicht die ganze Wahrheit sagst?«

Ich vergrub die Hände in den Taschen und dachte an den Brief. Seit ich ihn einen Monat zuvor in London erhalten hatte, ging er mir nicht aus dem Kopf. Es war mehr eine kryptische Botschaft, hastig hingekritzelt in der zittrigen Handschrift meines Großvaters. Ich habe etwas für dich, hatte er geschrieben. Es wird alles erklären, aber ich kann es dir nicht mit der Post schicken … Besteht die Möglichkeit eines Besuchs?

Doch jetzt war nicht der richtige Augenblick, meinem Vater davon zu erzählen. Es gäbe nur Streit, und er würde versuchen, mich davon abzuhalten, den alten Mann zu besuchen. Deshalb beschloss ich, ihm erst später davon zu erzählen, nachdem ich bei meinem Großvater gewesen war und mehr über dieses rätselhafte Etwas in Erfahrung gebracht hatte.

»Du vermisst ihn bereits, stimmt’s?«, fragte Dad.

Da wurde mir bewusst, dass er immer noch von Adam sprach. »Hmmm«, antwortete ich unverbindlich und hakte mich bei ihm ein, während wir in der Schlange vorrückten. »Ganz schön voll, hoffentlich kriegen wir noch gute Plätze.«

Dad kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Geht es dir wirklich gut?«

»Hör auf damit.« Im gleichen Augenblick bereute ich meine Grobheit und fragte versöhnlich: »Was macht das neue Buch?«

Dads Gesicht hellte sich auf. Er zog einen Stapel Papier aus der Aktentasche und reichte ihn mir. »Fertig, endlich. Ich habe heute den ganzen Tag die Ohren vor Wilmas Nörgelei verschlossen und den Schluss geschrieben. Hoffentlich gefällt es dir.«

»Wow, Dad.« Sowohl der Brief als auch Adam waren vergessen, als ich in dem Manuskript blätterte. Plötzlich sehnte ich mich danach, wieder zu Hause zu sein, mit einem heißen Tee in meinem gemüt­lichen Sessel zu sitzen und in die neue fantastische Welt einzutauchen, die mein Vater erschaffen hatte. »Lass mich raten? Rumpelstilzchen?«

Dad nickte, während er seine Aktentasche wieder verschloss. »Ich konnte der Verlockung, ihn zum Helden zu machen, einfach nicht widerstehen. Im Original hat man ihm ziemlich übel mitgespielt. Er steht einer jungen Dame in Not bei, und anschließend verweigert man ihm den Lohn.«

»Na ja, immerhin verlangte er ihr erstgeborenes Kind«, entgegnete ich.

Dad schüttelte den Kopf. »Eine Abmachung ist eine Abmachung, Luce. Wenn man nicht verlieren kann, darf man nicht spielen.«

»Immer beschäftigst du dich mit der düsteren Seite der Geschichte!«

Mit funkelnden Augen kratzte er sich den Bart. »Die Außenseiter ziehen immer den Kürzeren. Die sogenannten bösen Stiefmütter, die Hexen, die Trolle unter der Brücke – dabei tun sie nur das, was sie für das Beste halten. Kannst du mir verraten, warum die Bösen immer so missverstanden werden?«

»Hm.« Ich unterdrückte ein Lächeln. »Vielleicht, weil sie tatsächlich böse sind?«

Dads runde Wangen glühten. »In der eigenen Geschichte ist man immer der Held, sogar wenn man ein Schlitzohr ist. Jeder kämpft, um im Leben voranzukommen und ein Stück vom Glück abzukriegen, so wie alle anderen auch.«

Ich musste grinsen, während wir die Treppen des Kinos zum Foyer hinaufstiegen. Ich hatte unsere Gespräche vermisst. London lag am anderen Ende der Welt, und obwohl wir fast jede Woche telefonierten, hatte die physische Entfernung die feinen Risse in unserer Verbundenheit aufs Neue zum Vorschein gebracht.

Ich drückte das Manuskript an die Brust. »Es ist gut, wieder hier zu sein.«

Dad drückte mir leicht die Schulter. »Ohne dich ist alles anders, mein Kind. Ich bin froh, dich wieder hier zu haben, aber ein Monat ist schnell vorbei. Ich wünschte mir, ihr beiden, Adam und du, würdet endlich nach Hause kommen.«

»Adam ist in London zu Hause, Dad.«

»Aber du nicht.«

»Jetzt schon«, murmelte ich. Und bereute sofort, wie trostlos sich meine Worte angehört hatten. Dad schien etwas einwenden zu wollen, doch dann schob sich die Schlange auf den Schalter zu, und zu meiner Erleichterung war der Augenblick verpasst. Unser seltsames kleines Schweigen erinnerte mich daran, dass es zwischen uns nicht immer so einträchtig zugegangen war. Es gab Themen, um die wir nach wie vor einen weiten Bogen machten – meinen Großvater zum Beispiel –, und über meinen Entschluss, nach London zu ziehen, stritten wir uns bis heute. Ansonsten waren wir dank Dads Büchern ein Herz und eine Seele. Sein Verleger vermarktete sie als Jugendbücher, aber er hatte Fans in allen Altersgruppen, von fünf bis fünfundneunzig. Er schrieb Märchen um und stellte die Klassiker auf den Kopf. Ein böses Däumelinchen schlich sich in die Ohren von kleinen Jungs und setzte ihnen allerlei Flausen in den Kopf, ein netter Blaubart versteckte sich vor seinen herrschsüchtigen Frauen im Keller, aus Rotkäppchen wurde ein Bösewicht, der seine Gestalt änderte. Ich liebte Dads chaotische Welt und war am glücklichsten, wenn ich seine verqueren Märchen mit Feder und Tinte zum Leben erwecken durfte.

Seit fast einem Jahrzehnt waren wir ein Team, seit ich siebzehn geworden war. Eines Tages hatte ich nach einem unserer üb­lichen Streits eines seiner Manuskripte mit wütenden kleinen Zeichnungen verunstaltet. Als er sie entdeckte, fing er erst an zu kichern und brach schließlich in lautes Gelächter aus.

»Nicht zu fassen«, staunte er und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Verdammt noch mal, Lucy, du hast den Ausdruck des Scheusals exakt getroffen! Das ist zum Brüllen komisch! Und hier – das kraftlose Kinn des Prinzen, perfekt!«

Ein paar Wochen später rief sein Verleger an und wollte eine Auswahl meiner Zeichnungen sehen. Ich hatte einige aus dem Kunstunterricht in der Schule und andere, die ich an den Rand meiner Schulbücher gekritzelt hatte. Zu meiner Überraschung fand er sie großartig. Als Dads nächstes Buch veröffentlicht wurde, waren die Heerscharen seiner jungen Fans begeistert von den farbigen Illustrationen. Es verkaufte sich so gut, dass sein Verleger mich beauftragte, Dads frühere Bücher ebenfalls zu illustrieren. Über Nacht waren wir beide ein Team geworden. Zum ersten Mal seit Jahren hatten wir etwas Gemeinsames. Die Streitereien ließen nach, unser Schweigen wich Diskussionen über Skizzen der jeweiligen Figuren und Farbpaletten. Offenbar sah mich Dad plötzlich mit anderen Augen.

Wir kauften unsere Eintrittskarten und gingen die große Treppe hinauf. Wir waren früh dran. Der erste Streifen fing erst in zwanzig Minuten an. Also hatten wir noch Zeit, uns etwas zu knabbern zu kaufen und einen guten Platz auszusuchen.

»O je«, flüsterte Dad, als wir den oberen Teil des Foyers erreichten. »Das riecht nach Ärger.«

Ich folgte seinem Blick. Zuerst erkannte ich den gut aussehenden jungen Mann auf der anderen Seite der runden Ba­lustrade gar nicht. Er stand in einer Gruppe unter dem Kronleuchter, und als er sich zu einem seiner Begleiter um­­wandte, fiel das Licht auf eine Hälfte seines Gesichts.

Mein Magen verknotete sich. Coby Roseblade hatte in den letzten fünf Jahren zugenommen. Seine chronische Magerkeit war verschwunden, offensichtlich trieb er inzwischen auch Sport. Der eng anliegende Pullover überließ der Fantasie gerade noch so viel, dass jedem heißblütigen Mädchen das Wasser im Mund zusammengeflossen wäre. Er trug das Haar sehr kurz, sodass die hohen Wangenknochen und das kantige Kinn umso stärker hervortraten.

»Was macht denn der hier?«, fragte Dad.

Ich schluckte. »Na, was wohl, wahrscheinlich will er sich den Film ansehen.«

»Tut mir leid, Luce. Wenn ich gewusst hätte, dass er ein Hitchcock-Fan ist, hätte ich dir heute Abend etwas anderes vorgeschlagen. Sollen wir lieber gehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Irgendwann wäre ich ihm ohnehin über den Weg gelaufen. Er war nicht der Grund, weshalb ich fort bin, wie du weißt.«

Dad warf mir einen skeptischen Blick zu. »Dir ist hoffentlich klar, dass ich ihn begrüßen muss.«

»Ja, es wäre unhöflich, es nicht zu tun.«

»Kommst du mit?«

»Eigentlich …« Ich blickte mich auf der Suche nach einem Vorwand um. Dann sah ich die Schlange vor dem Kiosk. Ich zog mein Portemonnaie aus der Tasche und zwang mich zu einem strahlenden Lächeln. »Ich hole uns noch schnell ein Eis, bevor sie alle weg sind.«

Dad sah mich an. Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Und da Wilma nicht hier ist, kannst du gleich noch eine Packung Chips mitbringen.«

Eine Ewigkeit stand ich in der Schlange vor dem Stand, kämpfte gegen die Schmetterlinge in meinem Bauch an und vermied es, zu der Gruppe unter dem Kronleuchter hinüberzuschielen. Mein Blick wanderte nicht dahin, meine Gedanken schon. Als Coby Roseblade zum ersten Mal erklärt hatte, dass er mich heiraten wolle, waren wir neun. Er war ein dünnes sommersprossiges Pflegekind, sehr unsicher und auf der Suche nach einem Kumpel. Ich hatte die Achseln gezuckt und erwidert: »Klar, warum nicht?« Als er mich vor fünf Jahren erneut fragte, war ich einundzwanzig und drückte meine Gefühle auf die einzige Art aus, die mir einfiel: indem ich meine Sachen packte und ohne Erklärung in die nächstbeste Maschine nach London stieg.

Jetzt nahm ich die Chips und das Eis und entdeckte er­­leichtert, dass mein Vater an unseren Platz nahe der Treppe zurückgekehrt war. Im gleichen Moment lief mir eine Frau über den Weg. Eine große, hübsche Frau mit glattem schwarzem Haar und den blauesten Augen, die ich je gesehen hatte. Sie blieb abrupt vor mir stehen und verbarg ihren Schock hinter einem Lächeln.

»Hey, Lucy.«

Mir drehte sich der Magen um. »Nina.«

Sie sah blendend aus, hatte rosige Wangen und volle dunkelrote Lippen. Sie war schon immer umwerfend gewesen, aber in den fünf Jahren, die ich sie nicht gesehen hatte, hatte sie sich in eine Göttin verwandelt.

»Ich hatte gehofft, dass wir uns begegnen würden«, sagte sie warm. »Wie lange bleibst du?«

»Nur ein paar Wochen. Ich passe auf das Haus einer Freundin von Dad auf.«

Ihre Grübchen vertieften sich, als sie lächelte. »Du wirst heiraten, nicht?«, sagte sie mit einem heiseren kleinen Lachen. »Wer hätte das gedacht?«

Ich ertappte mich dabei, dass ich ihr Lächeln erwiderte. »Ich jedenfalls am allerwenigsten.«

»Ich brenne darauf, ihn kennenzulernen. Adam, stimmt’s?« Sie warf einen Blick über meine Schulter. »Ist er hier?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, er ist noch in London. Er arbeitet für Amnesty, ein Fulltimejob.«

»Schade. Scheint ein interessanter Typ zu sein.«

Ich trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Dad hat mir erzählt, dass du dich endlich selbstständig gemacht hast. Wie läuft es denn?«

Sie verdrehte die Augen. »Erinnere mich daran, nie wieder ein Geschäft zu gründen, wenn das Land gerade Pleite macht. Der Anfang war ziemlich holperig, aber allmählich geht es aufwärts. Gott sei Dank.«

»Ich wünschte, ich könnte nähen. Deine Kleider sind wunderbar. Du wirst es bestimmt schaffen.«

Sie schien verblüfft zu sein, ihre Augen glänzten plötzlich. Einen Augenblick standen wir da, als wüssten wir nicht, wie wir weitermachen sollten. Dann fasste ich mir ein Herz.

»Und wie läuft es mit Coby?«

Nina zögerte, doch dann rümpfte sie lächelnd die Nase. Bei jedem anderen hätte die Geste albern gewirkt, aber Nina Gilbert, meine ehemals beste Freundin, schaffte es, damit noch hinreißender auszusehen. »Besser als je zuvor. Er ist in Morgans Fußstapfen getreten und macht an der Uni seinen Abschluss in Geschichte. Ich bin echt stolz auf ihn.« Es folgte eine kurze pein­liche Stille, dann beugte sie sich zu mir und fragte leise: »Findest du es merkwürdig? Du weißt schon, wir kamen zusammen, kurz nachdem du verschwunden bist.«

»Vielleicht ein bisschen.« Ich seufzte. »Nein, überhaupt nicht. Es ist überhaupt nicht merkwürdig. Coby und ich waren nie ein Paar, das weißt du ja. Außerdem war ich die­jenige, die weggelaufen ist.«

Sie strich mir mit dem Finger über den Arm. »Jedenfalls vermisst er dich, Luce. Und Morgan auch.«

Plötzlich erstarrte ich und trat einen Schritt zurück. Ein Schatten zog über Ninas schönes Gesicht. Sie lächelte so traurig, dass es mir fast das Herz brach. Ich hatte nicht so zurückweichen wollen, als sie seinen Namen erwähnte. Morgan, dachte ich bitter. Cobys Pflegevater. Der Mann, der am Ende zwischen uns gestanden hatte. Ich spürte einen kalten Schauer und rieb mir den Arm. An meiner übereilten Abreise nach London war er nicht ganz unschuldig gewesen, auch wenn er sie nicht absichtlich herbeigeführt hatte.

Plötzlich wollte ich Nina alles erzählen. Ihr den wahren Grund verraten, weshalb ich weggegangen und so lange weggeblieben war. Warum ich Coby und sie verlassen hatte, obwohl sie meine besten Freunde gewesen waren. Um ein Haar hätte ich sie an der Hand genommen, sie nach draußen an die kalte Luft geführt und die ganze traurige Geschichte vor ihr ausgebreitet.

»Und wie geht es dir?«, fragte ich stattdessen.

Sie strahlte mich an. »Großartig. Unglaublich gut.« Schützend legte sie die Hand auf ihren Bauch, und mein Blick folgte ihr. Sie hatte zugenommen, wie mir jetzt auffiel, hatte die Grenze zwischen sexy Kurven und Fülle ein kleines bisschen überschritten. Und während ich mir ihr erlesenes saphirblaues Kleid ansah, das sich eng um ihre verführerische Figur schmiegte, bemerkte ich, wie sich die Falten vom Oberteil weg über ihrem Bauch spannten … einem ziemlich angeschwollenen Bauch.

»Oh«, platzte ich heraus.

Nina errötete, doch es war nicht das kräftige Rot, das mich normalerweise überflutete, sondern ein zartes Rosa, das über ihre Wangenknochen tanzte.

»Ja, wer hätte das gedacht? Dass ich ein Baby erwarte, verrückt, was? Es ist ein kleines Mädchen«, fügte sie aufgeregt hinzu. Sie streichelte ihren Bauch und strahlte mich an.

»Wir sind so glücklich! Ich kann es kaum erwarten, sie in den Armen zu halten. Verstehst du das? Und Coby ist außer sich, er …«

Dann riss sie sich zusammen und verzog den Mund zu einem Lächeln, das besagte, uff, jetzt bin ich wohl ins Fettnäpfchen getreten, was?

»Coby wollte schon immer Kinder haben«, sagte ich leise.

»Ja, am besten gleich haufenweise«, stimmte sie mit großen Augen zu. Dann setzte sie wehmütig hinzu: »Familie bedeutet für ihn Sicherheit. Wenn man neun Jahre im Heim war, ist das kein Wunder.«

»Er wird ein großartiger Vater sein.«

Nina nahm meine Hand. »Ach, Lucy, es tut so gut, dich zu sehen.«

Ich drückte ihre Hand. »Geht mir umgekehrt auch so.«

Dann zog sie eine Grimasse. »Ich muss mal, und zwar dringend. Aber würdest du mir was versprechen?«

»Was denn?«

»Kommst du mich besuchen? Bitte.«

»Klar doch.«

»Wie wäre es am Sonntagabend zum Curry bei uns? Was meinst du?«

»Klingt gut. Deine Currys haben mir echt gefehlt.«

»Prima! Um sechs? Wir essen früh. Lucy, es ist so schön, dich zu sehen. Ich kann es kaum erwarten, dass du mir alles über deine Abenteuer erzählst. Und über Adam«, fügte sie mit funkelnden Augen hinzu. Sie beugte sich vor, küsste mich sanft auf die Wange und verschwand hastig. Die Menschen machten Platz, um sie durchzulassen, und sahen ihr bewundernd nach.

Irgendetwas Klebriges rann über meine Hand – ich hatte das Eis vergessen. Während ich einen Bogen um eine dicht gedrängte Gruppe machte, um zur Balustrade zurückzugehen, wo Dad wartete, warf ich einen verstohlenen Blick in Richtung Kronleuchter. Coby nickte, eine vorsichtige Geste, um zu zeigen, dass er mich gesehen hatte. Ich winkte ihm zu und eilte zu Dad hin.

»Du bist ja ganz blass«, sagte er, als ich ihm sein Eis reichte. »Wie geht es Nina?«

»Sie ist schwanger.« Meine Worte klangen steifer als beabsichtigt. »Wahrscheinlich war dir das vorübergehend entfallen.«

Dad zuckte zusammen. »Tut mir leid, Kind. Ich hatte Angst, dass du erneut das Weite suchen würdest, wenn du es erfährst.«

Ich seufzte. »Schon gut, Dad. Coby und ich waren nie wirklich ein Paar … Er glaubte es, aber so war es nicht, verstehst du?«

»Ich weiß nur, dass es ihm verdammt schlecht ging, nachdem du dich sozusagen unerlaubt von der Truppe entfernt hattest. Morgan erzählte, dass er sich ein halbes Jahr im Zimmer eingeschlossen und Metallica gehört hat.«

Meine Wangen brannten. Mir war heiß, und ich fühlte mich wieder schwach. Ich riss das Zellophanpapier von dem Eis, biss in die harte Schokoladenkruste und verschlang die kalte Süße mit wenigen Bissen. Der Zucker gab mir neue Energie.

»Nina möchte, dass ich sie besuche«, erzählte ich Dad.

»Das solltest du auch tun, sie hat dich sehr vermisst, weißt du?«

Ich beschäftigte mich angestrengt mit dem Rest meiner Eiswaffel.

Dad kniff die Augen zusammen. »Was ist denn heute mit dir los? Normalerweise wartest du, bis der Film anfängt, ehe du dein Eis überhaupt auspackst.«

Ich knüllte das Zellophan zusammen und seufzte. »Ich hatte Hunger.«

Dad nahm mir die Papierreste ab, reichte mir sein Taschentuch und sah sich nach einem Mülleimer um. Als er zurückkam, musterte er mich.

»Du wirst es nicht hören wollen, trotzdem muss ich dich fragen. Bist du auch sicher, dass du nichts überstürzt? Ich meine deine Hochzeit. Du bist erst sechsundzwanzig und hast noch das ganze Leben vor dir.«

Ich sah ihn finster an. »Was soll dieses plötz­liche Verhör?«

»Du bist nicht ganz du selbst. Und das liegt nicht am Jetlag. Hast du vielleicht kalte Füße bekommen?«

»Warum sollte ich? Adam ist ein wirklich netter Typ.« Ich wischte mir die Hände an seinem Taschentuch ab und gab es ihm zurück. »Er hat alle Bücher von dir. Du wirst ihn mögen.«

Dad seufzte. »Ja, bestimmt.«

Ich warf einen Blick auf den hellen Fleck unter dem Kronleuchter. Coby, Nina und ihre Freunde waren weitergezogen. Meine Begegnung mit Nina hatte mir das Gefühl gegeben, etwas Verlorenes wiedergefunden zu haben, und jetzt war es erneut verschwunden. Ich drehte den Ring an meinem Finger, Adams Ring. Meine Haut hatte den klobigen Diamanten erhitzt. Ich war Coby viel ähn­licher, als ich es wahrhaben wollte. Sein Verlangen nach Sicherheit konnte ich gut verstehen. Auch ich sehnte mich nach einem sicheren Hafen, einem Ort, an dem ich meinen Anker auswerfen und gelassen durchs Leben driften konnte, in der Gewissheit, gegen alle mög­lichen Stürme gewappnet zu sein. Adam mit seinem leisen Humor und seiner sanften Stärke war mein Hafen. Was uns verband, war keine wilde Leidenschaft, kein Sturm, der mich vom Kurs hätte abbringen können, sondern eine stabile Allianz, die auf Loyalität und Respekt basierte. Mir genügte das.

»Habe ich dir schon von Morgan erzählt?«, fragte Dad plötzlich.

Ich warf ihm einen alarmierten Blick zu. »Hm … nein.«

»Gwen und er haben sich endlich scheiden lassen.«

Mein Herz schlug schneller, dann wurde mir leicht schwindelig. Ich versuchte, mich auf Dads Gesicht zu konzentrieren und mir nichts anmerken zu lassen.

»Wie schade! Sie waren seit einer Ewigkeit verheiratet.«

»Fast zwei Jahrzehnte«, stimmte mir Dad zu. »Sie sind immer noch gute Freunde, auch wenn Gwen nun mit ihrer neuen Liebe in Canberra lebt.« Dann fügte er wehmütig hinzu: »Komisch, wie sich die Dinge entwickeln, nicht?«

»Was meinst du?«

»Gwen und Morgan waren gute Freunde, aber wirklich gefunkt hat es zwischen ihnen nie.«

Ich fragte mich, ob er meine Gedanken gelesen hatte, und spürte, wie sich mein Abwehrmechanismus zu Wort meldete. »Und was ist daran so schlecht? Leidenschaft wird oft überbewertet. Dabei ist sie nie von Dauer.«

Dad blickte mich an. »Du bist immer aufgeblüht, wenn Morgan ins Zimmer kam, weißt du das noch?«

Ich warf ihm einen warnenden Blick zu. »Da war ich noch ein Kind.«

»Verrückt, was? Dass sich Coby in dich verliebte, obwohl dir doch eigentlich immer nur sein Vater gefallen hat.«

»Sein Pflegevater. Und außerdem gefiel er mir nicht wirklich. Es war reine Schwärmerei.«

Dad kratzte sich den Bart und lächelte. »Zwischen dir und Morgan bestand immer eine große Anziehung. Als Kind hast du ihn angehimmelt. Dann wurdest du erwachsen, und ich erinnere mich vage, dass du in ihn verknallt warst. Aber heutzutage redest du kaum noch ein Wort mit ihm. Was ist da eigentlich passiert?«

Meine Worte klangen härter als beabsichtigt. »Ich bin erwachsen geworden.«

»Habe ich dir erzählt, dass er Wilma im Geschichtsverein hilft? Er hat die Fotosammlung restauriert, all die Fotos aus dem Krieg. Das hat er wirklich gut gemacht und dann auch noch Vergrößerungen für die Auktion des Roten Kreuzes angefertigt. Es war ein voller Erfolg.«

»Toll«, murmelte ich.

»Er hat auch die Aufnahme von deiner Mutter vergrößert, die aus dem letzten Sommer unter dem großen alten Baum, in … na ja, du weißt schon.« Und dann setzte er fast unhörbar hinzu: »Schade, dass ich bislang noch nicht dazu gekommen bin, sie zu rahmen.«

Die Bitterkeit in seinem Blick überrumpelte mich. Er tat sein Bestes, sagte ich mir. Meine Mutter Karen war seine große Liebe gewesen. Sechzehn Jahre waren vergangen, seit wir sie verloren hatten, doch mir kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen. Dad fiel nach ihrem Tod in eine tiefe Depression, die Trauer wurde zu seiner ständigen Begleiterin und ließ ihn nicht los. In meinen frühen Teenagerjahren schlich ich auf Zehenspitzen um ihn herum, versuchte, ihn aufzuheitern, und verbarrikadierte mich in meinem Zimmer, wenn er aus Wut und Verzweiflung Zuflucht bei einer Weinflasche suchte. Jahre nach einem Zusammenbruch, der ihn ins Banksia House gebracht hatte, betrat Wilma die Bühne, und alles änderte sich. Wir rauften uns zusammen und wurden wieder zu einer richtigen Familie. Dad fand sein Lächeln wieder, und wir beide entdeckten eine gemeinsame Basis in seinen Geschichten und meinen Illustrationen. Trotzdem lauerte der Schatten, den wir normalerweise ignorierten, immer im Hintergrund, und sein düsteres, vorwurfsvolles Flüstern bildete einen unsichtbaren Keil zwischen uns.

Ich holte tief Luft. »Du wolltest mir von Morgan erzählen.«

Dad nickte. »Er ist jetzt Professor. Ein brillanter Professor obendrein. Kaum zu glauben, dieser ausgemergelte, halb verhungerte Jugend­liche, der nicht einmal einen Highschool-Abschluss hatte.«

Ich schwieg. Ich kannte Morgan, seit ich vier war. Dad hatte ihn an der Uni kennengelernt, als Morgan ein heruntergekommener Geschichtsstudent war und Dad ein desillusionierter Dozent. Sie entdeckten ihre Seelenverwandtschaft, wurden enge Freunde und machten zusammen schwere Zeiten durch, bis sich das Leben beider irgendwann zum Guten wendete. Morgan hatte keine eigene Familie, zumindest glaubte ich das, als er begann, an Feiertagen mit Dad zu uns nach Hause zu kommen. Er sprach nie von seiner Vergangenheit, auf alle Fälle nicht mit mir. Meine Mutter nahm ihn unter ihre Fittiche, und er wurde der Sohn, den sie sich immer gewünscht hatte.

Als ich fast acht war, verkündete Morgan, dass er heiraten werde. Meine Eltern waren ganz aus dem Häuschen. Sie bestanden darauf, dass er die glück­liche Braut zum Abendessen mitbrachte. Gwen Larkin war ebenfalls eine von Dads Studentinnen. Sie war groß und schlank, blass wie der Mond, eine überzeugte Frauenrechtlerin, die sich leidenschaftlich für Umweltschutz, Underdogs und Gestrandete einsetzte. Sie war alles, was ich sein wollte, und ich wäre von ihr genauso hingerissen gewesen wie alle anderen auch, hätte sie nicht ausgerechnet den Mann heiraten wollen, den ich anbetete.

Dad warf mir einen Blick zu. »Er hatte schon immer ein Faible für dich, Lucy, und jetzt, wo er geschieden ist …«

Ich hob die Hand und schwenkte sie vor seiner Nase, sodass mein Verlobungsring, der sündhaft teure Diamantring, den Adam mir geschenkt hatte, auffallend funkelte. »Ich bin bereits vergeben. Außerdem ist Morgan viel zu alt für mich.«

»Autsch! Ihr jungen Leute könnt ganz schön grausam sein.«

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Dein Eis schmilzt, Dad.«

Dad warf einen Blick auf sein Choc Top. Auf der Schokoladenkruste hatte sich Feuchtigkeit gebildet, und Eiscreme rann über seine Hand. Er zog ein zerknittertes Taschentuch aus der Tasche und wischte die Flecken nachdenklich weg.

»Ich will nur, dass du glücklich wirst, Kind.«

»Ich bin glücklich.«

Dad warf mir einen skeptischen Blick zu. »Wenn du dir etwas wünschen könntest, was wäre es?«

»Du meinst, wenn ich Aladins Wunderlampe reiben könnte?«

»Oder wenn du eine Sternschnuppe gesehen hättest. Ja.«

Ich blinzelte. Kinderleicht. Ich würde mir das wünschen, was sich jeder wünscht: einen vollkommenen Körper … eine Million Dollar … ein schönes Leben. Mein Gott, wo sollte ich anfangen?

Ich versteckte meinen Diamantring. »Ich habe alles, was ich mir wünschen könnte«, entgegnete ich knapp. »Und du? Was wäre dein größter Wunsch?«

Er lächelte nachdenklich. »Mein kleines Mädchen öfter lachen zu hören. Es ist so ein hinreißendes Lachen. Ganz zu schweigen davon, wie süß es sich anhört, wenn du losprustest.«

Ich runzelte die Stirn. »Du bist doch sonst nicht so sentimental.«

»Ich habe einfach das Gefühl, dass dein Leben nicht so rosig ist, wie du tust. Ich meine, wieso bist du allein gekommen? Zwar hast du mich mittlerweile ein Dutzend Mal mit deinem Diamantring geblendet, aber dein Mann glänzt durch Abwesenheit. Was ist wirklich los, Luce?«

Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Plötzlich kam mir die Luft in dem alten Kino stickig vor, unerträglich. Ich warf einen Blick auf die Treppe und wünschte, wir wären draußen im kalten Wind und könnten die feuchte Abendluft einatmen. Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen, hätte mich mit einer Tasse heißem Kakao aufs Bett gesetzt und über den rätselhaften Brief meines Großvaters gegrübelt oder mich ins Manuskript meines Vaters vertieft.

Stattdessen versetzte ich mich in die Vergangenheit zurück. Ehe ich nach London abgerauscht war. Ehe ich so viel Mist gebaut hatte, dass ich mich nirgendwo mehr blicken lassen konnte. Ehe ich die Verbindung zu all denen, die ich liebte, von einem auf den anderen Tag abgebrochen hatte. Damals war ich eine andere gewesen, unternehmungslustig, fröhlich, nicht ständig auf der Hut vor irgendwas. Das Leben schien so leicht zu sein, so voller Möglichkeiten. Ich hatte geglaubt, man müsste nur herausfinden, was man wollte, und es sich nehmen. Doch diese naive Blase war schnell geplatzt.

Meine Wangen glühten. Meine Ohren brannten. Ich wappnete mich gegen Dads Drängen.

Er musste mein Fiasko gespürt haben, denn er sagte nichts mehr. Kurz darauf erklang der Gong. Der erste Film würde in Kürze beginnen. Ich ließ den Blick durch das Foyer schweifen und stellte erleichtert fest, dass Nina und Coby verschwunden waren. Dann hakte ich mich bei Dad ein und steuerte mit ihm auf die wohltuende Dunkelheit des Kinosaals zu.

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Die eleganten goldenen Vorhänge taten sich auf, und die Vorführung begann. Während die Filmmusik den Saal überflutete, machte ich es mir auf meinem Sitz gemütlich und dachte über die Worte meines Vaters nach.

Gwen und Morgan waren enge Freunde, aber zwischen ihnen hat es nie gefunkt.

Die Scheidung war nicht unerwartet gekommen, dachte ich jetzt. Sie hatten sich unzählige Male getrennt und wieder versöhnt. Gwen war halsstarrig und Morgan aufbrausend. Ständig hatte es zwischen ihnen gebrodelt. Vor Coby hatten sie sich möglichst zusammengenommen, trotzdem war er immer irgendwie in ihr Kreuzfeuer geraten. Wie Nina gesagt hatte, für Coby bedeutete die Familie alles, und es hatte ihn sehr bedrückt, dass die seine oft auf so wackligen Beinen stand.

Als ich einundzwanzig wurde, hatten sie sich gerade wieder einmal getrennt. Coby war am Boden zerstört, und wir fingen an, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Wir hatten nichts miteinander, zumindest nicht in meinen Augen – hingen nur zusammen ab, hörten Musik oder gingen stundenlang auf der Strandpromenade spazieren, während sich Coby den letzten Streit seiner Eltern von der Seele redete. So kamen wir uns näher, viel näher, als wir uns jemals zuvor gewesen waren.

Am Abend meiner Geburtstagsparty war Morgan sehr distanziert. Ich tanzte mit Nina, Coby und unseren Freunden und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er unterhielt sich mit Dad und Wilma, füllte den Kühlschrank auf oder reparierte die kaputte Lichterkette. Nachdem meine Freunde gegangen waren, fand ich ihn allein im Garten. Er saß auf einer alten Holzbank im Dunkeln, den Rücken an die Wand des Gartenhäuschens gelehnt. Sein Haar war zerzaust, das Gesicht von Müdigkeit gezeichnet. Er musste mich gehört haben, denn er drehte sich um und lächelte.

»Wer ist denn dieses hinreißende Geschöpf?«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Was hast du mit meiner kleinen Lucy gemacht?«

Als ich nicht antwortete, erstarb sein Lächeln. »Ist alles okay?«

»Dad wird mich umbringen«, entgegnete ich.

Morgan zog eine Augenbraue hoch. »Was hast du denn angestellt, Kumpel?«

Ich setzte mich zu ihm auf die Bank. Ich trug wie immer Jeans und Doc Martens, das blonde Haar hing mir offen über die Schultern. Nina hatte mir geholfen, ein kurzes Oberteil auszusuchen, einen glitzernden roten Schlauch mit Spaghettiträgern und einem tiefen Ausschnitt, der mich kurviger machte, als ich tatsächlich war. Ich ließ den Träger über die Schulter rutschen. Es war November, und die Nacht war heiß. Der Garten lag in völliger Dunkelheit, abgesehen von der Lichterkette, die Wilma und ich zuvor an den Bäumen aufgehängt hatten.

Im Dunkeln sah ich – nein, es war eher ein Gefühl –, wie Morgan mich betrachtete. Sein langsamer, anerkennender Blick brachte mein Blut zum Kochen. Federleicht glitt er von meinen nackten Armen zu dem tiefen Ausschnitt, wanderte über meinen Hals und ruhte einen berauschenden Augenblick lang wie warmer Honig auf meinen Lippen. Als seine Augen schließlich die meinen kreuzten, huschte ein Schatten über sein Gesicht. Er straffte das Kinn und versuchte, seine Anspannung hinter einem Lächeln zu verbergen.

»Was hast du angestellt?«, wiederholte er, doch jetzt klang seine Stimme seltsam sanft.

»Ich habe mir ein Tattoo machen lassen.« Ich hob meine Schulter, damit er es sah. Meine Haut war noch gereizt, aber nicht mehr entzündet. »Es ist so etwas wie ein Geburtstagsgeschenk, das ich mir selbst gemacht habe. Wie findest du es?«

Morgan sah sich meine Schulter an und pfiff durch die Zähne. »Eine kleine Meerjungfrau. Sie sieht genauso aus wie du.« Als er lächelte, verdunkelte sich der Garten noch mehr, als wäre jetzt auch die Lichterkette erloschen. Die Sterne verloren ihren Glanz, und das runde Gesicht des Mondes verkümmerte zu einem verschwommenen Daumenabdruck. Morgan dagegen glühte.

»Ich liebe dich«, flüsterte ich ihm zu. »Ich habe dich schon immer geliebt, Morgan, und werde es immer tun.«

Sein Lächeln erstarb. Er neigte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er gerade gehört hatte.

Ich muss besessen gewesen sein, anders kann ich es mir nicht erklären. Die Glut, die er mit seinem langen anerkennenden Blick in mir entfacht hatte, löste einen Kurzschluss in meinem Verstand aus. Wie aus weiter Ferne sah ich, dass meine Hand sich auf sein Gesicht zubewegte. Ich sah, wie sie sanft seine Wange umfasste, wie ich mich zu ihm beugte und ihm mein Gesicht zuwandte, wie eine Sonnenblume sich zum Licht dreht. Ich betrachtete mein junges Ich mit einer Mischung aus Scham und Grauen, als ich den anderen Arm um seinen Hals schlang und meine Lippen auf seinen Mund presste.

»Nein!«

Plötzlich war ich zurück in der Dunkelheit des Kinos, als mir bewusst wurde, dass ich gerade laut vor mich hingesprochen hatte. Nein, nicht gesprochen, sondern buchstäblich geschrien. Dad warf mir einen verwunderten Blick zu, doch vermutlich schob er meine Reaktion auf die spannende Filmszene. Er lächelte nachsichtig und wandte sich wieder der Leinwand zu.

Ich versank in meinem Sitz. Meine Wangen brannten. Ich dachte an Coby und Nina, die irgendwo in der Dunkelheit saßen, vielleicht ganz in der Nähe. Wahrscheinlich hatten sie meine Stimme wiedererkannt, wussten, dass ich diejenige war, die geschrien hatte. Ich stellte mir vor, wie sie sich in der flackernden Dunkelheit Blicke zuwarfen, wie Nina ihn mit dem Ellbogen anstieß und beide grinsend die Augen verdrehten.

Ich versank noch etwas tiefer in meinem Sitz und fand mich resigniert damit ab, dass ich den Rest des Films beschämt aussitzen müsste. Dann schrie irgendwo hinter uns eine Frau auf: »Oh!«

Der Mann, der neben Dad saß, fuhr zusammen und schnaubte verlegen. Einige Zuschauer kicherten.

»Verdammter Hitchcock«, hörte ich Dad murmeln. »Heute Nacht werden sie alle Albträume haben.«