Der neue Sonnenwinkel
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Danke für mein Leben, Roberta!

Eine schöne Ärztin wird sentimental

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-245-0

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Das Wetter hatte sich über Nacht gedreht, und nun wurde wohl auch dem größten Optimisten bewusst, dass nicht ewig Sommer sein konnte. Es regnete seit Tagen, und der Wind zerrte an den Bäumen, und die Blätter fielen haufenweise, um letztlich in unansehnlichen Klumpen auf den Wegen zu liegen.

Der Sommer war ja längst schon vorbei, doch es hatte noch so viele schöne und warme Tage gegeben, dass man alle Gedanken an den Herbst verdrängt hatte.

Herbst …

Ja, der war kalendarisch da, aber in ihrem Herzen, in ihrem Inneren gab es ihn schon länger, und Inge fürchtete, da würde es niemals mehr den beschwingten Sommer geben oder den Frühling, der freudige Erwartungen weckte.

Inge Auerbach konnte sich noch nicht mit dem abfinden, was geschehen war, und wenn sie ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass sie sich vermutlich mitten in einer tiefen Depression befand, seit ihr geliebtes jüngstes Kind sich in Australien befand. Weiter ging es ja wohl nicht.

Inge stand am Fenster und schaute hinaus in den Regen, der unaufhörlich gegen die Scheiben klatschte.

Im Garten gab es jetzt nichts mehr zu tun, aber im Haus, da wartete eine Menge Arbeit auf sie, zu der sie sich einfach nicht aufraffen konnte.

In der Waschküche stapelte sich die ungewaschene Wäsche, auf den Möbeln sah man dicke Staubschichten, und in ihrer Küche, da tat sich nicht mehr viel. Von wegen ausgefallene Gerichte, für die sie berühmt war. Sie schusterte da einfach etwas zusammen, was schnell ging und wenig Arbeit machte, und wenn Werner nicht daheim war, begnügte sie sich mit einem Butterbrot, oder sie aß überhaupt nichts und starrte stundenlang trübsinnig vor sich hin, oder sie weinte.

Sie hatte einige Kilo abgenommen, doch der Preis, den sie dafür zahlte, war viel zu hoch. Außerdem gefiel sie sich so abgemagert nicht.

Sie konnte noch immer nicht begreifen, was geschehen war, dass ein Tsunami, so kam es ihr vor, ihre schöne, heile Welt vernichtet hatte. Und sie saß nun vor den Trümmern, unfähig, daraus wieder etwas aufzubauen.

Das Schlimmste war, dass Werner und sie sich seit diesem Zwischenfall so fremd geworden waren. So etwas hätte Inge niemals für möglich gehalten. Sie waren doch immer durch dick und dünn gegangen, hatten gemeinsam an einem Strang gezogen.

Es waren die Schuldgefühle, die sie beide hatten, durch die sie sprachlos geworden waren.

Wie sollte es mit ihnen weitergehen?

Wie sollte es überhaupt weitergehen?

Würden sie in ihrem Chaos der Gefühle, das sich allmählich auch außen abzeichnete, versinken?

Am liebsten hätte Inge sich jetzt einen Kaffee gekocht, doch das verkniff sie sich, seit sie festgestellt hatte, dass ihr Ruhepuls meist höher als neunzig war. Das war bedenklich, und deswegen schränkte sie wenigstens ihren übermäßigen Kaffeekonsum ein, der auch dazu beitrug. Ihren Blutdruck wollte sie gar nicht erst messen. Aber sie spürte es, dass auch er weit über dem Normbereich lag. Schlafen konnte sie auch nur sehr schlecht, und es gab nächtliche Unterbrechungen, bei denen ihre Gedanken anfielen wie eine Horde wilder Tiere.

Es musste etwas geschehen.

Und am besten würde sie sich gründlich von Frau Dr. Steinfeld untersuchen lassen, und die konnte ihr auch etwas für die Nacht geben. Sie schätzte die Ärztin sehr und war von deren Qualitäten überzeugt. Aber sie hatte eine Scheu, zu ihr zu gehen, seit sie Bambi, die nur noch Pam genannt werden wollte, bei sich aufgenommen hatte, nachdem sie ihr vorher frierend in der Nacht vor einer Bushaltestelle aufgefallen war.

Da hatte ihr Unglück seinen Anfang genommen, und seither war ihr Leben nur noch Grau in Grau.

Werner befand sich auf einem Kongress im Ausland. Streiten konnten sie sich heute nicht, und kochen musste sie auch nicht. Aber wie sollte sie den Tag herumbringen? Nach draußen gehen konnte sie nicht. Dazu war das Wetter zu schlecht. Sonst wäre sie um den See gelaufen.

Und mit Luna herausgehen musste sie auch nicht, seit Pam weg war, zog die kleine Labradorhündin es vor, lieber nebenan zu sein, bei ihren Eltern. Und das lag ganz gewiss nicht nur an den Leckerli, die sie dort bekam, sondern weil sie die depressive Stimmung hier im Haus nicht aushalten konnte. Hunde waren feinfühlige Wesen, die die Stimmung ihres Herrchens oder Frauchens gut erkannten. Und seit Bambi, ach nein, Pamela weg war, war auch etwas mit Luna geschehen. Sie war sehr viel ruhiger geworden und rannte, wenn sie im Haus hier war, immer wieder zur Tür, in der Hoffnung, ihre Freundin könne jeden Augenblick hereinkommen. Auch der Hund litt. Klar, Luna war auf Bambi fixiert. Inge seufzte, sie würde sich nie daran gewöhnen, dass sie nicht Bambi heißen wollte. Schließlich hatte sie den weißen Labrador nach dem Tod ihres geliebten Jonny aus dem Tierheim geholt. Am Anfang war es nicht so einfach gewesen, weil die Kleine den Spielgefährten, den treuen Freund ihrer Kindheit, nicht vergessen konnte. Aber dann waren sie die allerbesten Freunde geworden, bis …

Bis das geschehen war, was alles durcheinandergebracht hatte.

Inges Augen füllten sich mit Tränen, und sie wirbelte herum, als eine Frauenstimme ungehalten sagte: »Sitzt du auf deinen Ohren? Ich habe beinahe die Klingel abgerissen, so oft habe ich geschellt. Ich musste wieder nach nebenan gehen, um meinen Schlüssel zu holen, sonst stünde ich noch immer vor der Haustür. Inge, so geht es nicht weiter.«

Inge drehte sich um. Ihre Mutter war gekommen. Ihre Eltern wohnten direkt nebenan. Eigentlich war das ein Segen, und sie waren darüber alle sehr glücklich gewesen. Aber seit Pamela weg war, gab es auch mit ihren Eltern Differenzen.

Magnus und Teresa von Roth liebten ihre einzige Tochter über alles, aber sie konnten nicht begreifen, dass sie sich jetzt so hängen ließ.

Teresa setzte sich, Inge erkundigte sich, ob sie etwas trinken wolle. Das verneinte Teresa.

»Inge, ich bin nicht auf einen Plausch rübergekommen, sondern weil dein Vater und ich uns ernsthafte Sorgen machen. Eure Jüngste ist nicht tot. Sie lebt derzeit bei ihrem Bruder in Australien. Und das ist gut so. Besser dort als irgendwo in einem Kinderheim oder Internat. Und dass es so gekommen ist, das liegt an der Sorglosigkeit von Werner und dir. Ich will dir keine Vorwürfe machen. Aber alles, was geschehen ist, habt ihr zu verantworten. Werner und du, ihr seid zwei intelligente Menschen. Werner kann ganze Säle mit seinen Vorträgen füllen und die Zuhörer begeistern. Aber was eure jüngste Tochter betrifft, da habt ihr euch unverantwortlich benommen.«

Inge hielt sich die Ohren zu. Sie konnte es nicht mehr hören. Ob nun ihre Eltern, ob ihre Tochter Ricky, ihr Sohn Jörg oder Hannes, bei dem Pamela sich jetzt aufhielt, alle machten ihnen Vorwürfe.

Verflixt noch mal, sie wussten doch selbst, dass sie einen unverzeihlichen Fehler gemacht hatten. Da mussten sie alle doch nicht auch noch auf ihnen herumhacken.

Ihr Fehler, den sie bereits tausendfach bereut hatten, war gewesen, dass sie ihrer Jüngsten nicht gesagt hatten, dass sie adoptiert war, dass sie als Einjährige nach dem schrecklichen Unfalltod ihrer leiblichen Eltern das Leben der Auerbachs bereichert hatte. Der richtige Zeitpunkt hatte sich nicht ergeben, oder es war etwas anderes dazwischengekommen. Sie waren in den Sonnenwinkel gezogen, als die Kleine bereits mehrere Jahre alt war. Niemand hier kannte sie und die genauen Verhältnisse, und die Adoptionspapiere waren unter Verschluss gewesen. Wie hatten sie denn ahnen können, dass die Behörde umziehen würde, die Akte herunterfallen würde, um dann in die Hände einer neugierigen Frau zu gelangen, die ihr Wissen einer Freundin in dem Eiscafé preisgab, in dem ihre Kleine am Nebentisch gesessen und alles mitbekommen hatte.

Es war dumm gelaufen, es war eine Katastrophe und durch nichts mehr rückgängig zu machen. Und sie konnten Asche über ihr Haupt schütten, sie konnten schreiend ums Haus rennen.

Es war geschehen!

Pamela, ihre Bambi, hatte es von einer Fremden erfahren, und es war zu verstehen, dass sie aufgebracht gewesen war. Aber so aufgebracht, dass sie mit den Auerbachs nichts mehr zu tun haben wollte. Mit Ricky hatte sie noch geredet, Hannes, mit dem sie die meiste Zeit ihrer gemeinsamen glücklichen Kindheit hatte, der war nicht aus ihrem Leben verbannt worden, obwohl der doch auch ein Auerbach war. Zum Glück, musste man sagen. Als Hannes von dem Desaster gehört hatte, war er aus Australien sofort gekommen und hatte, das war schon verrückt, er war ihr jüngster Sohn, alles in die Hand genommen. Daran war zu erkennen gewesen, dass dieses Jahr Weltreise ihn erwachsen gemacht hatte. Aber Hannes war anders als ihre anderen Kinder. Sonst wäre er jetzt auch nicht als Surf- und Tauchlehrer in Australien gelandet und hätte angefangen zu studieren.

Wie auch immer, Hannes war die Rettung gewesen, und Inge mochte nicht daran denken, was sonst alles hätte passieren können.

So richtig traurig machte Inge, dass ihre Jüngste, und das war sie, ob nun adoptiert oder nicht, nichts mehr von ihnen wissen wollte. Sie waren doch die Eltern, und sie waren so eng miteinander gewesen. Das konnte nicht einfach vergessen sein. Sie hatten keine Straftat begangen, sondern waren aus Liebe zu Pam ein wenig nachlässig gewesen. Sie hatten ihr keinen Schmerz bereiten wollen. Ach, Inge wusste nicht mehr, warum alles so gekommen war, warum sie nichts gesagt hatten. Sie wusste nur, dass es ihnen jetzt um die Ohren geflogen war, und das tat unendlich weh. Sie hatten es gut gemeint und genau das Gegenteil erreicht.

»Inge, ich weiß, dass du nichts hören willst«, sagte Teresa von Roth, »aber sich die Ohren verschließen, das hilft auch nichts. Ich bin übrigens nicht hergekommen, um dir wegen dieser unseligen Adoptionsgeschichte Vorwürfe zu machen, sondern ich bin gekommen, weil ich sehr besorgt bin. Werner und du, ihr zwei wart immer so eng, dass kein Blatt Papier zwischen euch passte. Jetzt zankt ihr euch wie die Kesselflicker. Man kann es bis nebenan hören. Mit Geschrei löst man keine Probleme. Das nur ganz nebenbei.«

Ihre Eltern, Magnus und Teresa von Roth, waren in ihrem Leben durch so manche Hölle gegangen. Schwere Schicksalsschläge und eine materielle Notlage hatten sie verkraften müssen. Aber sie waren daran nicht zerbrochen. Sie hatten sich mit viel Fleiß und viel Arbeit ein neues Leben aufgebaut, das nicht im Entferntesten an das reichte, was sie einmal hatten, wer sie einmal waren. Aber sie waren stolz geblieben und hatten niemals mit ihrem Schicksal gehadert, sondern waren froh gewesen, ihr Leben und vor allem sich zu haben. Und sie hatten die zweite Chance, die sich ihnen geboten hatte, dankbar ergriffen. Ja, ihre Eltern, die waren schon zwei ganz besondere Menschen. Und bessere Eltern konnte man sich auch nicht vorstellen. Sie hatten für ihr einziges Kind alles getan und lieber verzichtet, um es Inge zukommen zu lassen. Dabei waren sie gewiss nicht nur einmal vor Heimweh und Schmerz erfüllt gewesen, aber das hatten sie sich niemals anmerken lassen. Sie waren zwei stolze, selbstbewusste Menschen.

Inge wusste, dass man sich an ihren Eltern ein Beispiel nehmen konnte, aber leider war sie nicht so wie sie. Vielleicht lag es daran, dass sie niemals um etwas hatte kämpfen müssen. Sie hatte niemals etwas entbehrt. Wenn man sollte, hatte sie immer auf der Sonnenseite des Lebens gestanden, erst bei ihren Eltern, dann in ihrer Ehe mit Werner.

An Werners Seite hatte sie die halbe Welt gesehen, war mit ihm überall herumgekommen. Sie hatten drei wundervolle Kinder, und dann war ihr Herzenskind Bambi in ihr Leben gekommen und hatte es sehr bereichert. Bambi wollte nicht mehr Bambi sein, sondern Pam genannt werden, was ja auch zu verstehen war, sie hieß schließlich Pamela. Doch diese Entscheidung von jetzt auf gleich. Das alles zerrte an ihren Nerven.

Vielleicht war sie sich einfach zu sicher gewesen, hatte es sich in ihrem schönen Leben gemütlich gemacht und hatte es als Selbstverständlichkeit hingenommen. Und nun hatte sie die Quittung und wurde damit konfrontiert, dass es im Leben nicht nur Glück und eitel Sonnenschein gab und dass die Welt nicht immer heil war.

Inge blickte zu ihrer Mutter hinüber, die für ihr Alter noch erstaunlich gut aussah und die unglaublich vital war. Von ihr ging eine positive Energie aus.

»Möchtest du nicht doch etwas trinken, Mama?«, erkundigte Inge sich.

»Also gut, ein Mineralwasser«, gab Teresa nach, und sie klang nun schon viel versöhnlicher, weil es ihr unendliche leidtat, dass ihre Tochter so sehr litt. Wenn sie könnte, da würde sie ihr so gern helfen, aber da musste sie jetzt allein durch.

Inge holte Mineralwasser und zwei Gläser, setzte sich wieder.

»Mama, ich leide doch auch sehr darunter, dass es zwischen Werner und mir andauernd diesen Zoff gibt. Seit das …, seit diese Geschichte passiert ist, sind wir beide voller Schuldgefühle, und irgendwie können wir nicht damit umgehen, und weil das so ist, blaffen wir uns andauernd an.«

Teresa von Roth sah ihre Tochter bekümmert an.

»Inge, und nun fang bitte nicht gleich wieder an zu weinen oder fühle dich angegriffen. Es soll kein Vorwurf sein. Du bist ja so empfindlich geworden, dass man sich kaum traut, dir etwas zu sagen. So, wie ihr miteinander umgeht, wird alles nur noch schlimmer. Und die gegenseitigen Vorwürfe, die bringen überhaupt nichts. Ihr habt es alle beide vermasselt. Und deswegen müsst ihr auch zusammen versuchen, das wieder in Ordnung zu bringen. Und ihr müsst aufhören, ewig auf diesem Thema herumzuhacken. Und immer dieses was wäre gewesen wenn … Das Kind ist in den Brunnen gefallen, und ihr seid auf dem harten Boden der Realität gelandet. Blickt nach vorne. So wie es war, wird es niemals mehr werden. Dafür ist zu viel passiert. Ihr müsst versuchen, euch alle wieder ganz vorsichtig anzunähern. Aber um das angehen zu können, musst du mit Werner wieder an einem Strang ziehen.«

Inge blickte ihre Mutter an. Die hatte gut reden, die war so unglaublich stark. Und Inge wünschte sich von ganzem Herzen, wenigstens ein wenig so zu sein wie sie.

»Ich glaube nicht, dass wir das noch einmal hinbekommen werden«, sagte sie ganz zaghaft.

Teresa schüttelte den Kopf.

»Wenn du so denkst, dann bist du schon verloren. Da gibt es von dem großen Tagore einen ganz wunderbaren Satz, den du dir merken solltest – Glaube ist der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch finster ist.«