Peter Dabrock
Renate Augstein
Cornelia Helfferich
Stefanie Schardien
Uwe Sielert
Unverschämt – schön
Sexualethik:
evangelisch
und lebensnah
Gütersloher Verlagshaus
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2015 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Das Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House GmbH, weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © Sprint/Corbis
ISBN 978-3-641-16557-4
www.gtvh.de
Inhalt
1. Warum ein ethischer Blick auf die Sexualität aus heutiger evangelischer Sicht?
2. Was sagt evangelische Theologie im Gespräch mit anderen Wissenschaften?
2.1 Warum sich heute noch an der Bibel orientieren?
2.2 Wie lassen sich biblische Aussagen zur Sexualität heute verstehen?
2.2.1 Sperriges
2.2.2 Erstaunliches
2.2.3 Perspektivreiches
2.3 Was sagen verschiedene Wissenschaften?
2.3.1 Anthropologische Perspektiven
2.3.2 Sexualsoziologische Perspektiven
2.3.3 Psychologische Perspektiven
2.3.4 Gefährdungen und Möglichkeiten des Scheiterns
2.3.5 Pädagogische Perspektiven
2.3.6 Rechtliche Perspektiven
2.3.7 Gender und Diversity als Querschnittsthemen
2.4 Theologisch-ethische Kriteriologie
3. Die Lebenswirklichkeit ist oft anders: Lebensnahe Orientierungen sind gefragt
3.1 Gestaltung des Wechselverhältnisses von Sexualität und Liebe
3.1.1 Sexualität im Lebenslauf
3.1.1.1 Kindheit
3.1.1.2 Jugend
3.1.1.3 Mittlere Lebensphase des Erwachsenenalters
3.1.1.4 Alter
3.1.2 Lebenssituationen und Lebenskontexte
3.1.2.1 Sexualität und Behinderung
Sexualität und Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung
Sexualassistenz als Streitpunkt
3.1.2.2 Sexualität in Lebensräumen ohne Privatsphäre
3.1.2.3 Sexuelle Beziehungen in der Arbeitswelt
3.1.3 Geschlechtsidentität(en), sexuelle Orientierung(en) und sexuelle Identität(en)
3.1.3.1 Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektive
3.1.3.2 Gesellschaftliche Perspektive
3.1.3.3 Sexualethische Perspektive
3.2 Fragwürdige Formen von Sexualität
3.2.1 Pornographie und Cybersex
3.2.2 Sadomasochismus
3.2.3 Prostitution
3.3 Sexualität destruktiv: Gewalt und Machtmissbrauch
3.3.1 Erscheinungsformen und Hintergründe
3.3.2 Sexualisierte Gewalt im Verantwortungsbereich der Kirche
3.3.3 Sprachfähigkeit und Enttabuisierung zum Abbau sexualisierter Gewalt
3.3.4 Die Haltung denen gegenüber, die sexualisierte Gewalt ausgeübt haben
3.3.5 Kriterien als Anhaltspunkte bei der Auseinandersetzung mit destruktiver Sexualität, deren Opfern und Tätern oder Täterinnen
4. Kirchliche Handlungsmöglichkeiten
4.1 Sexualität: (k)ein Gemeindethema
4.2 Gottesdienst und Predigt
4.3 Kinder- und Jugendarbeit
4.4 Seelsorge und Beratung
4.5 Kirche und sexuelle Orientierung
4.6 Öffentliche Kirche
4.7 Sexualität – spannungsvolles Lebensthema und Kirchenthema
5. Literatur
Die Autorinnen und Autoren
1. Warum ein ethischer Blick auf die Sexualität aus heutiger evangelischer Sicht?
Als die Evangelische Kirche in Deutschland 1971 (!) ihre letzte Denkschrift zum Thema veröffentlichte, war der Blick auf die menschliche Sexualität vornehmlich durch den Bezug zur Ehe geprägt. Heute dagegen kommt eine erweiterte Sicht zur Darstellung. So wenig wie die Ehe in der Sexualität aufgehen kann, so wenig ist Sexualität allein auf die Ehe zu fokussieren. Daher werden die Themen und Aspekte, die sich aus evangelischer Sicht auf Fragen der Sexualethik beziehen, sichtbar und deutlich erweitert. Vor diesem Hintergrund haben die evangelische Theologie und die evangelische Kirche die Aufgabe und die Chance, ihre spezifischen Perspektiven zum Verständnis von Sexualität in unserer pluralen Gesellschaft im Horizont einer evangelisch zu verantwortenden Sexualethik einzubringen. Sofern dies mit Empathie und ohne erhobenen Zeigefinger geschieht, besteht die berechtigte Aussicht, ernst genommen und gehört zu werden.
Lange Zeit war das freilich nicht der Fall. Seit der sogenannten »sexuellen Revolution« wurde beiden großen Kirchen in Deutschland aufgrund ihrer vermeintlich leibfeindlichen Traditionen hinsichtlich des Umgangs mit Sexualität kaum Prägewirkung zugebilligt. Die Notwendigkeit, sich mit den leibfeindlichen Tendenzen in der eigenen Tradition auseinanderzusetzen und zu fragen, wie ein konstruktiver und orientierender Beitrag zur Sexualität aussehen kann, wird nicht zuletzt durch die aktuellen gesellschaftlichen Umgangsweisen mit Sexualität beschleunigt. Angesichts der Allgegenwart von Sexualität im öffentlichen Raum – sei es in der Werbung, in den Medien oder im Internet – und einer damit verbundenen »Hypersexualisierung« aller Lebensbereiche wird verstärkt das Bedürfnis laut, Sexualität jenseits aller »Leistungsvorgaben« im intimen Schutzraum der Liebe leben zu können. Dass wir Menschen mehr sind als die Summe unserer sexuellen Fähigkeiten, ja dass Sex nicht alles im Leben ist, sondern in unsere eigene Persönlichkeitsentwicklung und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen eingebettet sein will, rückt wieder in den Blick. Gerade die evangelische Kirche und Theologie können in der öffentlichen Diskussion über Sexualität, besonders vor dem Hintergrund der Ambivalenzen und Brüche in den eigenen Umgangsweisen mit Sexualität, zu Anwältinnen eines Verständnisses von Sexualität werden, das Körper, Seele und Geist miteinander verbindet und in den Horizont der Liebe stellt.
Der erste Schritt dazu besteht darin, Sexualität grundsätzlich als etwas zutiefst Menschliches zur Sprache zu bringen. Alles vorschnelle Moralisieren verbietet sich hier. Viele der Phänomene, die im folgenden Text beschrieben werden, sind ja keineswegs neu. Neu ist für die evangelische Kirche und Theologie dagegen, sie bewusst hinsichtlich ihrer Bedeutung für unser (Zusammen-)Leben wahrzunehmen und zu gewichten. Es geht also darum, auf dem hoch aufgeladenen Gebiet der Sexualität mit ihren vielen Varianten sprachfähig zu sein. Wenn das gelingt, besteht die Aussicht, dass theologische Reflexion und – hoffentlich auch – kirchliches Reden hinsichtlich der Sexualität als wegweisend und hilfreich erlebt werden.
Verstehen wir Sexualität – trotz aller möglichen Ambivalenzen und mitunter Gefährdungen – als Gabe Gottes, dann ist sie in seinem Schöpferhandeln verankert und für uns Menschen etwas elementar Positives. Dem biblischen Verständnis ist darum in weiten Teilen Körperfeindlichkeit fremd. Der Durchgang durch die Bibel zeigt, dass in ihr Sexualität zwar häufig in einem uns fremd gewordenen patriarchalischen Zusammenhang erwähnt wird, dass – gemäß der im Weiteren skizzierten Verstehenslehre – in den biblischen Schriften aber doch ein Verständnis vom Menschen grundgelegt ist, das auf die Gleichwertigkeit im Geschlechterverhältnis und eine wirkliche personale Gemeinschaft zweier Menschen hinausläuft. Eine so geprägte Beziehung, die auch den Aspekt der gegenseitigen Attraktivität und des Aufeinander-bezogen-Seins umfasst, steht unter Gottes Verheißung. Sexualität ist darum nicht nur ein integraler Bestandteil des menschlichen Lebens in allen Phasen und Situationen, sondern jeweils Ausdruck der eigenen Entwicklung: Jeder Mensch steht vor der Aufgabe, mit Sexualität in einem umfassenden Sinn umzugehen und für sich die Aspekte von Identität, Beziehung, Lust und Fruchtbarkeit aufeinander zu beziehen, um so sein Leben verantwortlich zu führen.
Dabei wird man ohne Umschweife konstatieren müssen, dass sich seit Jahrzehnten verschiedene Formen des Zusammenlebens entwickelt haben, die von ihrer Ausrichtung her über bislang geltende Normen und Konventionen hinausgehen. Angefangen mit den modernen Methoden der Empfängnisverhütung und der damit einhergehenden Entkopplung von Lustempfinden und Fruchtbarkeit, über die gesellschaftliche Akzeptanz von Scheidungen und Beziehungsabbrüchen hin zu neuen Formen des Zusammenlebens wie Patchworkfamilien und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, zeichnen sich zahlreiche Veränderungsdynamiken im gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität ab. Gleichwohl bleibt festzuhalten: Sexualität, will sie verantwortlich gelebt werden, bedarf der Bildung und Gestaltung. Sie ist nicht nur Gabe, sondern auch Gestaltungsaufgabe. Als solche kann und muss sie kultiviert werden. Wie schmal dabei der Grat zwischen Kultur und Barbarei, zwischen Begierde und Vereinnahmung gerade im Bereich der Sexualität ist, zeigen bis in die Gegenwart hinein Phänomene sexualisierter Gewalt und sexuellen Missbrauchs, die sich vor allem gegen Frauen und Kinder richten.
Dass es in der Frage, welchen Beitrag eine evangelisch verantwortete Sexualerziehung und -bildung zu leisten imstande sei, um Orientierung für die eigene Person wie für das partnerschaftliche Zusammenleben geht, ist unbestritten. Die hier entwickelte Position votiert dafür, stärker und konsequenter als bisher in vielen theologischen Beiträgen, kirchlichen Verlautbarungen und einzelnen Handlungsfeldern Sexualität als eine Dimension zu berücksichtigen, die uns Menschen bestimmt, leibliche Vollzüge ermöglicht und eine zum Guten wie zum Schlechten verstärkende Funktion in allen möglichen Lebensvollzügen besitzt. Es geht nicht zuletzt um die Wahrnehmung der Dimension des Lustvollen in der Sexualität, für die wir eine angemessene Sprache finden müssen und die so von früheren Tabuisierungen befreit wird. Das Ziel der Ausführungen ist es, in den heutzutage ausdifferenzierten gesellschaftlichen Verhältnissen und Lebensweisen evangelische Impulse zu setzen, die menschliche Sexualität als von Gott geschenkt und als menschlichen Gestaltungsraum beschreiben.
Der Zugang zur Sexualität aus evangelischer Perspektive ist also grundsätzlich »sexualfreundlich«. Das hat unmittelbare Auswirkungen: Sexualfreundliche Erziehungs- und Bildungsbemühungen seitens der evangelischen Theologie und Kirche werden zur Verantwortung gegenüber sich selbst und zur Verantwortung für das jeweilige Gegenüber im Licht der Liebe Gottes anleiten und dazu beitragen, dass wir unsere Liebesfähigkeit in einem umfassenden Sinn entwickeln. Gerade christliches Leben, das von der befreienden Kraft des Evangeliums bewegt ist, kann sich angstfrei der Aufgabe (wie der Notwendigkeit) sexueller Erziehung und Bildung mit dem Ziel der Persönlichkeitsbildung und Lebensführungskompetenz stellen.
Die folgenden Erwägungen zeigen, wie wichtig es ist, dabei Einsichten der unterschiedlichen gegenwärtigen Humanwissenschaften (Medizin, Psychologie, Pädagogik und Soziologie) einzubeziehen. Mit ihnen konstruktiv-kritisch umzugehen, sie also in ihrer Bedeutung wahrzunehmen, aber ihrerseits auch zu befragen, steht evangelischer Theologie und sicher auch der evangelischen Kirche gut an. Dieser Umgang wird hier durch eine Verzahnung von theologischen und außertheologischen Erkenntnissen und Wissensbeständen zur Geltung gebracht.
Unser Text ist dabei folgendermaßen aufgebaut: Im folgenden Kapitel zwei erfolgt die theologisch-ethische Grundlegung für eine evangelische Sexualethik. Die Grundlegung setzt erstrangig bei den theologischen Erkenntnis- und Wissensbeständen an, wie sie sich unter Berücksichtigung hermeneutischer Grundsätze von der Bibel her ergeben, um diese dann mit außertheologischem Wissen zu vermitteln. Im Anschluss daran werden, auf der zuvor entwickelten theologisch-ethischen Grundlegung basierend, die für eine Sexualethik heute relevanten außertheologischen Wissensbestände entfaltet. Aus dieser Zusammenschau ergibt sich anschließend die diese Orientierungshilfe leitende theologisch-ethische Kriteriologie.
Das dritte Kapitel bezieht die entwickelte Kriteriologie auf die Vielfalt menschlicher Lebensführungen. Dabei eröffnet die Unterscheidung von Sexualität und Liebe Möglichkeiten, sowohl die Eigenständigkeit als auch die Zusammengehörigkeit beider Phänomene in gleicher Weise zu berücksichtigen. Die Spannung der Einheit von Sexualität und Liebe wird anhand von Lebensphasen, Lebenssituationen sowie Lebensidentitäten nachgezeichnet. Ebenso werden fragwürdige und destruktive Formen von Sexualität beschrieben.
Das vierte Kapitel führt über die Praxis zurück zur Ausgangsfrage. Es stellt exemplarische Handlungsfelder der Kirche vor, in denen sich eine evangelische Sexualethik zu bewähren hat bzw. bewähren kann. In Kapitel fünf wird diese Hilfe zu einer ethischen Orientierung durch eine Zusammenstellung ausgewählter Literaturhinweise zu den einzelnen Kapiteln abgerundet.
Die mit diesem Text vorliegende evangelische Orientierung zu den schönen, zu den problematischen wie auch zu den destruktiven Seiten von Sexualität stellt in verschiedener Hinsicht eine Besonderheit in der theologischen Landschaft dar: Zum einen greift sie auf die Expertise von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zurück. Auf die Erfahrungen und Kenntnisse aus den Forschungsfeldern zu hören und voneinander zu lernen, hat zur Breite des behandelten Spektrums sexueller Fragestellungen geführt und die Umsicht in der Suche nach Antworten sehr geprägt. Allen, die durch Mitdenken, Austausch und die Ermöglichung der notwendigen Begegnungen zu diesem Entstehungsprozess beigetragen haben, sei herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit gedankt. Besonderer Dank gilt den Wissenschaftlichen Mitarbeitenden Dr. Jens Ried und Matthias Braun vom Erlanger Lehrstuhl für Systematische Theologie II (Ethik), die durch ihr konstruktiv-kritisches Feedback die Entstehung des Buches sehr unterstützt haben. Dankenswerterweise haben Hannah Schickl, Johanna Jäckl, Constanze Lörner und Johanna Schell den Text gründlich Korrektur gelesen. Schließlich gilt unser herzlicher Dank Herrn Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus, der das Projekt interessiert begleitet, den vorliegenden Band in das Verlagsprogramm aufgenommen und verlegerisch bewährt betreut hat.
Zum anderen entspricht der Text bewusst nicht den formalen Anforderungen einer rein akademisch-wissenschaftlichen Abhandlung, insofern er sein Zielpublikum vor allem in der evangelisch interessierten Öffentlichkeit sieht und darum allgemein verständlich informieren und orientieren will. Dass auf Fußnoten und umfängliche Exkurse verzichtet wird, heißt umgekehrt nicht, dass den Ausführungen keine redliche Recherchearbeit zugrunde läge. Nach den jeweiligen Fachperspektiven geordnet finden sich im Literaturverzeichnis am Ende des Buches einige ausgewählte Studien, die es den Leserinnen und Lesern über die vorliegende Darstellung hinaus ermöglichen, eigenständig weitere wissenschaftliche Zugänge zum Lebensphänomen »Sexualität« zu erschließen.
Das Team der Autorinnen und Autoren hofft darauf, mit den vorliegenden Überlegungen Fragen zur Sexualität aufzugreifen, die das individuelle Leben, aber auch kirchliche und diakonische Institutionen bewegen. Wichtig erschien besonders, die Breite der Thematik darzustellen und thematische Verengungen – etwa auf Homosexualität –, wie sie vor allem in bestimmten evangelischen Kreisen zu finden sind, aufzubrechen. Damit darf zu Recht der Eindruck entstehen, dass viele sexuelle Fragen ein gründlicheres Nachdenken verlangen, anstatt sie rasch in moralisierende Schubladen zu stecken. Denn entgegen vorschnellen und herkömmlichen Be- und Verurteilungen ist festzuhalten: Schönes, Verschämtes, Unverschämtes und unverschämt Schönes ist in vielen Dimensionen der Sexualität zu finden.