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© dieser Ausgabe, Piper Verlag GmbH, 2020

© Jürgen Seibold 2012

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München (2012)

Covergestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

 

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Er klappte das Buch zu und legte es beiseite. Dann nahm er seine Lesebrille ab, massierte sich die Nasenwurzel und sah aus dem Fenster. Tief drunten, am Fuß des Hügels, breitete sich nach allen Seiten dichter Wald aus, zog sich die Hänge gegenüber hinauf und bedeckte beinahe die ganze Landschaft, die Muhr von seinem Schreibtisch aus übersehen konnte.

Der Mond stand als fahle Scheibe am Himmel, Wolkenfetzen zogen vorbei, vom starken Wind geschoben und verzerrt. Die Nacht war lau, aber der durch die Ritzen der Erkerfenster dringende Wind wirkte kühl.

Muhr goss sich ein wenig Wein nach, nahm einen Schluck und sah wieder hinaus. Er liebte die Vulkaneifel, liebte den Blick von hier oben auf diese manchmal wie verwunschen daliegende Landschaft, liebte die Ruhe, die diese Wälder und Hügel und Überreste uralter Krater ausstrahlten. Irgendwie schien ihm diese Gegend aus der Zeit gefallen, und mit ihr das Internat, das oben auf dem Cäcilienberg in einem ehemaligen Kloster untergebracht war.

Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er das erste Mal durch das steinerne Tor hindurch den Innenhof betreten hatte. Die Abgeschiedenheit, der tiefe Frieden, der von dem alten Gemäuer ausging, hatten ihn so sehr beeindruckt, dass er die Stelle als Mathematiklehrer sofort angenommen – und alle anderen Vorstellungstermine abgesagt hatte.

Er hatte seine Entscheidung nie bereut. Über die Jahrzehnte war aus dem engagierten Junglehrer Robert Muhr der Rektor des Internats geworden, und noch immer war er gefangen von der besonderen Atmosphäre »seiner« Schule.

Ein leises Knacken hinter ihm schreckte ihn auf. Muhr drehte sich in seinem Schreibtischstuhl um, aber nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Er lauschte. Nichts. Es war inzwischen so spät in der Nacht, dass wohl auch die letzten Schüler und Lehrer in den Schlaf gefunden hatten.

Muhr wandte sich wieder dem Fenster zu und trank noch einen Schluck. Er ärgerte sich, dass ihn inzwischen selbst ein leises Geräusch, wie es für das alte Gebäude doch so typisch war, beunruhigte. Wut kam in ihm auf, wieder einmal, weil die Ereignisse der vergangenen Monate ihm viel von der Ruhe und dem Frieden geraubt hatten, die er an seinem Leben auf dem Cäcilienberg so sehr schätzte.

Die Polizei hatte lange ermittelt, um die tragischen Vorfälle rund um das Internat aufzudecken. Aber sie hatten keine Beweise gefunden, keine ausreichenden Indizien – und er selbst hatte geschwiegen. Er wollte dem Ruf der Schule nicht schaden, gerade in einer Zeit, in der überall in den Internaten Skandale aufgedeckt oder zumindest gesucht wurden.

Muhr lachte bitter auf. Mit sexuellen Übergriffen hatten die Ereignisse auf dem Cäcilienberg freilich wirklich nichts zu tun. Aber er wusste inzwischen, dass das längst nicht die einzige schlimme Möglichkeit war.

Seine Gedanken rasten, und in schneller Abfolge tauchten die Bilder der Opfer vor ihm auf, die scheinheiligen Erklärungen der Verdächtigen, die zynischen Geständnisse unter vier Augen. Und wieder bohrte sich das Gefühl der Ohnmacht in seinen Magen, das er seit Wochen so gut kannte.

Natürlich hatte er die beiden sofort entlassen, und sie hatten verabredet, dass beide Seiten zum Wohl der Schule über alles schweigen würden. Ihm hätte ohnehin niemand geglaubt, dazu war alles viel zu geschickt eingefädelt. Von seinen Gegnern viel zu raffiniert mit scheinbar wasserdichten Alibis und schlüssigen Argumenten verwoben.

Die beiden würden den Cäcilienberg in wenigen Tagen verlassen, und niemand würde je wieder ein Wort über die Ereignisse verlieren.

Er aber würde mit seinem Wissen leben müssen. Und mit daran Schuld haben, dass alles ungesühnt blieb. Und nur er würde es wissen. Nur er, und niemand konnte ihm diese Last abnehmen. Niemandem konnte er sich anvertrauen. Von niemandem konnte er Trost erwarten. Nie.

Letztlich würde ihn das seine Freude kosten, mit der er noch bis vor wenigen Monaten, wenigen Wochen sein Leben als Leiter dieser Schule genossen hatte. Die Ruhe, der Frieden wären für ihn verloren. Für immer. Muhr knetete seine Finger, räusperte sich, sah zunehmend verzweifelt auf die nächtliche Eifel hinaus.

»Nein!«, knurrte er schließlich mit rauer Stimme und setzte sich aufrecht hin. »Nein!«

Mit zitternden Händen wühlte er in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch, kramte eine abgegriffene Visitenkarte hervor und griff nach dem Telefon. Wie oft schon hatte er diese Karte in der Hand gehalten, hatte mit sich gerungen und sie schließlich doch wieder zur Seite gelegt.

Er wählte die Privatnummer, die in krakeliger Schrift auf der Rückseite stand. Das Tuten an seinem Ohr wirkte unnatürlich laut in der nächtlichen Stille. Kurz spürte Muhr ein schlechtes Gewissen.

»Sie können mich anrufen, zu jeder Zeit«, hatte Kommissar Mertes gesagt, als er die Ermittlungen in der Schule ergebnislos abschloss. Das hatte Mertes nun davon. Und Muhr war sich nicht sicher, ob er am nächsten Tag noch einmal den Mut für diesen Anruf haben würde.

Am anderen Ende der Leitung klingelte es zweimal, dreimal. In Muhr stieg die Angst auf, der Kommissar könnte gerade jetzt nicht erreichbar sein. Er begann in Gedanken eine kurze Erklärung zu formulieren, die er notfalls auf dem Anrufbeantworter hinterlassen konnte. Es klingelte ein viertes und ein fünftes Mal.

Kein Anrufbeantworter sprang an.

Nach dem sechsten Klingeln ließ Muhrs Entschlossenheit ein wenig nach, nach dem siebten griff er mit der freien rechten Hand noch einmal nach seinem Weinglas.

Nach dem achten Klingeln wurde abgehoben. Aber das hörte Muhr schon nicht mehr. Hinter ihn war eine dunkle Gestalt getreten und hatte ihm mit einer schnellen Bewegung einen dünnen Draht um den Hals geschlungen. Überrascht spürte Muhr den heftigen Druck, die Atemnot, den schneidenden Schmerz an seinem Hals. Dann nichts mehr.

»Hallo?«, rief Kommissar Mertes am anderen Ende der Leitung in den Hörer. »Hallo? Wer ist denn da?«

Ein scharrendes Geräusch war zu hören, ein gedämpftes Ächzen, ein Klirren wie von einem zu Boden gefallenen Glas. Dann wurde aufgelegt.

Kapitel eins

»Hi, Mami! Hi, Paps!«

Sarah sprang die Treppe ins Erdgeschoss herunter, immer zwei Stufen auf einmal, und ließ sich auf den letzten freien Stuhl am Esstisch fallen.

»Mami … Paps …« Rainer Pietsch sah zu seiner Frau Annette hinüber und verdrehte die Augen. Sie lächelte zurück und drückte seine Hand.

»Na, schlechtes Gewissen, Paps?«

»Ein schlechtes Gewissen? Wieso das denn?«

»Deswegen«, machte Sarah und nickte grinsend zu dem Blumenstrauß in der Mitte des Tisches hin.

»Tja, meine liebe Sarah, ich muss dir leider sagen: Nein, ich habe nichts ausgefressen. Blumen schenke ich deiner Mutter einfach, weil ich sie mag.«

»Na, wie nett!«

Sarah strich sich Nugatcreme aufs Brot, und Annette sah ihren Mann mit gespielter Strenge an.

»Mag …?«

»Nein, nein«, beruhigte er sie sofort und deklamierte pathetisch: »Ich liebe dich, wie immer schon und jeden Tag ein bisschen mehr!«

»Bäh«, maulte Michael. »Hört bloß auf mit diesem Schmus. Das ist ja abartig, in eurem Alter!«

»Du bist ja bloß neidisch«, foppte ihn sein jüngerer Bruder Lukas, »weil du noch keine Freundin hast!«

»Freundin? Spinnst du? Was soll ich denn mit … Mädchen?«

Er schüttelte sich und schaufelte sich einen Löffel Müsli in den Mund. Einige Minuten lang waren nur leises Schmatzen und das Radio im Hintergrund zu hören. Dann begann der Werbeblock.

»Oh, wir müssen«, sagte Rainer Pietsch und stand auf. »Daran könnte ich mich übrigens gewöhnen: morgens zusammen frühstücken, mit Blumen und perfekt arrangierter Wurstplatte.« Er gab seiner Frau einen Kuss.

»Du musst dir nur häufiger mal freinehmen – an der Wurstplatte soll es dann nicht scheitern.«

»Das wäre ja auch noch schöner«, lachte er, »wenn man schon mit einem Cateringprofi verheiratet ist!«

»Hallo?«, rief Annette Pietsch und knuffte ihren Mann lachend in die Seite.

Kurz darauf war er mit den drei Kindern im Auto unterwegs.

 

»Lässt du uns hier raus, Paps?«

»Hier schon?«

»Du weißt doch …«

Rainer Pietsch fuhr rechts ran. »Ich weiß: Eltern sind peinlich.«

»Genau«, lachte Sarah und klopfte ihrem Vater auf die Schulter. »Jetzt hast du’s verstanden.«

Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, huschte aus dem Wagen, und schon strebten sie und ihre beiden Brüder der Schule zu. Rainer Pietsch blieb sitzen und beobachtete durch die Windschutzscheibe des Familienvans, wie seine Kinder die Straße entlangschlenderten, erste Klassenkameraden begrüßten, die Jungs sich mit ihren Freunden abklatschten und Sarah überschwänglich ihre beste Freundin umarmte und abküsste.

Geburtstag, Silvester, der Beginn eines neuen Schuljahrs: Immer zu solchen Anlässen fiel Rainer Pietsch auf, dass seine Kinder schon wieder größer und älter geworden waren. Sarah war mit ihren vierzehn Jahren bereits eine junge Dame, auch der zwölfjährige Michael mochte nicht mehr als Kind gelten. Und der ein Jahr jüngere Lukas wollte in einem Augenblick ganz groß sein und dann wieder ganz klein – seine Eltern mussten sich gelegentlich ein Grinsen verkneifen, wenn ihr Jüngster wieder einmal zwischen einem Kinobesuch ohne Erwachsenenbegleitung und dem Kinderkanal hin und her schwankte.

Mensch, noch ein paar Jahre, dann sind die drei aus dem Haus, dachte Rainer Pietsch, und er war sich mit jedem Jahr weniger sicher, wie gut ihm das gefallen würde.

Lächelnd lehnte er sich zurück, wickelte ein Bonbon aus und sah noch ein paar Minuten zur Schule hinüber. Dann startete er den Motor, fädelte sich wieder in den Verkehr ein, der nun immer dichter wurde, und fuhr langsam auf die Schule zu.

Sarah stand inmitten eines Pulks von Mädchen unter der großen Ulme, Michael hatte sich zu zwei Jungs am Treppenaufgang gestellt. Lukas stand mit einigen Klassenkameraden am Rand des Schulhofs. Als er seinen Vater vorbeifahren sah, hob er die Hand in Hüfthöhe und winkte ihm möglichst unauffällig zu.

Rainer Pietsch nickte lächelnd und ließ kurz seinen Blick über den Schulhof schweifen. Es wimmelte überall von Schülern, die schwatzend, lachend oder auch einfach nur müde herumstanden, die sich an Mauern lehnten, sich gegenseitig übermütig schubsten oder verstohlen zu anderen Gruppen hinübersahen.

Etwas abseits standen zwei auffällige Gestalten: ein Mann und eine Frau, beide groß, hager und trotz des angenehmen Spätsommermorgens in altmodisch wirkende, graue und fast bodenlange Mäntel gehüllt. Rektor Wehling ging auf die beiden zu und begrüßte sie, doch auch während des Gesprächs fixierten sie immer wieder einzelne Schülergruppen.

Wenn diese schrägen Figuren neue Lehrer sind, werden wir noch viel Spannendes zu hören bekommen, ging es Rainer Pietsch durch den Kopf, und er bog grinsend in die nächste Querstraße ein.

Ein kalter Blick vom Schulhof aus verfolgte ihn, bis er mit dem Van außer Sichtweite war.

 

»Und, wie war’s?«

Rainer Pietsch gönnte sich noch einen Nachschlag und sah erwartungsvoll in die Runde. Zum Ende seines freien Tages hatte sich die ganze Familie wieder am Esstisch versammelt. Um eine große Schüssel Spaghetti und einen dampfenden Topf Hackfleischsoße herum sah er müde Gesichter.

»War okay«, brachte Michael zwischen zwei Bissen hervor. Sarah zuckte mit den Schultern und aß ungerührt weiter.

»Und du, Lukas? Hast du auch so viel zu erzählen wie die beiden?«

»Ich sitze neben Kevin«, sagte er und sah nicht sehr begeistert aus.

Mit Kevin Werkmann hatte er sich im Vorjahr immer wieder gekabbelt, und die beiden waren das ganze fünfte Schuljahr über nicht richtig warm miteinander geworden.

»Das ist Pech«, nickte Annette Pietsch, die den Ärger mit Kevin noch gut in Erinnerung hatte. Kevin galt mit Übergewicht, Brille und einem Hang zum Stottern in seiner Klasse nicht gerade als besonders cool – und entsprechend ruppig wurde er, wenn er jemanden fand, dem er sich überlegen fühlte. Im vergangenen Jahr hatte es immer wieder den schmächtigen und etwas schüchternen Lukas getroffen.

»Halb so schlimm«, brummte Lukas schließlich. »Wir werden uns schon aneinander gewöhnen, heute ging’s eigentlich ganz gut. Und Frau Moeller meinte auch, dass wir die Sitzordnung nach den Herbstferien noch ein bisschen verändern können.«

»Frau Moeller?«

»Ja, unsere Klassenlehrerin. Die ist neu an der Schule und hat unsere Klasse übernommen.«

Die bisherige Klassenlehrerin war ein paar Wochen vor den Sommerferien in Mutterschutz gegangen.

»Und wie ist sie so, diese Frau Moeller?«

»Na, geht so. Streng, etwas pingelig.«

»Vielleicht wird’s ja etwas ruhiger in eurer Klasse.«

»Kann gut sein. Und einen Spitznamen hat sie auch schon.«

»Das ging aber fix. Welchen denn?«

»Vogelscheuche.«

»Ach«, lachte Rainer Pietsch. »Ich glaube, die habe ich heute früh schon gesehen.«

Alle am Tisch sahen ihn mit großen Augen an.

»Na ja, wenn sie Vogelscheuche genannt wird … Groß? Hager? Altmodischer Mantel? Irgendwie schräg?«

Lukas nickte jedesmal und grinste immer breiter.

»Die stand mit einem Mann, der ihr ziemlich ähnlich sah, auf dem Schulhof und wurde von eurem Rektor begrüßt.«

»Und ihr Mann ist jetzt unser Klassenlehrer«, schaltete sich Sarah ein. »Den habe ich in Mathe und Geschichte. Ein gruseliger Typ, irgendwie.«

»Gruselig?«, fragte ihre Mutter.

»Der ist so komisch angezogen. Dieser lange Mantel, und darunter hatte er heute eine grobe Kordhose an, ein kariertes Hemd und breite Hosenträger. Das geht ja wohl gar nicht, oder?«

»Ach, wenn euer Lehrer nur den einen Fehler hat, deinen modischen Vorstellungen nicht zu entsprechen – ich glaube, damit kann ich leben.«

Alle lachten, nur Sarah zog einen Schmollmund.

»Komm schon«, besänftigte sie Rainer Pietsch. »Ich seh für dich doch auch aus wie frisch aus der Kleidertonne gezogen, oder?«

Sarah grinste.

 

Am nächsten Tag kam Rainer Pietsch spät von der Arbeit nach Hause. Seine Frau hantierte geräuschvoll in der Küche, der würzige Duft machte ihm Appetit auf das Abendessen. Sarah und Michael saßen am Esstisch und waren offenbar noch mit den Hausaufgaben beschäftigt. Lukas lümmelte nebenan vor dem Fernseher.

»Na, so fleißig heute?«

»Hör bloß auf«, stöhnte Sarah. »Der Moeller spinnt. Der packt uns ein Pensum drauf, das sich gewaschen hat. Und dann immer noch ein paar Extras – ›damit man sich schneller kennenlernt‹, wie er meint. Ätzend.«

»Klingt ganz danach, als würde dieses Schuljahr nicht anders ablaufen als das vorige. Ätzend hast du auch damals schon alles gefunden.«

Fröhlich wandte sich Pietsch ab, ging in die Küche, lugte in einen der Töpfe und gab seiner Frau dann einen Begrüßungskuss.

»Na«, sagte sie und stupste ihn auf die Nase, »an der Reihenfolge müssen wir aber noch arbeiten.«

»Welche Reihenfolge?«

»Erst in den Topf schauen und mich dann erst küssen? So geht das nicht, mein Lieber!«

»Man muss eben Prioritäten setzen«, lachte er und wich dem Rührlöffel aus, den sie in seine Richtung schwang.

»Raus hier«, rief sie und versuchte trotz ihres Grinsens empört zu klingen. »Sonst kannst du dir heute Abend ein Brot schmieren.«

»Das kann ich nicht riskieren. Übrigens: sorry – ich wäre heute mit Kochen dran gewesen, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Wir hatten noch ein Meeting. Unsere Chefs werden gerade etwas nervös, die Auftragslage könnte besser sein. Und wahrscheinlich wollen sie uns mit Konferenzen, die über den normalen Feierabend rausgehen, den Ernst der Lage deutlich machen, was weiß ich.«

»Dann kochst du eben morgen – heute hat es mir eh besser gepasst. Wir waren mit dem Catering schon recht früh fertig. Und Fischplatten waren auch nicht bestellt.«

Pietsch schnupperte an ihrer Schulter.

»Stimmt: Heute riechst du lecker.«

»Was heißt hier: heute? Mach lieber, dass du rauskommst, sonst …«

Sie drohte ihm noch einmal lachend mit dem Rührlöffel, und Rainer Pietsch trat grinsend den Rückzug an. In der Tür zum Flur stieß er fast mit Michael zusammen, der dort stand und ein Blatt Papier und einen Stift in der Hand hielt.

»Was ist denn?«

»Ich muss dich was fragen. Ist für die Hausaufgaben.«

»Klar, kein Problem. Ich wollte eh gerade zu euch rüber.«

Sie setzten sich an den Esstisch, wo auch Sarah auf ihren Vater zu warten schien.

»Das wird aber jetzt keine Familienkonferenz, oder? Tut mir echt leid, dass ich heute so spät heimgekommen bin – ich hab’s Mama auch schon gesagt.«

»Nein«, schüttelte Sarah den Kopf. »Wir wollen nur etwas von dir wissen, wegen dieses Fragebogens hier.« Sie hielt ein Blatt hoch, wie es auch Michael vor sich liegen hatte.

»Ein Fragebogen? Na, meinetwegen. Schießt mal los.«

»Das meiste wissen wir ja selbst: dein Job, Mamas Cateringservice, unser Haus, wann ihr geheiratet habt und so.«

»Wer will das denn alles wissen?«

»Der Moeller. Der will uns doch kennenlernen, das habe ich dir doch gerade vorhin gesagt.«

»Aha, und dazu braucht er den Fragebogen.«

»Genau.«

»Und Michael hat denselben? Hast du auch den Moeller als Lehrer?«

»Nein, seine Frau. Aber die ist genauso drauf.«

Rainer Pietsch schüttelte den Kopf. »Also, dann fragt mich mal.«

»Du hast Abitur gemacht, richtig?«

»Ja.«

»Und danach?«

»Äh … das müsst ihr echt da reinschreiben? Wozu soll das gut sein?«

»Jetzt sag halt!«

»Bundeswehr, Ausbildung, Job. Jahreszahlen wirst du hoffentlich nicht auch noch brauchen.«

»Nein. Okay … dann zu Mama: auch Abitur, und dann?«

»Hat BWL studiert, ihr Diplom gemacht und war dann im Controlling unserer Firma angestellt. Und vor deiner Geburt ist sie dann in Mutterschutz gegangen.«

»Und seit ein paar Jahren hat sie den Cateringservice.«

Rainer Pietsch nickte.

»Warum ist sie eigentlich nicht mehr in die alte Firma zurück?«

»Was hat das denn in diesem Fragebogen zu suchen?«

»Nein, nichts – das interessiert mich nur so.«

»Na ja, die hatten ihr eine kleine Abfindung angeboten, wenn sie auf ihren Anspruch auf eine Teilzeitstelle verzichtet. Und irgendwie hatte sie ohnehin keine Lust mehr auf den Bürojob.«

»Ah, gut«, meldete sich Michael zu Wort. »Das passt hier rein: Mama hat also Spaß an ihrem jetzigen Beruf, ja?«

Rainer Pietsch sah seinen Sohn verblüfft an.

»Äh … ja. Und ich auch. Sollt ihr das da reinschreiben?«

»Ja.«

»Lass mal sehen«, sagte er und drehte das Blatt so, dass er es lesen konnte. »Ausbildung und Beruf der Eltern«, las er, »Familienstand, Wohnsituation.«

Das Blatt war von Michael dicht beschrieben und die Schrift sah auffallend ordentlich aus.

»Du hast dir ja richtig Mühe gegeben«, lobte er ihn.

»Na ja, die Moeller hat schon durchblicken lassen, dass wir uns anstrengen sollen. Sie will viele Infos, wir sollen genau arbeiten und lesbar schreiben – sonst müssen wir alles noch mal machen.«

»Tja, wenn das so gut anschlägt bei dir, ist dagegen nicht viel zu sagen«, grinste Rainer Pietsch.

Michael brummte missmutig und wollte das Blatt wieder zu sich herüberziehen.

»Nein, lass mal, ich bin noch nicht ganz durch.«

Michael hatte recht detailliert das Haus der Familie beschrieben, hatte auch erwähnt, wann sie von ihrer Eigentumswohnung ein paar Straßen weiter hierhergezogen waren.

Der unterste Fragenblock war noch nicht beantwortet. Unter der Überschrift »Gefühle« wurde hier unter anderem gefragt: »Lieben dich deine Eltern? Liebst du deine Eltern?«

Rainer Pietsch grinste.

»Das will ich unbedingt lesen, wenn ihr es ausgefüllt habt. Vielleicht kopier ich’s mir auch.«

Dann fiel sein Blick auf die untere rechte Ecke des Blattes.

»Wieso steht da Seite 5 von 5? Habt ihr noch mehr ausfüllen müssen?«

»Ja«, sagte Sarah. »Eben noch die anderen vier Seiten – aber das haben wir schon in der Schule gemacht.«

»Aha, und worum ging’s da?«

»Na ja, eigentlich so das Übliche: Ob wir Allergien haben, ob wir eine Klasse wiederholt haben, in welchen Fächern wir unsere Stärken und unsere Schwächen sehen, wer unsere besten Freundinnen und Freunde sind – so was halt.«

»Und damit seid ihr in der Schule nicht fertig geworden, deshalb müsst ihr den Rest zu Hause machen?«

»Nicht ganz. Die ersten vier Seiten sollten wir unbedingt in der Schule ausfüllen – diese Seiten hat der Moeller auch gleich eingesammelt.«

»Seine Frau auch«, fügte Michael hinzu.

»Manchmal bin ich ganz froh, dass ich nicht mehr zur Schule muss.«

»Darf ein Vater so was eigentlich sagen?«, grinste Sarah.

»Sollte er lieber nicht, was?«

»Doch, doch, Papa«, lachte Michael. »Das werde ich mir merken!«

Sarah und Michael beugten sich wieder über ihre Blätter und schrieben weiter.

»Sagt mal«, fiel Rainer Pietsch dann noch ein. »Sarah hat gesagt, es ging eigentlich um das Übliche – ging es denn sonst noch um irgendwas?«

Michael druckste herum.

»Ach, so Themen wie …«, Sarah dachte kurz nach, »na: Ob ihr uns manchmal noch in den Arm nehmt und so. Ob ihr euch noch küsst. Ob ihr nackt aus der Dusche kommt, wenn wir euch sehen könnten. Voll peinlich fand ich das.«

»Und das habt ihr beantwortet?«

»Ist uns allen, glaube ich, nicht leicht gefallen. Aber der Moeller ist dann durch die Sitzreihen gegangen und hat uns versichert, dass davon außer ihm niemand etwas erfahren würde. Und dass das doch auch nichts sei, wofür man sich schämen müsse. Schließlich sei es wichtig, dass man seine Gefühle auch benennen und ausdrücken könne. Der hat gar nicht mehr aufgehört zu schwafeln. Und als ich dann gefragt habe, ob man diese Felder auch frei lassen könne, meinte er nur: ›Klar, lass sie frei – aber wer nichts zu verbergen hat, kann es sich allemal leisten, alle Fragen zu beantworten.‹ Da habe ich mich dann nicht mehr getraut und alles reingeschrieben.«

»Alles?«

»Na, dass ihr euch noch mögt, noch küsst und so. Das ist ja wirklich kein Geheimnis, oder?«

»Nein, eigentlich nicht. Und du, Michael?«

»Och …«

»Hm?«

»Das ist doch voll peinlich, das alles. Aber bei uns hat die Moeller auch nicht locker gelassen. Hat davon erzählt, dass gerade Jungs mit offenen Antworten auf solche Fragen beweisen könnten, dass sie starke Charaktere sind – solches Zeug halt.«

»Und was hast du dann geschrieben?«

»Dass ihr mich natürlich noch in den Arm nehmt. Dass ich mich, als ich mir in den Ferien das Knie aufgeschlagen hatte, auf deinen Schoß setzen und heulen durfte. Und dass ich weiß, dass du davon nie jemandem erzählen würdest.«

»Das stimmt ja auch alles.«

»Ja. Aber ich hoffe echt, dass die Moeller das wirklich für sich behält. Wenn das die anderen Jungs zu lesen kriegen, bin ich geliefert.«

»Typisch!«, neckte ihn Sarah. »Sonst hast du keine Sorgen, was?«

Minuten später beruhigte sich das typische abendliche Gekabbel unter Geschwistern, als die Familie vor vollen Tellern saß und sich das Abendessen schmecken ließ.

 

Im Lehrerzimmer herrschte der übliche Trubel. Von draußen lärmten die vertrauten Pausengeräusche herein, die Tür zum Flur hinaus öffnete sich, wurde zugeschlagen, wieder aufgerissen.

»So«, schnaufte Jörg Zimmermann, zog sich das Kordjackett aus und ließ sich schwer in seinen Stuhl fallen, »zwanzig Minuten Pause.«

Neben ihm putzte sich Frido Hässler die Nase, um den strengen Geruch loszuwerden, den Zimmermanns Jackett ausströmte. Als er fertig war, musste er einsehen, dass er nichts gewonnen hatte: Zimmermann klappte eine Plastikdose auf und Aromen von Leberwurst und sauren Gurken mischten sich in den Schweißgeruch.

»Und? Schon wieder schlapp?«

Zimmermann brummte etwas und biss ein großes Stück von seinem Wurstbrot ab. Auch ohne sein Gegenüber Hannes Strobel anzusehen, wusste er, dass der Kollege spöttisch grinste. Strobel, Sport und Mathe, war sehr zufrieden mit sich. Und daraus, dass er den am großen Tisch ihm gegenübersitzenden Zimmermann, Deutsch und Geschichte, für eine Flasche hielt, hatte er noch nie einen Hehl gemacht.

»Ach, Strobel, du hast doch keine Ahnung«, brachte Zimmermann resigniert zwischen zwei Bissen hervor. »Ich sag nur: neunte Klasse, Argumentation und Erörterung.«

»Ja, und? Bei mir sind die alle auf Zack!«

»Klar, wenn ich die Kurzen erst einmal ein paar Runden im Kreis rennen lassen könnte, hätte ich auch meine Ruhe.«

»In Mathe rennt bei mir niemand, Zimmermann«, brauste Strobel auf. »Disziplin ist Kopfsache!«

Zimmermann freute sich, dass er wie jedesmal den richtigen Knopf gefunden hatte, um den Kollegen an die Decke gehen zu lassen. Das war auch nötig, denn dass Strobel mit seinen Schülern besser zurechtkam als er, machte ihm durchaus zu schaffen.

»Brauchst gar nicht so dämlich zu grinsen, mein Lieber«, brummte Strobel. »Nimm dir lieber ein Beispiel an unseren Neuen.«

Zimmermann verschluckte sich, hustete, rang nach Luft. Hässler klopfte ihm im Reflex ein paarmal auf den Rücken.

»Lass das, Hässler«, rief Strobel, »das macht es nur noch schlimmer. Das solltest du eigentlich wissen.«

Hässler, Biologie und Erdkunde, kümmerte sich nicht weiter um Strobel.

»Geht’s wieder?«, fragte er schließlich, als sich Zimmermann leidlich beruhigt hatte.

Zimmermann nickte und wischte einige Brotbrösel von der Tischplatte. Dann zog er eine kleine Plastikflasche aus der Tasche und nahm einen kräftigen Schluck.

»Vielleicht solltest du da mal lieber einen ordentlichen Klaren reinkippen«, höhnte Strobel, »und nicht immer nur dieses labbrige Saftschorlezeug. Vielleicht würde dich das etwas ruhiger machen.«

»Musst du dich nicht schon mal aufwärmen«, fragte Hässler in scharfem Ton, »damit du in der Turnhalle überhaupt noch mit den Kids mithalten kannst?«

Strobel schnaubte, stand dann aber wortlos auf und ging zur Kaffeemaschine hinüber.

»Danke«, keuchte Zimmermann und räusperte sich.

»Ach, dieser Strobel«, winkte Hässler ab. »Weißt du, Jörg, um den solltest du dich gar nicht kümmern. Zu viele Kopfbälle, nehme ich an«, lachte er und brachte Zimmermann immerhin zum Lächeln.

»Aber diese Neunte macht mich echt fertig«, sagte Zimmermann dann und wurde wieder ernst. »Die tanzen mir total auf der Nase rum.«

»Vielleicht solltest du …« Hässler brach mitten im Satz ab, eine Hand hatte sich schwer und kalt auf seine linke Schulter gelegt.

Zimmermann sah zu Hässler, dann fiel ihm der Kollege hinter Hässler auf: Es war der Neue, der mit besorgt wirkendem Blick auf die beiden Lehrer heruntersah und trotz der Wärme im Zimmer seinen üblichen grauen Mantel trug. Zimmermann fröstelte und griff nach seinem Jackett.

»Wenn ich helfen kann«, sagte Moeller mit leicht schnarrender Stimme, »lassen Sie es mich bitte wissen.«

»Ja, ja, mach ich«, brachte Zimmermann noch hervor, »aber ich muss jetzt auch wieder.«

Damit war er auch schon auf dem Weg zur Ausgangstür. Moeller sah ihm aufmerksam nach, und auch Hässler packte seine Unterlagen zusammen und murmelte eine Verabschiedung.

In den folgenden Tagen kehrte im Haus der Pietschs der Alltag ein. Rainer Pietsch schaffte es fast täglich pünktlich nach Hause, Annette bekam einige interessante Catering-Aufträge, und aus der Schule war nichts Seltsames zu hören.

Die Kinder schienen nach den langen Ferien auch allmählich wieder in Tritt zu kommen. Es wirkte sogar ganz so, als seien sie nun doch ein Jahr älter geworden: Wenn sie nach Hause kamen, flogen die Ranzen nicht mehr im hohen Bogen in irgendeine Ecke des Flurs, sondern jedes Kind trug den Ranzen in sein Zimmer, stellte ihn fein säuberlich neben den Schreibtisch und setzte sich ohne großes Trödeln sofort an die Hausaufgaben.

Und als die erste Schulwoche vorüber war, lagen drei Schreiben im Eingangskörbchen für Post, Broschüren und Einkaufsmerkzettel: drei Einladungen zum Elternabend, und zwar schon für die kommende Woche.

»So früh diesmal?«, fragte Annette Pietsch nach dem Abendessen.

»Die Moellers sind wohl von der schnellen Truppe«, grinste Sarah.

»Wieso die Moellers? Ich dachte, nur Lukas hat Frau Moeller als Klassenlehrerin – und Termine für die Elternabende setzen doch die Klassenlehrer fest und sprechen das mit den Elternbeiräten ab.«

»Sagen wir es mal so: Die beiden haben offenbar ein sehr einnehmendes Wesen – die anderen Lehrer scheinen sie zu akzeptieren und sich auch von ihnen überreden zu lassen. Ich glaube, die beiden neuen Lehrer haben an der Schule schon einen ziemlich guten Stand.«

»In der kurzen Zeit? Respekt!«

»Und sie sind offenbar davon überzeugt, dass man möglichst schnell die Eltern an den Schulthemen beteiligen sollte und dass deshalb der Elternabend gar nicht früh genug im Schuljahr stattfinden kann.«

»Das klingt gut«, fand Annette Pietsch. »Dann lernen wir die auch mal alle beide kennen. Ich bin schon ganz gespannt.«

»Ich auch«, schloss sich ihr Mann an, schenkte sich ein Bier ein und ging mit den anderen ins Wohnzimmer hinüber.

Nur Lukas blieb noch kurz sitzen, ehe er ohne ein weiteres Wort in sein Zimmer hinaufging und sich schlafen legte. Am nächsten Morgen fanden sie ihn noch immer schlafend in seinem Bett, in den Kleidern vom Vortag, mit verwuschelten Haaren und dunklen Ringen unter den Augen. Als ihn seine Mutter weckte, schreckte er hoch und sah sich einige Augenblicke verwirrt um.

»Na, du Langschläfer«, neckte ihn Annette Pietsch. »Kommst du zum Frühstück?«

»Ja, gleich, Mama«, hauchte er und blieb noch kurz liegen.

Erst als seine Mutter das Zimmer verlassen hatte, huschte er ins Bad hinüber, zog seine feuchte Unterhose aus und stopfte sie zusammen mit seiner Jeans ganz nach unten in den Wäscheberg.

 

Rektor Wehling schlenderte gemächlich auf die Kollegen zu, die sich unter der großen Ulme im Pausenhof versammelt hatten.

»… ist mir irgendwie nicht geheuer«, hörte er Frido Hässler noch sagen, dann drehten sich einige der Männer und Frauen zu ihrem Vorgesetzten um und sahen ihm stumm entgegen.

»Na?«, sagte Wehling in die Runde, und er versuchte seiner Stimme einen möglichst leutseligen Klang zu geben – die Spannung unter der Ulme war fast mit Händen zu greifen. »Haben Sie den Mädels ihren Stammplatz streitig gemacht?«

Er nickte lächelnd zu einigen Mädchen aus der neunten Klassenstufe hinüber, die heute ausnahmsweise am Rand des Schulhofs beisammenstanden statt wie sonst unter dem großen Baum.

»Und was ist Ihnen nicht geheuer, lieber Hässler?«, setzte er nach.

»Ich … na ja, machen wir es kurz: Unsere beiden neuen Kollegen kommen mir manchmal ein wenig seltsam vor. Immer kontrolliert, immer konzentriert, und die Kinder kuschen schon nach kurzer Zeit vor ihnen.«

»Neidisch?«, fragte Wehling lachend, legte Hässler aber zugleich besänftigend eine Hand auf den Arm. »Nicht böse gemeint, Hässler, nicht böse gemeint.«

»Irgendwie kommen mir die beiden halt komisch vor, ich weiß auch nicht. Selbst wenn sich Franz Moeller im Lehrerzimmer hinter mich stellt, habe ich das Gefühl, dass mich ein kalter Hauch streift.« Hässler hob sofort abwehrend die Hände: »Ich weiß, das klingt schräg, sorry, aber … Ich kann irgendwie nicht in Worte fassen, warum die beiden ein solches Unbehagen in mir auslösen.«

»Für Vampire werden Sie sie aber hoffentlich nicht halten, oder?«

»Ach, Quatsch, diese Bella-Edward-Geschichten überlasse ich meiner Tochter. Schlimm genug, dass die das liest. Trotzdem …«

»Ich sehe ja selbst«, redete Wehling beruhigend auf Hässler und die anderen ein, »dass Rosemarie und Franz Moeller … nun, sagen wir: schon optisch nicht ganz dem entsprechen, was wir sonst im Lehrerzimmer sehen. Aber sie haben exzellente Zeugnisse, Empfehlungen von ihren bisherigen Schulen – und, ganz ehrlich: Wenn in dieser Zeit zwei offenbar sehr qualifizierte Lehrer aus einem anderen Bundesland zu uns kommen, sollten wir dafür dankbar sein. Wir sind hier zwar nicht in Winnenden, aber Probleme gibt es auch in unserer Stadt und an unseren Schulen.« Er legte eine kurze Pause ein und streifte alle in der Gruppe mit einem freundlichen Blick. »Das wissen Sie doch am allerbesten.« Noch eine kurze Pause. »Ich bin jedenfalls froh, dass wir sie haben – und sie scheinen der Disziplin an unserer Schule ja auch gutzutun, das haben Sie selbst gesagt, Herr Hässler.«

 

»He, pass doch auf!«

Marius Meiring fuhr herum und baute sich so dicht vor Lukas Pietsch auf, dass sich fast die Nasen der beiden berührten. Lukas wich einen Schritt zurück, Marius rückte nach.

»Was willst du eigentlich von mir?«, fragte Lukas. »Du hast mich schon gestern so blöd angemacht, ich weiß gar nicht, was das soll!« Er gab sich forsch, aber insgeheim setzte es ihm zu, dass sich schon so kurz nach dem Beginn des Schuljahrs neuer Streit abzeichnete – würde Marius in diesem Jahr Kevins Rolle übernehmen und sich immer wieder mit ihm anlegen? »Außerdem hast du mich angerempelt, ich stand hier nur und habe gar nichts gemacht!«

»Hört ihr das, Leute?«, fragte Marius die Jungs, mit denen er meistens herumhing. Sein Tonfall klang höhnisch, Lukas ahnte schon, dass es wieder Ärger geben würde.

Der müde Benjamin, der fahrige Claas und der hagere Hype, der eigentlich Heiko hieß, aber auf keinen Fall so genannt werden wollte: Marius’ kleine Gang schloss ihren Kreis um Lukas.

»Lasst mich doch in Ruhe, Leute«, bat Lukas die vier Klassenkameraden. »Ich will einfach keinen Ärger, okay?«

»Ach, heul doch, du Mädchen!«, schnauzte Hype und schubste Lukas.

»Genau, heul doch!« echote Benjamin und schubste Lukas in die andere Richtung.

Claas trat unruhig von einem Bein aufs andere und sah abwechselnd zu Lukas und zu Rosemarie Moeller, die neben dem Schuleingang stand, als hätte sie schon wieder Pausenaufsicht.

»Was wollt ihr eigentlich von mir?«, sagte Lukas. »Ich hab euch doch nichts getan!«

»Du hast die Moeller gehört.«

»Die Moeller?«

»Die hat uns in den Senkel gestellt, als wir uns mit Kevin beschäftigt haben. Und dann hat sie uns einen Rat gegeben.«

»Aha, und welchen?«

»Sie hat uns angemacht, dass wir uns nicht zu viert über den armen Kevin hermachen sollen, der doch eigentlich gar kein würdiger Gegner für uns sei.«

»Und der bin ich jetzt, oder was?«

»Nein, du bist auch so eine Pfeife wie Kevin – aber der Dicke scheint ja im Moment unter Welpenschutz zu stehen. Also bist du an der Reihe, zum Üben sozusagen.«

»Ihr habt doch einen Knall, ehrlich!«

Benjamin trat direkt hinter Lukas und kickte ihm in die Kniekehlen. Lukas sackte ein wenig hinunter, genau dem rechten Knie von Marius entgegen, das ihn hart zwischen den Beinen traf.

»He, Leute, aufhören!«, rief Claas. »Die Moeller schaut her!«

Marius und die anderen traten einen Schritt zurück, dann raunte Marius dem sich vor Schmerzen krümmenden Lukas noch ins Ohr: »Bring morgen mal lieber Kohle mit, sonst werden wir richtig ungemütlich. Verstanden?«

 

Michael Pietsch stand mit zwei Freunden etwas abseits und wirkte genervt, weil sich die beiden anderen unablässig über zwei Mädchen unterhielten, die im Musiksaal direkt vor ihnen saßen: Alexandra und Marcella, beide recht hübsch und ziemlich nett, mit langen schwarzen Haaren. Aber eben Mädchen.

»Mensch, jetzt hört doch endlich mit diesem Gesülze auf – das nervt«, sagte er schließlich. »Ihr vertrödelt die ganze Pause mit dem Gelaber über die beiden, und ganz ehrlich: Die wissen doch gar nicht, dass ihr überhaupt existiert!«

»Du hast doch keine Ahnung!«, maulte Petar, der Stämmigere seiner beiden Freunde. »Erst gestern hat mir Marcella wieder zugelächelt.«

»Und Alexandra …«, begann der hagere Ronnie, aber da sah sich eines der Mädchen gerade auf dem Schulhof um, als suche sie jemanden. Ihr Blick streifte auch die drei Jungs, blieb aber nicht an ihnen haften. Ronnie lief puterrot an und sah zu Boden.

Michael verdrehte die Augen.

»Für die seid ihr doch Kinder«, sagte er kopfschüttelnd, und als Petar schon wieder protestieren wollte, hob Michael abwehrend beide Hände und deutete dann auf einen Jungen aus der Neunten, der gemächlich über den Hof schlurfte: »Der Typ dort drüben – auf den stehen sie. Schaut euch nur an, wie sie ihm hinterhersehen.«

»Pah«, machte Ronnie, aber er klang schon jetzt ein wenig eingeschnappt und sah dem Älteren scheel nach.

»Das ist Sören, der geht mit meiner Schwester in die 9c«, erzählte Michael.

»Ja, ja, schon gut, wir wissen, wer das ist«, brummte Petar.

»Der ist cool, den mögen alle – und er ist etwas älter als eure Traumfrauen. Da habt ihr schlechte Karten, Jungs, damit solltet ihr euch abfinden.«

Sören war inzwischen bei einer Gruppe am anderen Ende des Schulhofs angekommen. Er klatschte einige der Jungs ab und plauderte lächelnd auf eines der Mädchen ein – ganz offenbar war der coole Sören nicht nur unter Siebtklässlerinnen mächtig angesagt.

 

Rosemarie Moeller stand seit Beginn der großen Pause kerzengerade und unbeweglich in der Nähe der Eingangstür. Immer wieder ließ sie ihren Blick über den Hof schweifen, sah einige Schüler tadelnd an, die sich gerade balgen wollten, fixierte dann ein Liebespärchen aus der elften Klasse, das auffällig unauffällig in einer Ecke zusammenstand, und sah zwischendurch immer wieder zu den Lehrerkollegen hinüber, die unter der großen Ulme standen und offenbar eifrig miteinander diskutierten.

Eine Weile beobachtete sie einen Neuntklässler: Er schlenderte gemächlich quer über den Schulhof, verfolgt von den Blicken des einen oder anderen Mädchens, und wurde von der Schülergruppe, bei der er schließlich ankam, überaus freundlich begrüßt.

Schließlich blickte sie auf die gegenüberliegende Ecke des Pausenhofs, wo ebenso kerzengerade und unbeweglich ihr Mann stand. Franz Moeller hatte ebenfalls die Gruppe unter dem Baum gemustert und sah nun zu seiner Frau herüber. Nach einem kurzen Moment nickte er ihr zu, und die beiden gingen kurz nacheinander zurück ins Schulgebäude.

 

Als Rektor Wehling mit dem Klingeln der Pausenglocke das Gebäude betrat und dabei die letzten Nachzügler aus der Oberstufe vor sich her zu ihren Klassenzimmern scheuchte, sah er am anderen Ende des Flurs Rosemarie und Franz Moeller beisammenstehen.

Sie unterhielten sich mit ernsten Mienen, und mit etwas langsamerem Schritt ging Wehling nun auf die beiden zu. Als er noch ein paar Meter entfernt war, glaubte er den Namen Sören Karrer zu hören, aber noch bevor er wirklich verstehen konnte, was die beiden so intensiv zu besprechen hatten, bemerkten sie ihn. Rosemarie Moeller verstummte augenblicklich und sah ihrem Vorgesetzten gespannt entgegen, Franz Moeller begrüßte Wehling freundlich.

»Na, Freistunde?«, fragte Wehling, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

Rosemarie Moeller zog eine Augenbraue hoch.

»Nein, nein, Herr Wehling«, versicherte ihm Franz Moeller. »Wir gehen auch gleich in unsere Klassen – aber ich habe den Eindruck, dass uns die Schüler nicht böse sind, wenn wir uns mal ein paar Minuten verspäten.«

Franz Moeller lachte, Wehling lachte mit, Rosemarie Moeller verzog keine Miene.

Schließlich schob Rektor Wehling noch ein paar launige Sprüche hinterher, verabschiedete sich und eilte die Treppe hinauf zum Rektorat.

Rosemarie und Franz Moeller sahen ihm einen Augenblick nach. Als Wehling außer Hörweite und auch sonst niemand mehr in der Nähe zu sehen war, tauschten die beiden Lehrer noch die Namen einiger weiterer Schüler aus und machten sich auf den Weg zu ihren Klassen.

 

Rainer Pietsch ging ins Klassenzimmer seines Jüngsten und saß wie schon im Vorjahr auf einem für ihn viel zu kleinen Stuhl. Nach und nach füllte sich der Raum, und diejenigen Eltern, die sich über ihre Kinder näher kannten, plauderten fröhlich durcheinander.

Neben ihn setzte sich Christine Werkmann, die Mutter von Lukas’ Banknachbar Kevin. Sie nickte ihrem Stuhlnachbarn kurz zu, zog dann mit hektischen Bewegungen Stifte und einen Block aus ihrer Tasche und legte alles vor sich auf den Tisch.

»Na, geht’s gut?«, fragte Pietsch. Er hätte sich die Frage schenken können: Der Frau ging es offensichtlich alles andere als gut. Sie hatte tiefe Augenringe, und die leicht gerötete Nase deutete auf eine Erkältung hin.

»Muss ja«, sagte sie knapp, schien aber kein Interesse an einem längeren Gespräch zu haben. Sie schnäuzte sich und sah dann gespannt zur Tür. Pietsch folgte ihrem Blick: Mit wehendem Mantel eilte eine groß gewachsene, hagere Frau ins Zimmer, ließ einen abschätzenden Blick über die Anwesenden gleiten und ging zu ihrem Platz. Sie platzierte eine dünne Aktentasche auf dem Tisch, legte ihre Hände entspannt ineinander und stand nun kerzengerade und stumm da.

Die meisten Eltern hatten bemerkt, dass die Klassenlehrerin eingetroffen war, und setzten sich. Meiring, ein grobschlächtiger Handwerker und Vater des ziemlich begabten Marius, hatte mit dem Rücken zur Tür auf einem Tisch gesessen und wurde von seinem Gesprächspartner auf die Lehrerin aufmerksam gemacht. Meiring sah sich um, bemerkte den kalten Blick, mit dem Rosemarie Moeller ihn fixierte, und beeilte sich, auf dem Stuhl seines Sohnes Platz zu nehmen.

Allmählich verebbte ein Gespräch nach dem anderen.

»Wissen Sie, dass die Schüler sie Vogelscheuche nennen?«, raunte Pietsch seiner Nachbarin zu, doch die hörte kaum hin, wirkte nervös und sah aufmerksam zu der Lehrerin hin.

Es dauerte noch ein, zwei Minuten, bis Stille im Raum herrschte. Dann erst kam wieder Bewegung in die Lehrerin.

»Guten Abend, meine Damen und Herren.«

Sie klang sehr förmlich, etwas spröde. Ihre recht tiefe Stimme war fest und etwas schneidend.

»Ich begrüße Sie herzlich zum ersten Elternabend. Mein Name ist Rosemarie Moeller, ich bin seit Anfang dieses Schuljahres die Klassenlehrerin Ihrer Kinder. Und wer mit meinem normalen Namen noch nichts anfangen kann: Ich weiß, dass mich die Kinder insgeheim ›Vogelscheuche‹ nennen.«

Sie sah zu Rainer Pietsch hinüber. Er schluckte und fühlte sich wieder wie damals in der siebten Klasse, als er mit seinen Kumpels einen Mitschüler in den Papierkorb gesteckt hatte und dafür vom Rektor in den Senkel gestellt worden war. Um ihn herum wurde vereinzelt Gelächter laut, es klang aber eher nervös als befreiend – und Rosemarie Moeller verzog dazu keine Miene.

»Ich unterrichte Ihre Kinder im Fach Deutsch, und außerdem liegt es mir als Klassenlehrerin am Herzen, dass sie sich insgesamt weiterentwickeln. Dazu haben wir Ihren Kindern einige Fragen gestellt …«

»Sehr private Fragen!«, schnaubte Meiring.

Rosemarie Moeller sah ihn an und hob langsam die rechte Hand.

»Herr Meiring, wir wollen doch einige Grundregeln beachten: Wenn Sie etwas beizutragen haben, dann melden Sie sich bitte. Wenn wir das von Ihren Kindern erwarten, sollten wir ihnen kein schlechtes Beispiel geben, meinen Sie nicht auch?«

Meiring, dieser bullige Kerl, den Rainer Pietsch schon häufiger ruppig und selbstbewusst erlebt hatte, sackte unter dem Blick der Lehrerin regelrecht in sich zusammen. Rosemarie Moeller nickte kurz – seine Körperhaltung schien ihr Bestätigung genug, dass er sie verstanden hatte.

»Die Antworten Ihrer Kinder haben wir analysiert. Das zeigt uns Wege auf, wie Ihre Kinder ihr Leistungsvermögen steigern können. Und das« – sie sah noch einmal kurz zu Meiring hin – »ist uns doch allen wichtig, nicht wahr?«

Einige Eltern räusperten sich, viele nickten beflissen. Christine Werkmann wirkte unruhig, sie schob einen Stift hin und her und schlug ihren Block auf – auf der ersten Seite hatte sie sich Notizen gemacht. Rainer Pietsch lugte unauffällig hinüber, konnte aber nichts entziffern: Die Frau hatte eine fürchterliche Klaue.

In der ersten Reihe ging eine Hand nach oben, Rosemarie Moeller nickte knapp.

»Aber müssen Sie dazu wirklich wissen, wie groß unsere Wohnung ist?«, fragte Karin Knaup-Clement. »Und ob wir unsere Kinder noch in den Arm nehmen? Oder ob wir zulassen, dass unsere Kinder uns nackt sehen – das ist wirklich sehr privat, da hat Herr Meiring recht.«

Rosemarie Moeller lächelte der schlanken Unternehmensberaterin nachsichtig zu und nickte dann.

»Noch sind wir nicht ganz fertig mit unserer Analyse, aber zu fast allen Kindern haben wir schon vielversprechende Ansätze gefunden. Ihre Tabea zum Beispiel könnte in den Fremdsprachen ohne allzu große Mühe Einsen erreichen.«

»Einsen?«

Karin Knaup-Clement lachte kurz auf. Tabea war aktuell von kaum etwas so weit entfernt wie von einer Eins in Englisch, und auch für Französisch sah es nicht besonders gut aus.

»Ja«, nickte die Lehrerin und blieb ernst. »Dazu wäre es hilfreich, wenn sie beim Abendbrot ab und zu auch von der Schule erzählen und das Erlebte mit Ihnen teilen könnte. Ihr Beruf und der Ihres Mannes sind sicher sehr spannend, aber ob das für ein elfjähriges Mädchen wirklich das richtige Thema ist, an jedem Abend der Woche?«

Karin Knaup-Clement schnappte empört nach Luft, die mollige Frau neben ihr grinste.

»Und Ihr Benjamin, Frau Weber«, wandte sich Rosemarie Moeller an die Mollige, »tut sich morgens etwas schwer mit der Konzentration. Vielleicht gibt es ja die Möglichkeit, dass er ein Zimmer etwas weiter entfernt vom Elternschlafzimmer bekommen könnte?«

Ursel Weber lief puterrot an.

»Ein ungestörter Schlaf ist sehr wichtig für Kinder dieses Alters«, fuhr die Lehrerin ungerührt fort, »und ich hatte zudem den Eindruck, dass ihn manche Geräusche durchaus verstören.«

Rainer Pietsch verkniff sich ein Grinsen. So unterhaltsam war schon lange kein Elternabend mehr gewesen – obwohl ihm diese Lehrerin nicht ganz geheuer war.

Rosemarie Moeller nahm einige Notizen vom Tisch auf, blätterte ein wenig darin und legte die Blätter dann wieder weg. Das nahm zwei, vielleicht drei Minuten in Anspruch, aber im Klassenzimmer blieb es ruhig, alles wartete darauf, dass die Lehrerin fortfuhr. Rainer Pietsch konnte sich gut vorstellen, dass sie auch ihre jeweilige Klasse mit ihrer autoritären Art mühelos im Griff behielt.

Rosemarie Moeller wollte gerade weiterreden, als ihr Blick auf Christine Werkmann fiel – den erhobenen rechten Arm quittierte sie mit einem knappen Kopfnicken und legte den Kopf ein wenig schräg.

»Mein Sohn Kevin hat mir erzählt, dass er schon mehrfach seit Beginn des Schuljahres gehänselt wurde. Und er hat den Eindruck, dass das in den letzten Tagen schlimmer wurde.«

Einige Eltern verdrehten die Augen: Sie erinnerten sich noch gut an das vorige Schuljahr, als Kevin für viel Ärger gesorgt hatte, von seiner Mutter aber immer in Schutz genommen worden war.

»In den vergangenen Tagen, meinen Sie?«

Christine Werkmann sah sie verständnislos an.

»Nach den letzten Tagen kommen keine Tage mehr, und das wollen wir ja nicht hoffen.«

Einige Eltern grinsten, wurden aber gleich wieder ernst, als befürchteten sie, als Nächste ins Visier der stengen Lehrerin zu geraten.

»Das können Sie halten wie Sie wollen«, entfuhr es Christine Werkmann. »Ich habe jedenfalls ein Problem damit, dass in dieser Klasse ein Kind … ich sage mal: gemobbt wird, weil es vielleicht nicht der Norm entspricht.«

Rosemarie Moeller sah die Mutter ruhig an.

»Und diesen Eindruck haben Sie gewonnen?«, fragte sie schließlich.

Christine Werkmann nickte und hielt dem Blick der Lehrerin stand.

Rosemarie Moeller sah in die Runde.

»Sieht das noch jemand so?«

Keine Reaktion.

»Es wäre nicht in Ordnung, wenn ein Kind mit Übergewicht und Brille, mit etwas schwachem Willen und … nun ja: eingeschränkten Lernfähigkeiten in dieser Klasse … wie sagten Sie, Frau Werkmann? Gemobbt wird?«

Die Mutter nickte mit zusammengepressten Lippen, ihre Gesichtsfarbe nahm allmählich eine dunklere Färbung an.

»Wenn dieses Kind also gemobbt würde, wäre das natürlich auf gar keinen Fall in Ordnung. Und das wollen wir in dieser Klasse, an dieser Schule, auch nicht dulden. Deshalb noch einmal die Frage an Sie alle: Hat noch jemand den Eindruck, Kevin werde von seinen Mitschülern gehänselt, geärgert, unterdrückt?«

Niemand sagte etwas, nur wenn die Lehrerin jemanden direkt ansah, erntete sie ein knappes Kopfschütteln. Schließlich sah sie mit leicht fragendem Blick wieder zu Christine Werkmann hin.

»Typisch«, zischte die Mutter. »Hier kriegt doch keiner den Mund auf. Glauben Sie denn, dass hier jemand seine Kinder verpfeift?«

Der Blick der Lehrerin wurde leicht tadelnd.

»Und überhaupt: Sie beschreiben meinen Jungen, als sei er hier das Allerletzte – ist das die Art, mit der Sie die Kinder zu neuen Höchstleistungen antreiben wollen?«

»Ich habe nichts gesagt, was nicht zuträfe, Frau Werkmann. Und davor sollten gerade Sie als alleinerziehende Mutter nicht die Augen verschließen.«

Christine Werkmann sprang auf und funkelte die Lehrerin an.

»Alleinerziehend? Ja, und? Was hat das denn jetzt wieder damit zu tun? Ist es Ihnen unangenehm, wenn Familien nicht dem alten Heile-Welt-Bild entsprechen? Glauben Sie, ein Junge kann von seiner Mutter allein nicht großgezogen werden?«

Rosemarie Moeller ließ den Ausbruch ruhig über sich ergehen, die anderen Eltern verfolgten den Machtkampf interessiert, die meisten aber vorsichtshalber nur aus den Augenwinkeln.