Uwe Timm
Der Schatz auf Pagensand
Roman
Mit Vignetten des Autors
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Uwe Timm, 1940 in Hamburg geboren, gehört zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern der Gegenwart und machte sich mit ›Rennschwein Rudi Rüssel‹, für das er 1990 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt, auch als Kinderbuchautor einen Namen. Timm studierte Philosophie und Germanistik in München und Paris. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Lateinamerika und Afrika lebt er heute in München und Berlin.
Als Benno, Georg, Jan und Jutta heimlich mit einem alten Segelboot aufbrechen, um auf einer der vielen unbewohnten Inseln in der Elbe einen längst vergessenen Schatz zu heben, werden sie in immer größere Abenteuer verwickelt. Mit zahlreichen Karten und einem zusätzlichen Spezialauftrag des »Königs von Albanien« unterwegs, kommen ihnen sogar ein paar schießwütige Ganoven in die Quere. Doch damit nicht genug: Vor Pagensand erleiden die vier Schiffbruch und müssen plötzlich völlig auf sich gestellt um ihr Überleben kämpfen. Da machen sie eine folgenschwere Entdeckung …
Was für ein großer Abenteuerspaß – von Uwe Timm, einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller!
Ungekürzte Neuausgabe
© 2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Erstmals 1995 erschienen im Verlag Nagel & Kimche, Zürich
Umschlagbild: Ute Martens
Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook 978-3-423- 43746-2 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-76293-9
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ISBN (epub) 9783423437462
Für Katharina
Drei Wochen vor den großen Ferien kam Schaper, unser Deutschlehrer, in die Klasse und verteilte die Aufsatzhefte. Es war die letzte Arbeit vor Notenschluss. Zuerst verteilte er die Einser.
Sehr gut, Renate, sagte er.
Dann kamen die Zweier, dann die Dreier, Jan und ich bekamen unsere Hefte, dann die Vierer, Schaper warf Georg das Heft auf die Schulbank, und so ging es weiter, die Fünfer kamen, bis schließlich nur noch ein Heft übrig blieb und jeder wusste: Das ist das Heft von Benno. Der saß da und ahnte natürlich auch, was da auf ihn zukam. Eine Sechs. Und das hieß, er würde sitzen bleiben, endgültig, und damit musste er von der Schule abgehen.
Schaper hatte Lieblinge in der Klasse. All jene, die nie nämlich mit h schrieben, die zu ihm hochsahen, ab und zu mit dem Kopf nickten und auch dann laut lachen konnten, wenn er seine Witze über die Schüler riss, die er nicht mochte. Zu den Schülern, die er nicht mochte, gehörte von Anfang an Benno.
So, sagte Schaper, jetzt zu dir, er hielt das Heft mit den Fingerspitzen hoch wie eine stinkende Socke. Na, was denkst du, was das ist?
Ein Heft, sagte Benno.
Wir lachten, sogar die Lieblinge von Schaper lachten.
Werd nicht frech. Was hast du wohl für eine Note bekommen?
Eine Sechs.
Sehr gut. Aber deine Frechheiten werden dir noch vergehen. So, sagte er genüsslich zur Klasse, das Thema hieß doch »Unser Garten«. Oder täusche ich mich?
Jetzt will ich euch mal eine kleine Kostprobe vorlesen: »Die Kinder waren nachmittags wieder in den Garten gegangen. Die Büsche standen ganz dicht. Am Boden wuchs hoher Farn. Lianen hingen wie im Dschungel von den Bäumen. Sie gingen dem Schrei eines Paradiesvogels nach. Plötzlich merkten sie, dass sie sich verirrt hatten. ›Was machen wir jetzt?‹, fragte Andrea ihren Freund Otto.«
Schaper blickte hoch und in die Klasse. Tja, was hat der gute Otto da wohl gesagt? Er wartete darauf, dass gelacht wurde. Und tatsächlich lachten einige: die Schleimer.
Ist das nicht herrlich, sagte Schaper, kann man doch nur neidisch werden über den tropischen Garten, den ihr offenbar zu Hause habt.
Das war richtig gemein, denn Schaper wusste, dass Bennos Eltern keinen Garten hatten. Die wohnten in einer kleinen Etagenwohnung. Der Vater von Benno war bei den Hamburger Elektrizitätswerken beschäftigt. Er las in den Häusern die Stromuhren ab.
Und dann die Fehler, fuhr Schaper fort, alle Übungen der letzten Wochen umsonst. Wisst ihr, wie er Dschungel geschrieben hat? Er schrieb es an die Wandtafel. Schungell. Wieder wurde gelacht.
Ich sah zu Jan hinüber, der schüttelte nur den Kopf. Georg meldete sich. Georg hatte nicht mitgelacht.
Was denn? fragte Schaper unwirsch.
Ich denke, sagte Georg, Benno hat etwas anderes gemeint. Wie soll ich sagen, er hat einen Garten beschrieben, den es gar nicht gibt. Aber es wäre doch toll, wenn es so einen gäbe.
Unsinn, sagte Schaper, setzen.
Georg setzte sich mit finsterem Gesicht hin.
Jan meldete sich und fing sofort an zu reden: Mir hat das gut gefallen, was Sie da vorgelesen haben, und den Dschungel interessiert es doch nicht, wie er geschrieben wird.
Den Dschungel nicht, aber mich, und du hältst jetzt deinen vorlauten Mund!
Schaper ging durch die Reihen, klatschte Benno das Heft auf die Bank und sagte: 43 Fehler. Jetzt ist es klar, du gehst dahin zurück, wo du hingehörst, auf die Volksschule.
Hätte Benno in dem Aufsatz eine Vier geschrieben, dann hätte er eben noch die Kurve gekratzt. Aber jetzt, mit diesem letzten Aufsatz, kurz vor den großen Ferien, stand es fest, er bekam in Latein und Deutsch eine glatte Fünf.
Nach der Schule gingen Georg, Jan, Benno und ich wie immer noch ein Stück gemeinsam, bis zu der Haltestelle, wo ich den Bus nehmen musste.
Weißt du, versuchte Jan Benno zu trösten, ich fand das, was du geschrieben hast, viel besser als das, was ich geschrieben habe. Großes Ehrenwort.
Und zum Fußballspielen können wir uns ja immer noch treffen.
Ja, sagte Benno, aber man merkte, er war mit seinen Gedanken ganz woanders, und dann sagte er noch: Ich wäre jetzt gern irgendwo, wo mich keiner kennt.
Wirst du es deinen Eltern gleich sagen?
Ich glaube, ja.
Ist immer besser, so was gleich zu sagen und nicht lange zu warten.
Ja. Bis morgen. Er ging weg, schnell, fast lief er.
Diesem Schaper möchte ich am liebsten eine in die Fresse hauen, sagte Georg.
Georg ist der größte und älteste in unserer Klasse, überall sieht man sofort sein hellblondes Haar. Er ist auch sehr kräftig und wäre sicherlich der Beste im Sport, wenn nicht sein linkes Bein steif wäre. Georg war erst seit einem halben Jahr in unserer Klasse. Er kam vom Land. Ein Pferd hatte ihm vor fünf Jahren mit einem Hufschlag das Knie zertrümmert. Er war mehrmals am Knie operiert worden und hatte fast ein halbes Jahr im Krankenhaus liegen müssen, darum musste er eine Klasse wiederholen.
Schaper hätte Benno wirklich eine Vier geben können, meinte Jan, der ein guter Schüler ist, ein sehr guter sogar, aber er gehört nicht zu den Schleimern. Im Gegenteil, er legt sich regelmäßig mit den Lehrern an. Allerdings haben die es auch nicht leicht mit ihm, Jan ist rechthaberisch. Er kann einem ziemlich auf den Geist gehen, weil er immer die erste Geige spielen will und alles besser weiß. Aber er ist nicht hinterhältig und er kann manchmal, wenn er nicht gerade mal wieder recht haben will, sehr witzig sein.
Ich war richtig gespannt darauf, sagte ich, wie der Aufsatz weitergeht. Dabei interessiert einen doch wirklich nicht, wie Dschungel geschrieben wird.
Das war sonderbar an Benno. Er schrieb so, als sei die Rechtschreibung noch nicht erfunden worden, mal schrieb er Rababa, dann wieder Rharbara, das nächste Mal Rarbahrba. Und aus »Nachbar« wurde manchmal »Nachtbar«, ganz witzig, aber Schaper fand das überhaupt nicht witzig, sondern nur dusselig.
Was Georg, Jan und mir damals gleich klar war: Die letzten drei Wochen würden für Benno verdammt schwer werden. Jeder wusste, Benno musste von der Schule abgehen, aber die drei Wochen bis zu den Sommerferien hatte er eben noch abzusitzen.
Am nächsten Tag fragte ich Benno, was seine Eltern gesagt hätten.
Meine Mutter hat gesagt: Schade, schade. Abends hat sie mir mein Lieblingsessen gemacht: Rotkohl mit Kalbsbratwurst.
Und dein Vater?
Der – Benno zögerte – der hat rumgemeckert, hat gesagt, ich bin ein Versager. Ja. Und seitdem spricht er nicht mehr mit mir.
Das tat auch Schaper nicht mehr. Er behandelte Benno wie Luft. Er rief ihn nicht mehr auf, übersah ihn, wenn Benno sich meldete.
Wir sprachen uns in einer Pause ab, niemand solle sich melden, wenn Benno die Hand hob. Jan hatte den Schleimern in unserer Klasse sogar Schläge angedroht, falls einer den Finger heben sollte.
Schaper fragte: Was ist ein Relativsatz? Benno meldete sich. Nur seine Hand war oben. Schaper blickte in eine andere Richtung. Als Renate die Hand heben wollte, knuffte Jan ihr von hinten in den Rücken. Benno schnippte mit dem Finger. Schaper tat, als höre und sehe er Benno nicht.
Na, wenn ihr das nicht wisst. Also ein Relativsatz ist – und Schaper erklärte den Relativsatz.
Dieser Mistkerl, knurrte Georg leise.
Zum Glück waren zwei andere Lehrer ausgesprochen nett zu Benno. Der Kunstlehrer, der auch im Unterricht nicht seine Baskenmütze abnahm, sagte zu Benno, nachdem er dessen Zeichnung einer Eiche gesehen hatte: Sehr schön. Weißt du, die Schule ist nicht das Leben. Um was Anständiges zu werden, muss man kein Gymnasium besucht haben. Und auch der Mathe- und Geografielehrer, Herr Hubert, sagte: Schade, dass die Rechtschreibung so streng benotet wird. Die Noten müsste man einfach abschaffen. Und dann lachte er, dass sich sein roter Schnurrbart aufspreizte, und knuffte Benno freundschaftlich gegen den Arm.
Ich sah, in dem Moment kämpfte Benno mit den Tränen.
Im Mathe- und im Kunstunterricht arbeitete Benno weiter fleißig mit, insbesondere in Geografie. Herr Hubert nahm gerade die Elbe durch. Da meldete sich Benno und er wusste die unglaublichsten Dinge, die er sich offensichtlich extra für den Unterricht angelesen hatte, wie viele Inseln es in der Elbe gab, wie tief die Elbe war, wie oft die Fahrrinne ausgebaggert werden musste. In den anderen Fächern sagte er immer weniger, wurde immer stiller und in Latein und Deutsch saß er nur noch da und sah aus dem Fenster. Draußen flog wie Schnee der fusselige Samen der Weiden vorbei. Wir hatten in dem Jahr einen besonders heißen Frühsommer.
Eine Woche nachdem Schaper Benno in Luft verwandelt hatte, saß der plötzlich da und las. Nicht heimlich, sondern ganz offen hatte er das Buch auf dem Tisch liegen. Georg grinste und auch Jan. Die Schleimer lauerten gespannt und warteten darauf, dass sie wieder über Benno lachen durften. Was würde Schaper machen? Schaper konnte der Luft ja nicht sagen: Leg das Buch weg! Pass gefälligst auf! Man merkte Schaper an, wie sehr er sich ärgerte. Aber er sagte nichts. Ganz klar: ein Punktgewinn für Benno. Wir grinsten.
Schaper war in dieser Stunde besonders gereizt, fauchte sogar den Liebling unter seinen Lieblingen, Renate, an. Kaum dass es ihn auf seinem Stuhl hielt, er sprang auf, trippelte umher, aber er sagte nichts. Denn sonst hätte Benno durch ein K.o. gewonnen.
Ich sah deutlich, dass Benno nicht nur so tat, als lese er, er saß in sich versunken und las wirklich. Benno las langsam, manchmal bewegte er stumm die Lippen und er hatte die Angewohnheit, sich beim Lesen das Haar zu raufen, braune Haare, die immer strubbelig waren.
Ich beneidete Benno richtig. Er konnte lesen, während wir uns mit dem langweiligen Personalpronomen rumplagen mussten. Das heißt, ich musste so tun, als hörte ich angestrengt zu, um nicht an die Tafel gerufen zu werden.
In der Pause fragte ich: Mensch, Benno, was liest du denn da?
Benno zeigte uns das Buch.
Das war die eigentliche Überraschung – es war kein Abenteuerroman, es war ein Buch mit vielen Zeichnungen und Landkarten. Ein Buch, das Benno aus der Schulbibliothek ausgeliehen hatte. Es zeigte die Elbe zwischen Hamburg und der Nordsee. Das fand ich nun doch etwas übertrieben, dass Benno sich jetzt auch noch mit geschichtlichen Büchern auf den Geografieunterricht vorbereitete. Schließlich war ja schon Zeugnisschluss gewesen und wir alle machten so wenig wie nur irgend möglich.
Willst du dir noch eine Eins mit Stern holen?, fragte Jan.
Quatsch. Ich such was.
Was denn?
Da, sagte Benno und tippte auf eine Stelle der Elbkarte, da muss er liegen.
Wer?
Der Schatz.
Welcher Schatz?
Na, Störtebekers Schatz.
Wir sahen uns an und dachten, jetzt ist er durchgedreht.
Natürlich kannten wir die Geschichte von Störtebeker, dem Seeräuber, der vor gut 500 Jahren die Hamburger Schiffe gekapert und dabei unermessliche Schätze erbeutet hatte, bis sein Schiff in der Elbmündung von einer Hamburger Kriegskogge geentert wurde. Störtebeker wurde gefangen und mit seinen Gefährten auf dem Grasbroock hingerichtet. Zwei Schädel, auf Pfähle aufgespießt, kann man im Museum für Hamburgische Geschichte besichtigen. Benno hatte Georg, Jan und mir dazu eine wilde Geschichte erzählt. Vor der Hinrichtung durfte Störtebeker einen letzten Wunsch äußern. Seine Bitte: Man möge seine Mannschaft in einer Reihe aufstellen, dann solle der Scharfrichter ihm den Kopf abschlagen, und diejenigen seiner Männer, an denen er ohne Kopf vorbeilaufen könne, die sollten freigelassen werden.
Stimmt das wirklich?
Ja doch.
Der Henker Rosenblatt riss also Störtebeker den Kragen herunter, schnitt ihm das Haar im Nacken kurz, dann schlug er Störtebeker den Kopf ab und der Körper von Störtebeker lief tatsächlich los, lief an sechs seiner Leute vorbei und wäre noch weiter gelaufen, hätte ihm nicht ein Ratsherr ein Bein gestellt.
Quatsch, sagte Jan, das geht doch gar nicht.
Hast du nie gesehen, wie Hühner, denen der Kopf abgeschlagen wird, noch weiterfliegen?
Stimmt, sagte Georg, der auf einem Bauernhof aufgewachsen war.
Und der Schatz?
Der Schatz war weg. Dabei hatte Störtebeker dem Hamburger Senat angeboten, wenn man ihn und seine Leute freiließe, wolle er eine Kette aus purem Gold um die ganze Stadt legen.
Viele Leute haben den Schatz gesucht, niemand hat ihn gefunden, aber ich weiß, wo er liegt, sagte Benno.
Georg kriegte vor Staunen den Mund nicht mehr zu.
Meine Mutter meinte, dieser Benno habe einfach zu viel Fantasie. Benno war nämlich einmal bei uns zu Besuch gewesen. Erst saß er ganz still da, hörte zu, was die Erwachsenen redeten. Dann war das Gespräch darauf gekommen, ob Tiere Menschen verstehen könnten. Und da erzählte Benno die Geschichte von einem Matrosen, der über Bord gefallen war und kurz vor dem Ertrinken von einem Delfin hochgehoben und durch das Meer getragen worden war, bis ihn ein Schiff entdeckte und an Bord nahm.
Als unsere Klasse zusammengestellt wurde und jeder sagen musste, welchen Beruf der Vater hatte, also Arzt, Prokurist, Rechtsanwalt, Senatsdirektor, Lotse, sagte Benno, mein Vater liest die Elektrizitätsuhren ab. Die ganze Klasse lachte. Benno saß einen Moment ganz starr da. Dann, in der Pause, erzählte er uns, sein Vater habe einen Schlüssel, einen besonderen Schlüssel, mit dem er nicht nur den Strom für die Häuser abstellen, sondern auf einen Schlag ganze Stadtteile, ja die ganze Stadt verdunkeln könne. Da staunten wir. Benno wurde plötzlich von allen Schülern umworben. Ein Schüler aus der Nachbarklasse wollte ihm sogar jeden Tag die Tasche nach Hause tragen, wenn Benno ihm mal den Schlüssel besorgen könnte. Warum? Er musste zum Zahnarzt. Und da wollte er an dem Tag einfach in dem Haus, wo der Zahnarzt seine Praxis hatte, den Strom abstellen. Warum denn das?
Du hast ’ne lange Leitung. Ohne Strom kann der nicht bohren.
Zeig uns doch mal den Schlüssel!
Geht nicht. Mein Vater trägt ihn an der Kette.
Dann eben abends. Oder nachts, wenn er schläft.
Der schläft doch mit der Kette. Unmöglich.
Da Benno den Schlüssel nie zeigen konnte und unsere Eltern sagten, dass es einen solchen Schlüssel gar nicht gebe, verlor Benno viele Anhänger.
Eines Tages kam Benno mit einem Schweizer Taschenmesser in die Schule. Niemand in der Klasse hatte bis dahin ein Schweizer Taschenmesser gesehen. Alle wollten wissen, woher er das habe.
Gestern, erzählte Benno, auf dem Weg nach Hause, wollte ich gerade über die Altonaer Allee gehen, da sehe ich ein Auto, schwarz, riesig, mit Heckflossen, ein amerikanisches Auto. Ich gehe hin. Ein Chevrolet. Tolle weiße Reifen. In dem Moment steigt ein Mann aus. Der musste sich richtig rausstemmen. Der war nämlich so dick, mit einem Bauch, so was hab ich noch nie gesehen. Der Mann schließt seinen Wagen ab. Da sehe ich, dass ein Schuhband aufgegangen ist. Ich sag ihm, passen Sie auf, dass Sie nicht auf Ihr Schuhband treten, das ist nämlich aufgegangen. Oh, sagt er und bleibt stehen. Und nun versucht er sich das Schuhband zuzubinden. Unmöglich. Der kommt über seinen Bauch nicht an den Schuh heran. Er stellt das Bein auf die Stoßstange. Kommt aber auch so nicht an den Schuh. Da hab ich mir einen Ruck gegeben: Soll ich Ihnen das Schuhband zubinden? Wenn du das tust, sagt er, dann würdest du mir einen riesigen Gefallen tun. Und strahlt. Ich bücke mich also und knote ihm das Schuhband zu.
Da war der so froh. Sagt: Ich schenk dir was. Greift in die Hosentasche und zieht dieses Taschenmesser heraus. Da, das ist für dich!
Mann in der Tonne, sagte Georg, und wir bestaunten das Taschenmesser.
Einfach toll die Geschichte. Und natürlich wollte jeder einmal mit diesem tollen Messer schnitzen. Was Benno auch einigen gestattete, Georg vor allem, der durfte das Messer sogar einmal mit nach Hause nehmen.
Aber dann hörte ein Junge aus der Klasse, dass Benno das Taschenmesser von einem Bekannten seiner Eltern geschenkt bekommen hatte. Einem Vertreter für Scheren und Messer, keinem Schweizer, auch nicht reich, und er fuhr auch keine amerikanische Limousine, sondern einen kleinen Opel, und dick war er auch nicht, sondern spindeldürr.
Von da an wollten die meisten in der Klasse keine Geschichten mehr von Benno hören. Benno, der Oberspinner, nannten sie ihn.
Ich hingegen hörte Benno gern zu und fragte mich immer, wie er auf all die Geschichten kam.
Wie beispielsweise diese Geschichte von Störtebekers Schatz.
Wo soll denn der Schatz liegen?, fragte Jan, der die Angewohnheit hatte, sich bei kniffeligen Fragen nachdenklich über das Kinn zu streichen. Eine Geste, die er seinem Vater abgeguckt hatte, der Elblotse war und einen roten Vollbart trug.
Der Schatz liegt auf dem Medemsand in der Elbmündung.
Warum ausgerechnet auf einer Insel in der Elbe? Und warum ist der Störtebeker in die Elbe gesegelt, wo man ihn viel leichter fangen konnte? So eine Kogge konnte doch nur schwer kreuzen.
Jan kannte sich mit der Elbe aus. Nicht nur durch seinen Vater, den Lotsen. Jan wohnte auch unten am Elbufer und Jan segelte. Er hatte eine kleine Jolle. Manchmal nahm er Benno mit, einmal hat er auch mich eingeladen. Ich war das einzige Mädchen in der Klasse, das immer mit den Jungen gespielt hatte. Aber mitsegeln durfte ich nicht, das hatten mir meine Eltern verboten, weil ihnen die Elbe mit den vielen Schiffen zu gefährlich war.
Nun erzähl schon. Wie kommst du darauf, dass der seinen Schatz auf einer Insel eingebuddelt hat?
Aber das konnte uns Benno nicht mehr erzählen, weil es für die nächste Stunde klingelte.
Ich konnte es gar nicht abwarten, bis die Stunde vorbei war.
Komm, erzähl endlich, drängte dann auch Georg.
Neulich, in der Deutschstunde, ist mir eingefallen, warum Störtebeker in die Elbe hineingesegelt ist. Der wollte, glaube ich – Benno machte eine kleine Pause, um die Spannung zu erhöhen –, aufgeben.
Also sich ergeben?
Ja. Der wusste doch, dass die Hamburger eine große Kriegskogge gebaut hatten, um Jagd auf ihn zu machen. Ich glaube, der wollte nach Hamburg segeln und mit dem Senat Frieden schließen. Aber bevor er Richtung Hamburg segelte, hat er auf einer Elbinsel seinen Schatz vergraben. Der war ja nicht blöd. Über den Schatz konnte er dann mit der Stadt verhandeln. Er konnte ihnen einen Teil von seinem Schatz anbieten, wenn sie ihn und seine Mannschaft laufen ließen.
Ganz schön schlau.
Am besten wäre gewesen, den Schatz auf der Insel Neuwerk zu verstecken, vor der Elbmündung, aber das ging nicht. Der Wehrturm auf der Insel war damals mit Hamburger Kriegsknechten besetzt. Er hat sich also eine unbewohnte Insel in der Elbe gesucht, dort sein Gold vergraben und ist weitergesegelt. Da kommt plötzlich die Hamburger Kriegskogge und greift Störtebekers Schiff an. Es muss ein fürchterlicher Kampf gewesen sein. Vierzig Seeräuber sind gefallen. Siebzig wurden gefangen.