Marion Poschmann

Nimbus

Gedichte

Suhrkamp

Langsam wandelt

die schwarze Wolke.

Friedrich Gottlieb Klopstock

Inhalt

Sibirischer Tierstil

Und hegte Schnee in meinen warmen Händen

Während der Wald wieder wichtiger wird

Die Top-Eis- und Schneefestivals der nördlichen Hemisphäre

1 Harbin, China

2 Krasnojarsk, Sibirien

3 Manjur, Innere Mongolei

Kurgankultur

Über die Hügel

Hysteria siberiana

Restschnee

Animismus

Krähen

Schafe

Quallen

Rehe

Kolkrabe

Murmeltiere

Dachse

Kröten

Stadtschamanen

Penns Wälder

Starterkits I

Starterkits II

Heimwege I

Heimwege II

Milchpunkte I

Milchpunkte II

Ghost Detector I

Ghost Detector II

Ärzte im Plattenbau

Wettermachen

Die magischen Objekte meiner Mutter

Kunststoff

Pfauenschreie, Pflanzenjäger

Dunkle Spiegel

Isegrim

Pathosformel

Bäume der Erkenntnis

Farnfraktal

Algenfalten

Wolkenportale

Bäume der Erkenntnis

Luft

Laub

Licht

Ordnungen der Wildnis

Odenstrophen, Module

Seladon-Oden

I

II

III

IV

V Ode an die Bordsteinflechte

VI

Die Große Nordische Expedition

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

Transsib

Geistergespräche

Schlittschuhlaufen (mit Klopstock)

Eislochtauchen

Kryptodepression

Whiteout

Lakenfahrt

Daimon

Eigengrau

Schwarzpigment

Nymphaion

Neopren

Hypnopomp

Shinto

Nimbus

Sibirischer Tierstil

Und hegte Schnee in meinen warmen Händen

Vielgestaltig ist das Ungeheure,

und nichts ist ungeheurer als der Mensch.

Sophokles, Antigone

Noch gestern hielt ich mich in tiefverschneiten

Bergen auf. Jetzt sind sie eingeebnet,

aufgelöst, ganz schlicht, so wie man einen

Kühlschrank abtaut. Ich sah Wasser rinnen,

sah das Eis in Brocken von den Wänden

brechen, alles fiel zu Tal und wurde

flüssig, wurde Tal und wurde nichts.

Noch gestern betete ich Berge an.

Ich kaufte Ansichtskarten, schickte sie

an mich, nach Hause, zur Erinnerung

an das Zerstörungswerk, das ich hier tat,

ich taute Grönland auf mit meinem Blick,

ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll

der Andacht überflog. Dem Wunsch ist nichts

unmöglich, heißt es doch, und wo ein Wille

ist, da ist ein Weg, die dünne Luft noch

dienstbar sich zu machen, das Ungeheure,

Ungeheuerlichste zu bezwingen,

ganz leicht, als schliefe man in seinem Sessel

und träumte nur von einem langen Flug.

Während der Wald wieder wichtiger wird

Letztens entnahm man noch Haushaltseis

aus der zwiebligen Durchsichtigkeit verdichteten

Firns, der sich voranschiebt Meter für Meter

durch die Jahrtausende, Saalekaltzeit,

Birkenpollen und Sauergräser in tieferen

Schichten, im Eisbohrkern konserviert.

Ich machte mich mit den Mächten, Gewalten

gemein, ich streckte meine unendliche Zunge,

Gletscherzunge, Gorgonenzunge, leckte an

Landeisschilden, fraß Treibeis, Packeis,

trug lichtblaue Sterne und scharfkantige Kristalle

im Mund, und ich redete in stetigen Flocken,

Frostsprache, Zungenrede des Schnees

ließ Bilder verharschen, verschimmern, öffnete

Flüsterspalten, in die alles hineinstürzt, was

übermüdet wandert, kleine Einfälle, Mammute,

Birkenwälder, mit Gletschermilch groß geworden,

jetzt formlose Gegenstände aus Schnee,

aus viel Schnee, noch mehr Schnee, Schneefall

und Toteis und groß über alle Vergleichung,

so daß jede Schätzung scheitert.

Ich war nackt wie ein Gletscher, ich stand auf den

Eisbalkonen, verkündete Schneemächtigkeit,

die Auflast weiterer Massen, aus meinem

Rachen trat Dampf, alle gezählten

Sterne über mir ausgehaucht, alle

moralischen Zitzen unter mir ausgesaugt,

ich streckte die Zunge, Abwehrzunge heraus

und sah ins Unendliche, sah ins beständige

Schneewehen, welches für jene ein Abgrund ist.