Über die Autorin
Brigitte Biermann absolvierte ein Journalistik-Studium in Leipzig. Fünfzehn Jahre lang war sie für die Zeitschrift Brigitte als Gerichtsreporterin tätig.
Sie ist Autorin mehrerer Bücher und schreibt für Zeitschriften und Zeitungen. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Impressum
Die Gedichte, Tagebuchaufzeichnungen und das Faksimile
auf Seite 270 stammen von Katrin L.
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-75530-8)
www.beltz.de
© 2008 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
© 2006 Beltz Verlag · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claus Koch
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Max Bartholl
Einbandfoto linke Hälfte: getty images/Jonny Basker
Einbandfoto rechte Hälfte: plainpicture/Lisa Martin
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22283-1
»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilten so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du musst nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.
Franz Kafka: Kleine Fabel
Inhalt
1. Kapitel
1996: 56 Kilogramm
2. Kapitel
1997: 41 Kilogramm
3. Kapitel
1998: 33 Kilogramm
4. Kapitel
1999: 38 Kilogramm
5. Kapitel
2000: 28 Kilogramm
Nachwort
Zeittafel
1. Kapitel
1996: 56 Kilogramm
Lena saß seit dem frühen Nachmittag in ihrem Zimmer unterm Dach und lernte für das bevorstehende Abi. Irgendwann war Katrin heimgekommen, hatte ihr einen kurzen Gruß zugerufen, danach war es wieder still im Haus. Bis nebenan diese Tonleitern einsetzten. Unerbittlich trötete es: c, d, e, f, g, a, h, c und wieder zurück, ohne Pause rauf und runter, in D-Dur, E-Dur …
»Hör auf mit dem verdammten Gehupe!«, rief Lena ihrer Schwester im Nebenzimmer zu. Es ging erbarmungslos weiter. Lena stöhnte. Ihr Schreibtisch stand an der Wand zu Katrins Zimmer, und ihr war, als jaulte das Saxophon direkt in ihr Ohr. Wieso genügte ihr nicht die Altflöte? Mit der war Katrin wenigstens schon über das Anfängergefiepe hinaus und spielte im Schulorchester ganz ordentliche Musik. Ausgerechnet Saxophon! Und wieder G-Dur, F-Dur rauf und runter. Warum nicht Klavier? Das stünde zwei Etagen tiefer im Erdgeschoss und wäre im Giebelzimmer kaum zu hören.
»Ich muss lernen, blöde Kuh, kapierst du das nicht?« Der Ton brach abrupt ab. Stille. Lena traute ihr nicht, sie war derart angespannt, dass sie nicht anders konnte, als auf weiteren Lärm zu lauern. Doch sie hörte nur einen dumpfen Schluchzer. Da es mit ihrer Konzentration ohnehin vorbei war, stand sie auf und ging in Katrins Zimmer.
Die lag auf ihrem Bett, das hinter einem Moskitonetz in einer Nische stand, das Gesicht im Kopfkissen vergraben. Das Saxophon stand neben ihr.
Lena setzte sich auf den Bettrand: »Was ist denn los? Hab das doch nicht ernst gemeint mit der blöden Kuh, das weißt du doch!«
»Klar weiß ich das«, schniefte Katrin, »um dich geht’s doch gar nicht.«
»Und um wen dann, bitte schön?«
»Um Jean-Luc.«
»Ey, Katrin, an den denkst du noch? Der ist doch schon vor Wochen zurück nach Stuttgart?«
»Ja, aber er hat versprochen, mir zu schreiben oder anzurufen. Seit drei Wochen warte ich, aber er rührt sich nicht, der faule Sack.«
»Bist du nicht jetzt mit Fabi zusammen?«
»Der hat sich vorhin so blöd benommen, mit dem hab ich Stress im Moment. Das hat aber nichts mit Jean-Luc zu tun, der Affe soll sich endlich mal melden.« Jetzt setzte sie sich auf, schniefte noch mal, wie um das Thema abzuschließen, und sagte: »Sei froh, dass du nicht verliebt bist, bringt nur Ärger.«
Lena lachte. »Nee, ich hab genug zu tun mit dem Abi, da brauch ich nicht noch ’n Kerl. Ey, es ist gleich Viertel nach sechs, Marienhof, wollen wir nicht runtergehen und fernsehen?«
Katrin gelang ein schiefes Grinsen, und die beiden gingen ins Wohnzimmer. Es war schon dunkel draußen, Lena schaltete Standleuchte und Fernseher ein und kuschelte sich mit einer Decke in das schöne alte Samtsofa, das die Mädchen so liebten. Katrin zog die Vorhänge vor der Terrassentür zu und legte sich zwischen Couchtisch und Fernseher auf die Erde.
»Marienhof« und »Verbotene Liebe« waren seit längerem der einzige Fixpunkt in ihrer Beziehung. Nicht, dass sie sich weniger mochten als früher, aber jede hatte ihren eigenen Freundeskreis, ihre eigenen Aufgaben und Interessen.
Plötzlich störte Lena etwas. Aus dem Augenwinkel wurde sie gewahr, dass Katrin seit einer geraumen Weile stereotyp rumturnte.
»Was machst du denn da?«
»Siehst du doch, Beinschere.«
Sie lag, auf einen Ellenbogen gestützt, auf der Seite, und während das linke Bein gestreckt auf der Erde blieb, führte sie das rechte bis zur Senkrechten in die Höhe – hoch und runter, hoch und runter, ebenso unerbittlich, wie sie vorhin Tonleitern geübt hat.
»Jetzt hör schon mit dem Gehampel auf, das macht mich ganz irre!«, zischte Lena. »Du nervst!«
»Na und? Lass mich doch in Ruhe«, sagte Katrin und turnte weiter.
»Das stresst total, wenn ich grad fernsehe! Hör endlich auf!«
Exakt wie ein Metronom fuhr Katrins langes Bein weiter in die Höhe.
»Du bist ja total bekloppt«, schloss Lena ihre Intervention und versuchte, die Schwester zu ignorieren.
Erst mit dem Abspann des zweiten Films fand Katrins Turnerei ein Ende. »Kommst du mit joggen?«, fragte sie Lena.
»Nee, ich geh wieder an meine Arbeit. Außerdem weißt du doch, Joggen finde ich so öde wie du Lesen. Aber hör mal: Hast du heute nicht schon genug Bewegung gehabt?«
»Nö, wieso? Eine Viertelstunde Schulweg ist doch keine Bewegung.«
»Aber du warst beim Basketball-Training.«
»Lena, das war gestern! Tschüss, ich lauf jetzt.« Und schon sprang sie auf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Lena schaltete den Fernseher aus.
Die beiden hingen sehr aneinander, obwohl von so unterschiedlichem Temperament: Schon als sie klein waren, agierte Lena behutsam und abwägend, Katrin setzte sich ein Ziel und marschierte schnurstracks und unbeirrt darauf zu.
Häufig, wenn die Familie gemütlich beisammensaß, kramte Anna diese Kindergeschichten hervor, und die Mädchen hörten sie zu gern. Wie Katrin einmal, sie war vielleicht vier oder fünf, von beiden Adventskalendern alle Türchen aufgemacht und sämtliche Süßigkeiten auf einmal aufgefuttert hatte, bis auf den letzten Krümel. Oder wie sie ein Glas Nutella aus dem Küchenschrank geangelt und damit auf einen Apfelbaum gestiegen war, wo sie das Glas wie Pu der Bär ausgeschleckt hat. So was wäre der ordentlichen kleinen Lena nie eingefallen.
Früher hatten Anna und Christian Lenck mit Freunden auf einem Dorf in einer Wohngemeinschaft gelebt. Die Kinder des befreundeten Ehepaares, Barbara und Gerhard Langner, waren so alt wie die Lenck-Schwestern: Lena und Lilly vier Jahre älter als Katrin und Paul. Die Väter waren Freiberufler, Christian Lenck als Kameramann viel unterwegs. Die Mütter teilten sich Hausarbeit und Kinderbetreuung. Für die Kinder war dieses 800-Seelen-Dorf das Paradies, Bullerbü im Schwabenländle: ein geräumiges Haus mit vielen Zimmern, geheimnisvolle Schuppen, Winkel und Böden, ein weitläufiger Garten voller Obstbäume, der am Ende schräg abfiel – die ideale Rodelbahn im Winter. Dahinter Wiesen und Felder, am Horizont der Wald. Von morgens bis abends spielten die Schwestern mit ihren Freunden draußen.
Einmal, Katrin war gerade sechs Jahre alt, wollte sie partout bei einem kleinen Mädchen übernachten, das mit seinen Eltern bei Lencks zu Besuch war. Anna wollte, dass sie zu Hause blieb. Als die Freunde sich verabschiedeten und in ihr Auto stiegen, war Katrin verschwunden. Keine Spur von ihr. Nach einer Stunde riefen die Freunde aus ihrem Heimatort an: Das Kind hatte sich im Kofferraum versteckt und sich erst am Ziel bemerkbar gemacht.
Oder diese andere Autogeschichte: Katrin spielte mit ihrem Freund Paul stillvergnügt im alten Citroen der Eltern. Niemand konnte später sagen, ob die Erwachsenen es den Kindern jemals ausdrücklich verboten hatten, vielleicht waren sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass auch das Auto als Spielplatz interessant sein könnte. Jedenfalls hatten die beiden die Handbremse gelöst, und das Auto war rückwärtsgerollt, erst ganz langsam die Einfahrt hinunter, dann, als es die Straße überquerte, schneller und schneller …
»Mama, die Kleinen fahren mit dem Auto weg!«, hatte Lena gebrüllt und war zu ihrer Mutter ins Haus gerannt. Die blieb erst mal seelenruhig sitzen, weil sie glaubte, das Kind mache einen Witz. Als sie jedoch den Ernst der Lage begriffen hatte und hinausgelaufen war, stand das Auto wieder still, ausgerollt gegenüber der Straße, mit dem Heck im Gartenzaun.
Als Katrin acht war und Lena zwölf, war die Familie umgezogen, in eine kleine Stadt in der Nähe von Stuttgart. Ein völlig neues Leben mit gänzlich anderen Regeln begann für die Kinder: Schuhe anziehen, bevor man aus dem Haus tritt; links und rechts gucken, bevor man eine Straße überquert. Statt Hühnergegacker Autogehupe, statt ländlicher Weite eine Reihenhaushälfte am Stadtrand; statt offener Nachbartüren zugezogene Gardinen.
Lange bevor der Möbelwagen kam, hatte Anna mit ihren Töchtern über den Umzug gesprochen, die Gründe erklärt: Sie wollte wieder arbeiten, wenigstens halbtags, und der Papa habe eine neue Arbeit gefunden, er könne nicht mehr so weit von einer Stadt und einem Flughafen entfernt wohnen. Anna hatte ihnen erzählt, dass sie in eine neue Schule kämen, Katrin in eine neue zweite, Lena in die sechste Klasse.
Katrin hatte für die Eltern völlig überraschend reagiert: Sie machte nachts ins Bett. Der Hausarzt befand, organisch sei alles in bester Ordnung. Ursache sei wohl die Angst des Kindes vor dem Unbekannten. Aber sie war doch immer so mutig und stark! Viel eher hätten die Eltern von der zarten, zurückhaltenden Lena eine solche Reaktion erwartet, nicht aber von der wilden Katrin.
Lena verkraftete den Umzug leicht, doch bald ging auch Katrin wieder mit Charme und ohne Scheu auf Menschen zu. Seit der fünften Klasse besuchte sie eine katholische Mädchenschule und hatte sich dort schnell eingelebt.
Als sie älter wurde, buhlten etliche Klassenkameradinnen regelrecht um ihre Freundschaft. Die Mädchen aus ihrer Clique wollten aussehen wie sie, sie kleideten und schminkten sich wie sie, beneideten sie um ihre tolle Figur, ihre langen Beine. Meist trug sie ihre langen, blonden Haare in der Mitte gescheitelt und offen, manchmal auch hochgesteckt, dann umrahmten zwei Strähnen das schmale Gesicht. Ihre großen blauen Augen betonte sie mit blauem und grauem Lidschatten, mit Kajal und Wimperntusche. Ihre Augenbrauen, dunkel und dicht, brauchten keine zusätzliche Farbe.
Katrins Freundin Tatjana erinnerte sich noch lange an ihr Parfüm: »Sie benutzte Oilily – wenn sie durch einen Raum ging, hing der Duft noch eine Weile drin.«
Katrin wollte Model werden, alle Mädchen in ihrer Clique wussten das. An der Wand in ihrem Zimmer hingen die Poster von Linda Evangelista, Helena Christensen und ihrem großen Vorbild Christy Turlington. Sie träumte davon, zu reisen, reich und berühmt zu sein, bewundert zu werden. Und die Mädchen machten ihr Mut: So, wie du aussiehst, schaffst du das!
Von ihrer Mutter hatte Katrin das nicht. Anna Lenck ist weich und nicht mehr ganz schlank, mit Lachfalten, die aus unbeschwerten Tagen stammen. Sie legt Wert auf gediegene Kleidung nach dem Motto: Ich bin nicht reich genug, mir billige Sachen zu kaufen. Ihr genügen Lippenstift und Wimperntusche, und ihre welligen, dunklen Haare lässt sie seit Jahren auf die gleiche unkomplizierte Weise schneiden. Auch Lena zieht sich gern schön an, schminkt sich, wenn sie ausgeht, aber so ein Tamtam ums Aussehen würde sie nie machen. Wie oft hat sie ihrer Schwester vorgehalten:
»Diese Modelwelt ist eine Scheinwelt, die nichts mit dem richtigen Leben zu tun hat!« Aber das wollte Katrin nicht hören.
»Ich find’s toll«, damit war die Debatte für sie beendet. Und dann schrieb sie in ihr Tagebuch: »So berühmt sein! Model – mein Traum!«
Sie hatte sich im Winter bei einem Fernsehsender für eine Miss-Wahl beworben. Jetzt, Monate später, lag die Antwort des Senders im Briefkasten. Ein gewisser André bot der »lieben Katrin« an:
Leider konnten wir Dich nicht bei unserer Wahl … berücksichtigen. Wir hoffen, Du verzeihst … Wir planen … eine Sendung zum Thema: ›Ich bin zu hübsch – keiner traut sich an mich ran!‹ Da ich bei Betrachtung Deiner Fotos klar erkennen konnte, dass Du sehr gut aussiehst … melde Dich bald, denn außer Dir gibt es nicht sooo viele Leute, die aufgrund ihres Aussehens in dieser Sendung auftreten könnten.
Ciao, bis bald, André
»Findst’n das?«, fragte Katrin ihre Schwester.
»Blöd.«
Katrin ignorierte das harsche Urteil und trollte sich. Nach ein paar Minuten stand sie wieder in Lenas Zimmer. Ihr war eingefallen, dass einer von Lenas Bekannten eine Boutique führt.
»Du wolltest Carlo doch mal fragen, ob ich bei ihm modeln kann, der sucht ab und zu Models, das weiß ich, ich hab’s gelesen.«
Lena stöhnte. »Wieso willst du eigentlich für irgendwen der Kleiderständer sein, das ist doch total bescheuert! Du hast so viele andere Qualitäten. Du und Model? Da zählt nur deine äußere Hülle. Das findest du gut? Und was willst du bei diesen Fernsehfritzen?«
»Fang nicht wieder davon an, Lena, hilf mir lieber.«
Katrin hatte eine Weile über der Antwort gebrütet und verschiedene Fassungen ausprobiert, bevor sie ihrer Schwester folgende Version an den »lieben André« vorlegte:
… Allerdings kann ich eurem Thema der Sendung nicht ganz zustimmen … Eher denken Leute, die mich nicht kennen, dass ich arrogant und eingebildet sei. Wenn sie mich näher kennen lernen, ändern sie zwar ihre Meinung, trotzdem nervt es. Übrigens: Meine Schwester ist mein Manager und ohne meine Schwester komme ich gar nicht …
»Den letzten Satz lässt du weg«, befahl Lena, nachdem sie das gelesen hatte. »Manager – du spinnst wohl?«
»War doch nur Spaß! Aber du würdest doch mitkommen?«
»Mal sehen.«
Und dann klappte es auch noch mit dem Modesalon. Fernsehen und öffentliche Modenschau mitten in der Stadt auf offener Straße – »yupieh!« – Katrin war überglücklich.
Ihr 15. Geburtstag fiel auf einen Samstag. Es war April, das Wetter ungewiss, Anna Lenck hatte im Wohnzimmer ein kaltes Buffet aufgebaut, wobei Katrin sie tatkräftig und fröhlich unterstützt hatte. Anna kannte die Freundinnen und Freunde ihrer Töchter, mochte sie gern, und die fühlten sich im Haus der Lencks sehr wohl. Anna strahlte eine heitere Gelassenheit aus und hatte für die großen und kleinen Sorgen der Mädchen immer ein offenes Ohr. Christian Lenck verschwand meist in seinem Zimmer im ersten Stock, wenn es ihm im Wohnzimmer zu quirlig wurde. Manchmal ergab sich aber doch ein Gespräch mit den jungen Leuten – über Politik, Theater, Musik. Und die Jungen waren sehr erstaunt und beeindruckt, als sie mitkriegten, dass Christian Ahnung von Popmusik hatte. Immerhin ging der ja auf die fünfzig zu. Jedenfalls freuten sich Lencks, dass ihre Mädchen in ihrem jeweiligen Kreis gut aufgehoben waren.
Auch zu dieser Geburtstagsfete wurde das Wohnzimmer wieder voll. Tatjana war da, seit der fünften Klasse Katrins beste Freundin; sie blieb öfter mal übers Wochenende bei Lencks in der Jägerstraße, weil ihre Eltern viel unterwegs waren; Luise Kramer, die im Nebenhaus wohnte und auch in ihre Schule ging, Sarah und weitere Mädchen aus ihrer Klasse; Lilly, die Kinderfreundin von einst; Dennis von der Musikgruppe, in der Katrin Saxophon spielte; Susanne, ihre Partnerin beim Altflöten-Duett; Andreas und Alex, die Breakdancer vom Gymnasium, das Lena besuchte. Katrin achtete darauf, dass alle sich wohl fühlten. Sie animierte sie, sich zu bedienen, es sei schließlich reichlich da. Später bemerkte Tatjana Lena gegenüber, dass Katrin keinen Bissen zu sich genommen hätte. Von zwei Uhr am Nachmittag bis 22 Uhr am Abend. Man sah sie nur mit einem Glas Wasser oder Cola.
Fabian hatte angerufen und zärtliche Worte geflüstert, er konnte nicht kommen, weil er mit seiner Basketballmannschaft unterwegs war. Dafür gratulierte völlig überraschend Jean-Luc höchstpersönlich, er blieb zwar nur kurz, aber Katrin war wieder hin und weg.
»Tolle Geschenke, es war voll genial«, schreibt sie am Abend ins Tagebuch, »ein rundum gelungenes Fest.«
Allein sein
kein – SEIN
Denn das ist alles nur
SCHEIN
Bin dann doch ALLEIN!
Und dann kippte die Stimmung. Nur einen Tag später steht da: »Du blödes Aas! Ich lass mich doch von dir nicht anblubbern. Jean-Luc – ich lieb dich! Mein Herz blutet!«
Und fünf Tage später: »Weiß nicht, wie ich da wieder rauskommen soll. Warum hilft mir niemand? I’m all alone!«
Niemand kann sagen, was den Stimmungsumschwung ausgelöst hat.
Als die Mutter Lena danach fragte, wusste die nur: »Jean-Luc ist das Letzte, der behandelt sie nur mies. Am Anfang hab ich ihn auch gemocht. Aber er lässt sie voll am ausgestreckten Arm verhungern. Wenn sie kurz davor ist, sich endlich von ihm zu befreien, taucht er wieder auf, erzählt ihr was von großer Liebe, verschwindet und lässt monatelang nichts von sich hören. Ein richtiger Dreckskerl.«
»Er sieht nett aus, wirkt auch gut erzogen«, sagte Anna. »Ich hab die Mutter mal kennen gelernt, sie ist wohl Französin?«
»Ja, klar sieht er gut aus. Das weiß er auch. Und meine arme Schwester leidet. Ein Arschloch ist das!«
»Na, nun hat sie ja den Fabian beim Basketball kennen gelernt, der gefällt mir gut, weil er sanft ist und nicht so poltrig wie dieser Henryk von nebenan.«
»Ich fürchte nur, dass er verliebter in Katrin ist als sie in ihn«, sagte Lena.
»Aber sie verbringt doch viel Zeit mit ihm, demnach kann sie ihn wohl gut leiden.«
Fabian ging auf das Gymnasium, das auch Lena besuchte. Einmal verklickerte ihr eine Freundin auf dem Schulhof, Katrin und Fabian hätten eine Wette abgeschlossen: Wer als Erster 45 Kilogramm wiege, habe gewonnen.
»Quatsch«, sagte Lena, »das kann ich mir nicht vorstellen. Fabi ist so dünn und durchtrainiert – hast du da was verwechselt? Vielleicht wollen sie zunehmen?«
»Nein, Lena, glaub’s mir, Fabian hat es mir selbst erzählt. Ich weiß nur nicht, ob ich es dir weitersagen darf. Lass dir Katrin gegenüber nichts anmerken, ja?«
»Nein, nein, ich sag nichts«, versicherte Lena ihrer Freundin. Und dann überlegte sie laut: »Aber stell dir das doch mal vor: zehn Kilogramm weniger, da würde sie aussehen wie ein Faden! Ich glaub das nicht. Das hat der Fabi sicher als Witz gemeint.«
Anna Lenck musste eines Morgens hinnehmen, dass Katrin ihre Frühstücksgewohnheiten änderte. Ruhig und bestimmt, wie es ihre Art war, lehnte sie das Müsli ab:
»Nein danke, Mum, ich möchte auch kein Nutellabrot mehr essen.«
»Möchtest du ein Ei zum Frühstück?«, bot Anna an.
»Nein danke, Mum, nur ein Brötchen.«
Anna wunderte sich nicht. Pubertät zeigt sich wohl in den seltsamsten Ausprägungen. Hatte sie doch auch akzeptiert, dass Katrin weder Fleisch noch Wurst essen mochte, seitdem im Unterricht von gesunder Ernährung und Massentierhaltung die Rede gewesen war. Anna ist zwar keine konsequente Vegetarierin wie Katrin, aber sie braucht eigentlich kein Fleisch, isst viel lieber Obst und Gemüse. So hatte sie Katrins Entscheidung in Ordnung gefunden und einen Weg, jedes Familienmitglied satt und zufrieden zu machen. Okay, nun also auch nichts Süßes mehr. Das Kind stellte sich eben Regeln auf, so wie es seine Tage strukturierte: Schule, Hausaufgaben, Basketball spielen – »Ich bin in der besseren Gruppe – yupieh!« –, täglich joggen, und dann diese extreme Formen annehmende Gymnastik. Mit ähnlicher Leidenschaft musizierte sie. Während ihr Saxophon noch etwas gequält klang, hörte sich die Sonate auf ihrer Altflöte schon sehr nach Mozart an. Und dann gab es diese kleine Breakdance-Gruppe. Andreas, Alex und Katrin hatten sich eine Geschichte ausgedacht: Die Jungen kämpften mit ihrem Tanz um das Mädchen, Katrin ließ sich umwerben. Sie beherrschte einige raffinierte Schritte und sie war das Schmuckstück der Truppe.
An einem Freitagabend im Mai traten die drei beim Frühlingsball im Gymnasium auf und ernteten viel Applaus. Christian Lenck war samt einem Kollegen und seiner Profiausrüstung gekommen, schließlich war er Kameramann, und hatte den Auftritt gefilmt, was dem Ganzen einen recht bedeutenden Anstrich gab. Katrin strahlte und war überglücklich.
Bis die Stimmung wieder umschlug. Was bei Teenagern doch völlig normal ist. Welche 15-Jährige findet sich schon rundum schön und richtig? In diesem Alter hadert jede und jeder mit sich. Die Haut zu picklig, zu rot oder zu blass, die Nase zu lang oder zu breit, die Beine zu dick oder zu staksig. Bei Katrin ging es um die Mitte:
»Meine scheißigen Hüften, die kotzen mich an!«, sagte sie eines Tages in ihr Spiegelbild und probierte ein Bikinihöschen an. Sie konnte noch so viel daran herumzerren, es war ihr zu weit.
»Spinnst du? Du hast doch gar keine Hüften«, konterte Lena, die sich vor einem der beiden Waschbecken im Bad die Wimpern tuschte.
»Na, guck doch mal, wie fett ich bin!«
»Ich seh nix. Außerdem bist du dran mit Badputzen, mach das mal, das ist gut gegen fette Hüften.«
Plötzlich ließ sie die Wimpernspirale sinken und musterte ihre Schwester von oben bis unten: »Sag mal, hast du schon wieder abgenommen? Der Bikini schlackert ja regelrecht an dir rum.«
»Deshalb will ich ja mit dir in die Stadt, einen neuen kaufen. Guck doch mal: Hier ist Fett und hier und dann dieser Arsch …«
»Katrin, du spinnst. Du bist dünn wie eine Fahrradspeiche. Und einen Arsch kann ich auch nicht entdecken.«
»Kann ich heute deine silbernen Armreifen und den breiten Ring haben?«, lenkte Katrin ab.
»Klar, kannst du haben«, sagte Lena. »Warte. Ich hole sie dir.«
»Scheiß-Jungs«, hörte sie Katrin murmeln, als sie zurück ins Bad kam.
»Um welche Scheiß-Jungs geht’s denn diesmal?«
»Wie immer um Jean-Luc, aber auch um Fabi, das Arschloch.«
»Warum das denn?«
»Der hat ’ne andre. Luise hat ihn auf dem Marktplatz mit ’ner Tussi gesehen.«
»Warum soll er nicht mit einem Mädchen durch die Stadt gehen, vielleicht war es eine Klassenkameradin. Auf unserem Gymnasium gibt es schließlich Mädchen und Jungen – nicht wie bei dir in dieser katholischen Mädchenanstalt.«
»Luise hat gesagt, die hätten ziemlich verliebt getan.«
»Ey, Sister, warte doch erst mal ab und red selber mit ihm. Wir fahren jetzt einkaufen und in zwei Wochen mit Mum und Dad in die Toskana. Ich freu mich total drauf, und so, wie du aussiehst, kennst du schon am ersten Abend ’ne Menge anderer netter Jungs.« Und sie reckte sich, um ihre kleine Schwester zu umhalsen, und küsste sie schmatzend auf die Wange.
»So, und nun beeil dich, damit wir den Bus kriegen, und schmink dich nicht wieder ’ne halbe Stunde lang, bist schön genug – wir wollen nur einkaufen, nicht auf eine Party!«
Große, weite WELT – Lass dich grüßen …
Große, weite WELT – Lass dich umarmen …
Große, weite WELT – Bist du da für mich …
Große, weite WELT – Hast du einen Platz
für mich?
Zwei Wochen San Vincenzo, Toskana. Die Eltern und die Schwestern hatten Zimmer in einem Hotel direkt am Meer. Katrin war unbeschwert und glücklich. Sie genoss das Zusammensein mit ihren Eltern und mit Lena, die alkoholfreien Cocktails, die aussahen wie echte, sie genoss die Ausflüge und Wanderungen mit der Familie. Wie von Lena vorausgesagt, spielte sie schon am zweiten Tag mit einer Truppe aus Norddeutschland Volleyball und Basketball, als ob sie dazugehörte. Als die Truppe nach einer Woche abreiste, fand Katrin das zwar »voll scheiße«, aber schon drei Tage später traf sie andere junge Leute, mit denen sie Sport treiben, tagsüber am Pool toben und abends am Meer sitzen konnte. Und dann tauchte Salvatore auf, ein schöner Junge, mit dem sie sich in einem lustigen Mischmasch aus Französisch und Englisch verständigte. Er verliebte sich sofort in sie, schenkte ihr eine Art Starfoto von sich und schrieb zärtliche Zettel. Katrin fühlte sich sehr erwachsen. Sie genoss es, vom schönsten Jungen des Strandes umschmeichelt zu werden.
Was nicht heißt, dass dieser Latin Lover Jean-Luc aus ihrem Kopf vertreiben konnte.
Lena, die Kunstgeschichte studieren wollte, begann ein Praktikum in einem Museum, Katrin besuchte die zehnte Klasse. Anna Lenck arbeitete bis mittags in der Stadtverwaltung und war häufig schon zu Hause, wenn Katrin aus der Schule kam. Sie kochte dann etwas, saß mit ihr, manchmal auch mit beiden Mädchen, an dem ovalen Holztisch im großen Wohnzimmer, sie aßen, redeten über den Tag, lachten, waren fröhlich. Christian Lenck war häufig tage- und wochenlang unterwegs, oder er kam erst spätabends nach Hause, so dass die Familie nur an den Wochenenden komplett um den Tisch saß.
Lena fiel zuerst auf, dass Katrin sich immer kleinere Portionen nahm. Dass sie heiter plauderte, die anderen in Gespräche verwickelte, aber das Essen auf ihrem Teller hin und her schob.
Einmal verlor Lena die Fassung:
»Jetzt iss endlich ordentlich!«, schrie sie quer über den Tisch.
»Ich esse doch«, erwiderte die und lächelte ganz lieb in die Runde.
»Nein, du stocherst nur rum, das kann man ja nicht mit ansehen.«
Anna und Christian, die sich gegenübersaßen, guckten sich erschrocken an und schwiegen.
»Sie kriegt sich schon wieder ein, das ist vielleicht die Pubertät«, sagte Anna später zu Lena, als beide die Küche aufräumten, Katrin joggen und Christian nach oben in sein Zimmer gegangen war.
»Ja, merkst du denn nicht, dass ihr ganzes Verhalten nicht normal ist? Das hat nichts mit Pubertät zu tun, dieses wilde Gejogge, dieses manische Rumgehampel beim Fernsehen! Ihr Pausenbrot schmeißt sie übrigens weg oder verschenkt es. Die hat doch was, das ist krank!« Lena geriet wieder in Rage.
»Das Pausenbrot isst sie nicht? Woher weißt du das denn?«
»Von Tatjana. Erst hat sie sich gefreut über die leckeren Brote, die du so schön bunt belegst und die Katrin ihr geschenkt hat. Dann fiel ihr auf, dass Katrin in der Schule nie auch nur einen Bissen isst. Und als Tatjana die Brote mal ablehnte und mit Katrin darüber reden wollte, habe sie nur gelacht.«
Anna sperrte den Mund auf und holte Luft, aber bevor sie ein Wort sagen konnte, redete Lena weiter: »Ich kenne das übrigens von Antonia, du weißt schon, die aus meinem Leistungskurs Deutsch. Ich hatte nie gesehen, dass sie in der Schule was anderes aß als einen Apfel. Dafür trank sie literweise schwarzen Kaffee und rauchte wie ein Schlot. Wenn die übern Schulhof ging, musste sie aufpassen, dass sie nicht in den Gully fiel, so dünn war sie.«
»Und warum aß sie nichts?«
»Weil sie dünn sein wollte. Kohlenhydrate machen dick, also aß sie weder Brot noch Kartoffeln, Reis oder Nudeln. Total bekloppt.«
Die beiden standen sich in der nun aufgeräumten Küche gegenüber, Anna an den Schrank, Lena an die Spüle gelehnt.
»Und wie hast du auf Antonias Verhalten reagiert? Hast du sie daraufhin angesprochen?«
»Na klar. Ich war derart wütend, wenn ich sah, wie sie an ihrem Apfel rumknautschte, dass ich ihr knallhart sagte: Du ruinierst deine Gesundheit, wenn du so weitermachst, siehst jetzt schon aus wie ein Zahnstocher … Sie hatte dann einen Freund, der fand sie auch zu dünn. Hat sie voller Empörung erzählt. Aber vielleicht hört sie ja doch irgendwann auf den.«
Anna sah sinnend aus dem Fenster, an dem just in diesem Moment das alte Ehepaar von der Ecke Hand in Hand vorbeikam. Anna wurde immer ganz warm ums Herz, wenn sie die beiden Alten sah.
»Antonias Mutter ist doch diese Kleine, etwas Rundliche, die bei mir in der Verwaltung arbeitet?«, wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu.
»Ja, genau. Weißt du, was die beiden im Urlaub auf Fuerteventura gemacht haben? Jeden Tag etliche Stunden im Fitness-Studio verbracht!«
»Antonias Eltern sind geschieden, soviel ich weiß – ist der Vater nicht alkoholkrank?«
»Genau, er lag lange im Krankenhaus, weiß nicht, weshalb. Aber zu dem hatte Antonia keinen guten Draht, sie wollte ihn nicht sehen.«
»Warum nicht?«
»Weiß nicht, sie sprach nie drüber.«
»Hast du noch Kontakt zu dem Mädchen?«
»Nö, und ich bin auch nicht traurig drüber. Ich konnte das Elend eh nicht mehr sehen. Auch Antonias Mutter finde ich schwierig, also etwas unerwachsen«, erzählte Lena weiter. »Ich glaube nicht, dass Antonia bei ihr irgendeinen Halt findet.«
»Wie kommst du darauf?«
»Einerseits mäkelte sie an ihr rum und machte sie klein – du musst was für deine Haut tun, siehst schon ganz grau im Gesicht aus; schlurf nicht so durch die Gegend wie eine alte Frau; Rot steht dir überhaupt nicht, wieso ziehst du diesen Pullover an? – und andererseits überschüttete sie sie mit Geschenken. Eine Mutter muss doch ein Maß kennen und das Selbstbewusstsein ihres Kindes stärken – oder?«
»Das hab ich zumindest immer bei euch beiden versucht.«
»Und auch ziemlich gut hingekriegt«, bestätigte Lena. »Wir sollten nur aufpassen, dass Katrin nicht aus dem Ruder läuft.«
Sie stieß sich vom Rand der Spüle ab und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Tschüss, Mama, ich muss geschwind in den Copy-Shop.«
Anna blieb noch eine Weile sinnend stehen. Ob Katrin eine Ess-Störung hat? Und was unterscheidet eine Diät von einer Ess-Störung? Verschwindet so was wieder von selbst? Oder ist das eine ernstzunehmende Krankheit? Aber vielleicht sind das alles nur extreme, aber letztlich doch pubertäre Symptome, beruhigte sie sich und holte Bügelbrett und Bügeleisen aus der Kammer.
Manchmal sah sie fern oder hörte Radio beim Bügeln. Doch dieses Mal ließ sie der Gedanke nicht los, dass irgendetwas mit ihrer jüngeren Tochter nicht stimmen könnte. Sie würde sich morgen in der Bibliothek und im Internet umschauen.
Warum bin ich so, wie ich bin
Warum bin ich so?
Und nicht Mister Soundso …
Wie ein kleiner Floh
In einem großen Zoo.
Katrins Stimmung verdüsterte sich. Anna forschte behutsam nach der Ursache. Aber mehr, als dass sowohl Tatjana als auch Sarah und Luise sich verliebt hatten und nun die meiste freie Zeit mit ihren Freunden verbrachten, war nicht rauszukriegen.
Katrin fühlte sich zurückgesetzt, war gekränkt.
»Aber Katrin, du bist doch mit Fabian befreundet und unternimmst auch viel ohne die Mädchen – Joggen, Basketball, Altflöte, Saxophon, Breakdance. Eine Freundschaft muss doch nicht daran zerbrechen, dass man nicht mehr jeden Tag stundenlang zusammenhockt«, versuchte Anna zu trösten.
»Aber die interessieren sich überhaupt nicht mehr für mich, ich fühl mich so fehl am Platz mit denen. Ich hab noch nicht mal was von San Vincenzo erzählt. Die haben nie Zeit, immer was anderes vor.« Katrin saß da mit hängenden Schultern, die Augen ziellos in den Garten gerichtet.
»Das glaub ich nicht, dass sie das Interesse an dir verloren haben, sie sind doch seit Jahren deine besten Freundinnen und …«
Weiter kam sie nicht. Katrin schob den Stuhl zurück und zischte: »Ja, eben drum. Ach, lass mich doch in Ruhe«, und verschwand für die nächsten zwei Stunden in ihrem Zimmer.
Immer öfter kam sie jetzt mit mürrischem Gesicht aus der Schule und meldete: »Hi, Mum, ich leg mich erst mal oben hin. Und wenn jemand anruft: Ich bin nicht da.«
»Aber Katrin, willst du nicht erst was mit mir essen?«
»Jetzt nicht, ich hab Kopfweh. Muss schlafen. Nachher vielleicht.« Und das Nachher wurde auch immer unerfreulicher.
»Mir schmeckt dies nicht … Das ess ich nicht … Ich mag das nicht … Ich hab keinen Hunger, hab schon gegessen …«, hörte Anna ein ums andere Mal. Auch sie wurde traurig, zumal ihr nicht entging, dass Katrin immer mehr abnahm.
»Hast du wenigstens das Schulbrot gegessen, das ich dir gerichtet hab? Hat es dir geschmeckt?«
»Hm«, brummte Katrin unbestimmt.
»Wirklich?«
»Ja doch!«, brüllte Katrin. Und Anna schwieg erschrocken, rat- und hilflos.
Eines Tages saßen Anna und Katrin in der frühen Herbstdämmerung auf dem weinroten Samtsofa und tranken Tee. Katrin gab sich an dem Tag weniger aggressiv als sonst, sie erzählte wie früher von der Schule, von »Independence Day«, dem Film, den sie am Tag zuvor mit Lena, Fabian und Andreas gesehen und der sie sehr beeindruckt hatte. Plötzlich kuschelte sie sich an ihre Mutter.
»Mama, ich hab nichts mehr anzuziehen. Mir passt nix mehr.«
»Das seh ich, meine Kleine.«
»Kannst du nicht mal wieder mit mir einkaufen fahren, so wie früher? Bitte!«
Anne Lenck war längst klar, dass Katrin nicht mehr lange kaschieren konnte, wie sehr die Sachen an ihr hingen. Ohne Gürtel wären die Hosen einfach runtergerutscht. Sie war froh, dass Katrin das Thema ansprach, von sich aus hätte sie nichts gesagt, zu schwierig war im Moment der Umgang mit ihrer jüngsten Tochter. Wie beiläufig sagte sie jetzt: »Aber ja, das können wir gern tun. Morgen? Wir schauen mal, ob wir ein paar T-Shirts und ein bisschen Wäsche finden.«
Anna schob ihre Tochter etwas von sich weg und betrachtete sie: »Ich denke, du brauchst jetzt Größe 34. Kann das stimmen?«
»Wahrscheinlich.« Katrin lächelte ihre Mutter an.
Die überlegte laut: »Der Anorak wird dir sicher noch passen. Was hältst du davon, wenn ich dir in die helle und die schwarze Hose Abnäher nähe?«
Katrin nickte und legte ihren Kopf wieder an Annas Schulter.
»Danke, Mama. Ich hab dich lieb!«
»Ich dich doch auch. Sehr sogar. Deshalb möchte ich, dass du wieder zunimmst, dazu musst du aber mehr essen.«
»Das will ich ja, aber ich kann nicht.«
»Warum kannst du nicht? Tut dir etwas weh?«
»Nein, es ist nichts, aber ich kann eben nicht essen.«
»Wollen wir es beide versuchen? Ganz langsam? Nachher mach ich für uns Spätzle mit Tomatensoße, ich mach die Spätzle selbst, wie immer – das ist doch dein Lieblingsgericht.«
Katrins Ja kam wie ein Hauch.
»Wir könnten dann morgen nach dem Einkaufen in ein Café gehen und ein süßes Stückchen essen – magst du? Oder zu Marchais oder McDonald’s – such es dir aus.«
Anna Lenck warf alle ernährungsphysiologischen Bedenken über Bord, Hauptsache, das Kind aß wieder normal.
»Ja, Mama, danke«, und sie umarmte ihre Mutter so heftig wie schon lange nicht mehr.
Wenige Tage später, Christian Lenck war einige Zeit beruflich unterwegs gewesen, bog er an einem frühen Nachmittag langsam mit dem Audi in die Jägerstraße ein. Da kam ihm Katrin entgegen. Christian erschrak und fuhr noch langsamer. Mensch, Katrin, dachte er bei sich, was ist denn los? Du warst immer so ein offenes Mädchen … Was ist bloß mit meinem Kind geschehen? Sie hatte sich verändert. War ihm früher nichts aufgefallen? So lange war er doch gar nicht weg gewesen. Was war mit den Haaren passiert?, fragte er sich. Früher sind sie locker gefallen, jetzt streng nach hinten gekämmt und hochgesteckt, ohne die schmeichelnden Strähnen. Sie war ungeschminkt. Und irgendwie wirkte auch ihre Kleidung anders auf ihn als sonst. Das war kein junges Mädchen mehr, das gefallen wollte, dachte sich Christian. Das war nicht seine Katrin, die fröhlich auf andere Menschen zuging, die offen war für ihre Umwelt. Diese Haltung, dieser Blick – sie schien völlig nach innen gekehrt. Sie glänzte nicht mehr. Sie war so … ja, so stumpf. Er war zutiefst erschrocken.
Abends, als Katrin oben in ihrem Zimmer war, saßen sich Anna und Christian am Esstisch gegenüber, zwischen ihnen eine Kanne Tee und die Sorge um die Tochter.
»Es kommt mir vor wie ein …« Christian stockte, das Wort erschien ihm sehr gewaltig, aber dann sprach er es doch aus: »… wie ein Rückzug. Als wolle sie mit niemandem zu tun haben, auch nicht mit mir.«
»Sie zieht sich tatsächlich zurück«, sagte Anna. »Früher saß sie zwar auch stundenlang in ihrem Zimmer, lernte zielstrebig, wollte unbedingt gute Noten haben – aber man konnte sie stören. Heute darf man sich nicht mal in die Nähe des Zimmers wagen. Sie klagt häufig über Kopfschmerzen, offenbar hat sie auch Kreislaufprobleme, denn manchmal ist ihr schwindlig. Nach der Schule ist sie erschöpft, sie trainiert nicht mehr jeden Tag – worüber ich nicht wirklich traurig bin, aber sie isst immer weniger. Lena hat mir erzählt, sie würde in der Schule die Brote, die ich ihr mitgebe, verschenken.«
»Ist sie vielleicht schwanger? Auf dieser Nonnenschule werden doch einige schon mit 14 oder 15 schwanger?«, fragte Christian, dem die katholische Mädchenschule von Anfang an suspekt war. Er hätte auch seine jüngere Tochter lieber auf einem staatlichen Gymnasium gesehen, aber Katrin wollte auf diese Realschule und Anna hatte den Wunsch unterstützt. 27 Mädchen in einer Klasse, einige Fächer unterrichteten Franziskanerinnen, den Tag mit einem Gebet beginnen, genügend Zeit für Wertevermittlung und Alltagsgespräche – Anna fand ihre Tochter unter solchen Bedingungen besser aufgehoben als in einer öffentlichen Schule.
»Natürlich ist sie nicht schwanger, Christian. Du weißt doch, wie kindlich sie noch ist – trotz ihrer 15 Jahre! Als Jean-Luc noch hier gewohnt hat, hab ich mal mit Katrin das Thema Pille angeschnitten. Sie war ganz aufgeschlossen, hat mir offen gesagt, dass sie es schön finde, mit Jean-Luc zusammen zu sein, dass sie aber auf keinen Fall mehr wolle. Sie fühle sich noch nicht so weit.«
»Und mit Fabian …?«
»Nein, nein, dann wäre sie zu mir gekommen, das weiß ich.«
»Aber die Jungs waren doch schon hinter ihr her, als sie erst zehn oder elf war!«
»Weil sie schon immer reifer wirkte, als sie war, das ist ja das Dilemma. Auch heute noch. Sie wirkt doch nicht wie 15 – sie wirkt wie eine erwachsene junge Frau! So einen Eindruck macht sie natürlich auch auf junge Männer. Erinnere dich doch mal, wie sehr dieser Salvatore in San Vincenzo hinter ihr her war. Nur wer länger mit ihr redet, sie näher kennen lernt, begreift, was für ein Kind sie noch ist!«