Über Marie-Sabine Roger

Foto: Geoffroy Mathieu/Opale

Marie-Sabine Roger wurde 1957 in Bordeaux geboren, arbeitete lange als Grundschullehrerin in Südfrankreich und lebt seit 2011 in Kanada. Ihr Roman Das Labyrinth der Wörter war in Frankreich und Deutschland ein Bestseller. Zuletzt erschien von ihr Der Poet der kleinen Dinge (2011). Das Leben ist ein listiger Kater erhielt den Prix des Lecteurs de l’Express 2012 und wird fürs Kino verfilmt.

Das Leben ist ein listiger Kater

Ich will ja nicht angeben, aber so mit sechs, sieben Jahren hatte ich in Sachen gesetzlich verbotene Straftaten schon einiges ausprobiert. Raubüberfall, Nötigung, Erpressung …

In puncto Nötigung hatte ich versucht, Marie-José Blanc zu küssen. Sie biss die Zähne zusammen, deswegen kam ich nicht weit. Aber die Absicht zählt.

An die Raubüberfälle machte ich mich immer samstags nach dem Rugby-Spiel: Ich krallte mir den Proviant der Kleineren. Im Schutz der Umkleide klebte ich ihnen in aller Ruhe ein paar. Manchmal verschonte ich auch den einen oder anderen. Ich hab so eine Robin-Hood-Ader.

Was die Erpressung angeht, fragen Sie meinen Bruder. Als seine Kinder klein waren, benutzte er mich ihnen gegenüber immer als abschreckendes Beispiel: Werdet bloß nicht wie euer Onkel, sonst bekommt ihr’s mit mir zu tun! Zu meiner Verteidigung sei aber gesagt: Wenn er sich nichts vorzuwerfen gehabt hätte, dann hätte er nicht sein Sparschwein geschlachtet, um zu blechen. Zu einer Erpressung gehören immer zwei.

 

Man nannte mich »den Schrecklichen«. Ich fand das toll.

Ich glaubte fest, dass ich eine große Zukunft vor mir hatte.

Na Kumpel, du bist also im Krankenhaus? Drum, ich hab mich schon gewundert, warum nichts mehr von dir kam! Ich bin noch fast einen Monat in der Bretagne, aber sobald ich zurück bin, komme ich dich besuchen.

Dann erzählst du mir, was passiert ist.

Hallo, mein Freund! Da werde ich dir nicht viel erzählen können, habe ein totales Blackout oder fast. Besuchen kannst du mich gerne, ich müsste noch ein paar Lücken im Terminkalender haben. Treffpunkt Zimmer 28 im zweiten Stock, ich werde fast nackt in einem schmalen weißen Bett liegen, du wirst mich schon erkennen.

Was treibst du in der Bretagne?

Wir machen Urlaub, Nathalie und ich. Morgen ist die Hochzeit ihrer kleinen Nichte. 300 Leute, der helle Wahnsinn. Wir schlagen uns schon seit zwei Tagen den Bauch voll. Kennst du Kouign-amann? Das ist wie gezuckerte Butter, nur fetter und süßer, aber es ist schlimmer als eine Droge, unglaublich.

Weißt du was, ich bring dir welchen mit! Dann weißt du wenigstens, woran du verreckst.

Witzbold.

Was liest du gerade? Ich bin dabei, Dubys Geschichte Frankreichs von den Ursprüngen bis heute wiederzulesen.

Nicht übel, sehr gute Wahl. Ich habe jede Menge Zeit, deshalb habe ich das Telefonbuch angefangen.

Ich bin gerade bei »Giraudin, Jean-Claude, 13 rue Amiral Courbet«.

Ach ja, ich erinnere mich an die Stelle … Du wirst sehen, wenn du erst mal bei »Lefebvre, Jocelyne« bist, fängt es an, richtig spannend zu werden.

Erzähl’s mir nicht, ich will nicht wissen, wie es ausgeht.

Okay, ich sag nichts mehr.

Sei brav zu den Krankenschwestern. (Sind sie gut?)

Ich nehme an, mit »gut« meinst du ihre Herzensqualitäten?

Ja natürlich. Was denn sonst?

Ich finde sie recht fürsorglich, in der Tat.

Bist doch ein Glückspilz.

Damals waren wir zu Hause fünf und ein Häufchen Asche: meine Eltern, mein Bruder und ich, Uropa Jean und dazu Uroma Ginou selig.

Meine Großeltern väterlicherseits waren auf ganz blöde Weise ums Leben gekommen, als mein Vater acht war, weil meine Großmutter, die den Sinn von Stoppschildern nicht recht einsah, eins ignoriert hatte.

Mein Vater war dann von seinen Großeltern mütterlicherseits aufgezogen worden: Uropa Jean, der zu der Zeit, von der ich erzähle, noch quicklebendig war, und Uroma Ginou selig, die in ihrer Urne in der Garage stand.

Ich konnte mir schwer vorstellen, was er wohl empfunden hatte, als er am Tag des Unfalls aus der Schule kam und kapierte, dass seine Eltern nicht wiederkommen würden. Vielleicht hatte er im ersten Moment gedacht, dass er jetzt frei wäre: keine Ohrfeigen mehr bei der kleinsten Dummheit. Endlich Ruhe.

Ruhe, ja.

Aber wenn ich ihn von seiner Kindheit erzählen hörte, spürte ich genau, dass Ruhe einem das Leben gründlicher vermasseln kann als eine Menge Zwänge. Deshalb reizte es mich nicht besonders, Waise zu werden. Mir lag etwas an meinen Eltern, auch wenn es eben Eltern waren, mit allen Nachteilen, die das mit sich bringt, von wegen Autorität und Verboten. Vor allem lag mir etwas an meinem Vater. Ich fand ihn echt stark, nicht nur wegen seiner Bizepse, die dicker waren als manche Oberschenkel. Er war wirklich stark. Gerade und aufrecht wie ein Baum. Voller Überzeugungen, mangels anderer Besitztümer. Ein Hitzkopf, einer, der das Maul aufriss, aber bei Hochzeiten und Taufen sein Taschentuch nass heulte, der meine Mutter »Mein Schnuckelchen« nannte, ohne sich darum zu scheren, ob er sich lächerlich machte, und nie Angst hatte, ihr zu sagen: Ich liebe dich.

Ein Mann, wie ich sicher gern einer geworden wäre.

 

Schon als ganz kleiner Stöpsel spürte ich die Macht, die er über die Leute hatte, wenn die in diesem ganz speziellen Ton zu mir sagten: »Ja, dein Vater! Dein Vater! … Das ist schon jemand!«

Er war so sehr jemand, dass ich mich ihm gegenüber fühlte wie niemand.

Letztlich hätte ich lieber einen gewöhnlicheren Vater gehabt. Dann wäre ich bestimmt schneller flügge geworden.

Und das Schlimmste dabei: Ich war der Älteste, der Vorreiter, von dem alles abhing. Mein Bruder zog sich alleine groß, ohne dass sich jemand an ihm störte, der Glückspilz. Er war der Zweitgeborene, das Nesthäkchen. Ewig Zweiter, wie der gerade deshalb so beliebte Radrennfahrer Poulidor.

Ich war derjenige, auf dem alle Hoffnungen ruhten.

Ich erinnere mich noch an den Blick der Nachbarn, der Cousins und aller anderen. An diesen Blick, der traurig von meinem Vater-dem-Helden zu der dickschädeligen, nichtsnutzigen kleinen Rotznase glitt. Ihre ungläubige, betrübte Miene, die schweigend sagte: »Wie kann das nur sein? Ein Kerl wie er, und so ein Bengel!«

 

Ich kapierte sehr früh, dass das Vorbild unerreichbar bleiben würde und ich andere Wege gehen musste, um zu bestehen. Also strengte ich mich an, so nervig wie möglich zu sein und den größtmöglichen Mist zu bauen. Unglücklicherweise hatte ich keine wahre verbrecherische Ader: Hinter meinen Gangster-Allüren verbarg sich ein netter Kerl.

Ich wäre gern ein Mafioso gewesen, ein echter Böser, ein Halunke. Aber ich war nur ein Möchtegern-Ganove. Eine kleine Knalltüte ohne jedes Format.

Und zu allem Überfluss pflegte mein Vater mir seine Pranke auf die Schulter zu legen und zu sagen: »Er ist ein sturer Esel, aber ein braver Junge. Ich bin mir sicher, er wird es doch noch weit bringen …«

Das war wahrscheinlich seine Art, mir sein Vertrauen zu zeigen.

Aber dieses »doch noch« klang in meinen Ohren wie das schlimmste trotz allem.

Seitdem ist eine Menge Wasser unter den Brücken durchgeflossen. Und kürzlich wäre ich beinahe mit davongeflossen: Vor ein paar Tagen wurde ich in letzter Minute mitten aus der Seine gefischt.

Genauer gesagt war ich zwei Meter vom Ufer entfernt im Fluss gelandet, was völlig ausreichend ist, um im Schlamm zu versinken und erst Wochen später wieder aufzutauchen, aufgeweicht und schwammig wie die Brotstücke, die man den Enten zuwirft.

Ich wurde wieder zum Atmen gebracht, hier und da eingegipst. Ich musste wohl am Brückenpfeiler abgeprallt sein. Misslungener Selbstmord, feuchtfröhlicher Abend, Überfall? Darüber konnte man nur Mutmaßungen anstellen.

Ich lag im Koma und hatte daher keine Meinung dazu.

 

Ich wachte auf der Intensivstation wieder auf, mit einem Polytrauma – das macht doch was her, oder? – und bewacht von einem besorgt wirkenden Polizisten. Ein Kerlchen von der Sorte, die mein Vater selbst in seinen größten Wutanfällen über die Gesellschaftsordnung hätte verschonen können. Er war noch sehr jung, mit einem gutmütigen Gesicht, großen, traurigen Antilopenaugen und einem Dreitagebart, der wahrscheinlich mehrere Monate alt war.

Er wirkte ganz eingeschüchtert. Von meinem Charisma natürlich. Aber vielleicht lag es auch ein bisschen an den Schläuchen, der Gasmaske und dem ganzen Hokuspokus, mit dem sie mich überwachten.

Der Polyp war jugendliche fünfunddreißig, trug eine schwarze Lederjacke und hatte ein altes Notizbuch mit einem Chewbacca-Aufdruck in der Hand. Er hätte mein Sohn sein können, wenn ich mich fortgepflanzt hätte.

Als ich die Augen öffnete, tat ich das wie ein Ertrinkender, der plötzlich wieder auftaucht und nach Luft schnappt. Aber ertrunken war ich ja auch, oder so gut wie, also passte das ganz gut.

Ich fragte mich, wo ich war und warum, mit einer wohl narkosebedingten dunklen Angst und dem unangenehmen Gefühl, nicht mehr genau zu wissen, wo mein Körper anfing und aufhörte. Ein Teil meines Geistes galoppierte panisch kreuz und quer herum, um sich ein Bild der Lage zu machen: Wo bin ich, verdammt? Bin ich noch ganz? Kann ich mich bewegen?

Der andere Teil konnte sich nicht vom Gesicht dieses unbekannten Typen losreißen, der sich zu dicht über mich beugte und so leise auf mich einredete, dass ich fast nichts hörte. Seine Worte schienen von sehr weit her zu kommen, seine Stimme war komisch, viel zu langsam.

Schließlich drangen ein paar Fetzen zu mir durch: »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was Ihnen passiert ist? Wir treten nämlich mit unserer Untersuchung im Moment auf der Stelle …«

Mit einem Blick auf die Sauerstoffmaske fügte er noch hinzu: »Antworten Sie mit Ja oder Nein, das wird vorerst genügen. Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«

Ich drehte den Kopf leicht hin und her, nur eine Spur, aber genug, dass sich die Zimmerdecke drehte und die Matratze schwankte. Tut mir leid. Keine Ahnung, wie ich hierhergeraten bin.

Er stellte mir eine weitere Frage, die eine Weile brauchte, bis sie bei mir ankam. Bevor mir die Augen wieder zufielen, schüttelte ich noch einmal den Kopf. Nein: Ich hatte nicht versucht, mir das Leben zu nehmen.

Ich bin nicht selbstmordgefährdet.

Das erledigt sich mit der Zeit von selbst.

Nach meinen letzten Schätzungen bin ich seit acht Tagen hier. Die Zeit ist verflogen wie nichts.

Aber lang war sie doch.

Tagsüber schlafe ich zu viel, nachts sehr schlecht, ich bin benommen von diversen Drogen, von der Untätigkeit, alles verschwimmt zu einer einzigen grauen Sauce, Montag, Dienstag, Mittwoch. Ich erinnere mich nicht, wie ich im Wasser gelandet bin, da ist nichts zu machen. Genauso wenig erinnere ich mich daran, wie man mich herausgefischt hat oder wie ich hierhergekommen bin.

Es heißt, man habe mich sediert, weil ich unruhig und verwirrt war.

Nicht verwirrt im Sinne von erstaunt, ich bin nie erstaunt, wenn mir komische Sachen passieren.

Nein, verwirrt, also durcheinander, verstört.

Man hat mich in einen Zustand versetzt, in dem ich außerstande war zu denken, mich zu bewegen, mir zu schaden und die Arbeit des Pflegepersonals zu behindern. Der Vorteil dabei: Ich habe ein paar Tage in einer Art dichtem Nebel verbracht – der Rausch des Jahrhunderts –, mit dem Gefühl, alle fünf Minuten aufzuwachen und dazwischen jedes Mal für zehn Stunden einzuschlafen, das Ganze ohne zu große Schmerzen.

Jetzt fühle ich mich viel lädierter. Alles tut weh.

Und wenn es mal nicht mehr wehtut, habe ich trotzdem das Gefühl, ein einziger Muskelkater zu sein.

Man hat mich hier und da aufgeschnitten, um ein paar Brüche zu richten, und mich wieder zusammengeflickt. Ich bin voller Drähte, Platten und Schrauben, der reinste Eisenwarenladen. Meine Identität besteht aus dem Haufen Röntgenaufnahmen, den die Ärzte mit zufriedener Miene studieren, allen voran mein Chirurg: Darmbeinstachel, Darmbeinschaufel, Schambein, Oberschenkelhals, Oberschenkelknochen, Schienbein und Wadenbein.

Bewegen kommt nicht in Frage, das ist strengstens verboten.

Normalerweise drehe ich mich ewig von einer Seite auf die andere, um in den Schlaf zu finden, und jetzt bin ich zum Stillliegen verurteilt, zu allem Übel auch noch auf dem Rücken.

Da ziehen sich die Nächte in die Länge wie früher die Schulstunden.

 

Ich lerne das Krankenhausleben kennen. Man hatte mir davon erzählt, jetzt erlebe ich es selbst.

Kaum ist man hier drin, möchte man am liebsten sofort wieder nach Hause, wie die Hunde, die an der Leine zerren, um kehrtzumachen, sobald sie beim Tierarzt ankommen. Ich fühle mich wie ein Köter, geduckt und mit glanzlosem Fell. Ich will meinen Fressnapf, meine Decke, meinen Kauknochen, mein Körbchen.

Ich will nach Hause.

Außerdem kann ich die Krankenhausgerüche nicht ertragen.

Es riecht nicht sauber, sondern nach Desinfektionslösung, nach heuchlerisch parfümierten Putzmitteln, um den Gestank von Eiter, Inkontinenzen aller Art und anderen Scheußlichkeiten zu überdecken.

Es riecht nicht nach Küche, nach vor sich hin köchelnden Eintöpfen, sondern nach Kantinenfraß. Nicht einmal der Kaffee riecht so, wie er soll. Seine Dünste drücken sich die Wände entlang wie Verräter im Schatten, dringen durch die Flure bis in die Zimmer vor, nicht klar, nicht ehrlich, voller Heimtücke. Und in der Tasse bekennt er dann eindeutig seine Schwäche, ein verwässertes Schwarz, eine undefinierbare Brühe, aufgewärmt, enttäuschend.

Und in Sachen Kräutertee keinerlei Auswahl: nur die grässliche Kamille.

 

Die Tage beginnen früh, um sechs Uhr morgens, was einem danach reichlich Zeit lässt, Trübsal zu blasen. Die Krankenschwester vom Frühdienst reißt die Tür auf, etwa so, wie ein Cowboy einen Saloon betritt, knipst die grelle Deckenbeleuchtung an, ruft mit einer Stimme, die für meine schläfrigen Ohren viel zu laut ist, »Guten Mooorgen!« und misst mir dann, ohne abzuwarten, ob ich auch wach bin (aber danke, ich bin es), den Blutdruck und die Temperatur.

Ich bekomme zwei weiße Tabletten verabreicht, von denen mir weder Name noch Wirkung bekannt sind, dann füllt sie die Kurve am Fußende meines Betts aus, löscht endlich die gleißende Neonleuchte und geht wieder – ohne die Tür hinter sich zu schließen –, wobei sie mir ohne jede Ironie noch einen schönen Tag wünscht.

Dann kommt eine der stets gutgelaunten Stationshelferinnen und bringt das Frühstück: zwei eingeschweißte Scheiben Zwieback, ein blässliches Kompott, eine Portionspackung Marmelade, die in ihrem Leben nicht vielen Früchten begegnet sein dürfte, und ein Naturjoghurt.

Und unweigerlich, auch wenn sie mich schon am vorigen und vorvorigen Tag gesehen hat, fragt sie: »Was möchten wir denn heute Morgen gern?«

Raus hier, Herrgott, nichts wie raus!

»Kaffee, Tee, Milch?«

Sie zieht die Jalousien hoch, klopft mein Kopfkissen auf, stellt das Tablett etwas zu weit weg ab, sodass ich zu schmerzhaften, von meinem Chirurgen verbotenen Verrenkungen gezwungen bin, um dranzukommen.

 

Dann fängt der Tag an, mit seinen zehnmal so vielen Stunden, wie sie Tage draußen haben. Die offene Tür erlaubt es mir, die Leute vorbeigehen zu sehen, worauf ich verzichten könnte, und erlaubt es ihnen, mich ebenfalls zu sehen, was mich rasend macht.

Das Fernsehen habe ich aufgegeben. Ich glaube, die Programme werden an höherer Stelle eigens mit dem Ziel gestaltet, Krankenhausbetten frei werden zu lassen und das Problem der zu langen Rentenzeiten zu regeln. All die hochspannenden europäischen Krimiserien, die mitreißenden Quizsendungen und die Live-Mitschnitte aus der Nationalversammlung sollen wohl alten Leuten wirksam den Rest geben und Kranke dazu treiben, sich den Tropf herauszureißen.

Ich sehe mir nur die Nachrichten an, die sich immer so schön auf die guten Neuigkeiten konzentrieren – Krieg, Umweltverschmutzung, Tsunamis, arme Alte, die von jungen Rowdys überfallen werden, kindliche Depression und Lungenkrebs bei Rauchern – wirklich löblich, wie sie sich um positives Denken bemühen.

Oder ich ziehe mir abends mal einen Film rein, aber selten.

Die ganze übrige Zeit habe ich Zeit übrig. Was zur Folge hat, dass ich denke.

Denken ist eine ungesunde Beschäftigung, die ich in der Regel lieber vermeide. Zumal meine Gedanken hier, mangels anderer Aussichten, um meinen Bauchnabel kreisen, etwa so wie ein durchgeknallter Hamster in seinem Rädchen herumrast. Ich, ich, ich, mein Leben, mein Werk.

Zurückgelegte Wegstrecke, Laufbahn, Bestandsaufnahme.

Bilanz. Bei dem bloßen Wort kommt mir das Kotzen.

»Bilanz«, das riecht nach buchmäßigem Bankrott.

 

Mittagessen gibt es um halb zwölf, Abendessen um zwanzig nach sechs.

Da mein Zimmer am Ende des Flurs liegt, esse ich lauwarm oder kalt, je nach Schnelligkeit oder Beinlänge der Stationshelferin. Die meisten von ihnen kommen aus Madagaskar, was einen Gewinn an Freundlichkeit, aber einen Verlust an Kalorien bedeutet.

 

Vor ein paar Tagen habe ich eine der Krankenschwestern gefragt, warum man nicht alle Mahlzeiten um ein oder zwei Stunden verschieben könne. Sie erklärte mir, das sei so, weil die Nachtschicht sich vor der Übergabe noch um das Frühstück kümmert, und »wenn man das verschieben würde, würde sich alles verschieben«. Ich habe geantwortet, sicher, aber in dem Fall könnte doch die Nachtschicht das Abendessen übernehmen, für das bisher die Tagschicht zuständig sei, die sich dann ihrerseits ums Frühstück kümmern würde – und wenn meine Berechnungen richtig seien, bliebe die Arbeitsbelastung letztlich für alle gleich.

Als Antwort steckte sie mir nur das Thermometer ins Ohr – übrigens eine gewöhnungsbedürftige Methode.

Auf der Station heiße ich »der Mann aus der Seine«.

An dem Tag muss sonst nicht viel passiert sein, denn in den Lokalblättern war ein bisschen von mir die Rede.

Mehr hat es nicht gebraucht, um mir eine geheimnisvolle Aura zu verschaffen, die ich mühsam aufrechtzuerhalten versuche, aber das ist gar nicht so einfach. Ich finde es ziemlich verdienstvoll von mir, ein Rätsel bleiben zu wollen, während ich dazu verdammt bin, mir den Hintern abwischen zu lassen wie ein Riesenbaby, und die gesamte Ärzteschaft, ganz gleich welchen Ranges und Faches, von mir wissen will, ob ich auch ordentlich pisse – und so weiter –, noch bevor sie mich begrüßt.

Diese Art von zwischenmenschlichen Beziehungen ist übrigens ganz erstaunlich. Kein Tag vergeht, ohne dass man mich mit einem Interesse, das nicht geheuchelt wirkt, fragt, ob ich an diesem Morgen schon Darmwinde hatte. Instinktiv weiß ich, dass es unpassend wäre zu antworten: »Ja, danke, und Sie?«

Halt! Jeder hat seinen Platz. Der Patient bin ich.

Der Patient heißt der Erduldende, und ich brauche tatsächlich eine Menge Geduld, um diese Untätigkeit zu ertragen, die unbequemen Gipse, die stickige Hitze im Zimmer, die fehlende Privatsphäre.

Kurz, ich fühle mich äußerst reduziert. Mir scheint, in den Augen der Welt bestehe ich nur aus einer zu entleerenden Blase und Blähungen, aus Knochenbrüchen und Schläuchen.

Ganz zu schweigen von dieser merkwürdigen Art, mit mir zu reden: »Wie geht es uns denn heute?«

Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu antworten: »Uns geht es gut, wir danken.«

»Wir« haben einen Namen und einen Vornamen, ja einen ganzen Personenstand, falls es jemanden interessiert.

Jean-Pierre Fabre, Witwer, kinderlos, Rentner, geboren in Perpignan am 4. Oktober 1945, am selben Tag wie die französische Sozialversicherung – was vielleicht meinen ständigen Haushaltsdefizit erklärt –, Vater Robert Fabre, Eisenbahner, geboren am 17. November 1922 in Marseille, Mutter Odette Augier, ohne Beruf, geboren am 25. Juni 1924 in Avignon.

Ich habe einen Sprung im Becken, nicht in der Schüssel.

Gleich am Morgen nach meiner Einlieferung hat das Krankenhaus meinen Bruder Hervé benachrichtigt. Nicht weil es darum bemüht war, die Familie zusammenzubringen, nein, aus verwaltungstechnischen Gründen.

Seinen Namen und seine Telefonnummer haben sie in meiner Brieftasche gefunden, ich staune immer noch darüber.

Als man mir wie einem Gefängnisinsassen bei guter Führung erlaubt hat, Besuch zu empfangen, nachdem ich eine Woche später von der Intensivstation in die orthopädische Chirurgie verfrachtet worden war, ist er schweißgebadet hier aufgelaufen, kurzatmig wegen seiner Raucherei, des Stresses, der Treppen. Mein Bruder ist einer, der in ewiger Angst lebt. Immer in Sorge um sich selbst, panisch, wenn es um das Wohl der anderen geht.

Als er mich sah, stöhnte er mit verzweifelter Miene auf: »Ojeeee!«

Ich antwortete: »Alles in Ordnung …«

Er schaute mich zweifelnd an, sichtlich nicht sehr optimistisch.

Das Krankenhaus lässt einen das Leben aus anderen Blickwinkeln betrachten. Aus nicht besonders prickelnden Blickwinkeln, wie Schmerzen, Todeskampf und Tod, die den meisten Leuten eher unangenehm sind. Außer vielleicht Gerichtsmedizinern, die das wahrscheinlich rasend erregend finden und sich diskret in irgendeiner Ecke einen runterholen, wenn sie klammheimlich durch die Intensivstation schleichen.

Ich zeigte auf den Stuhl.

Er setzte sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann schwiegen wir erst mal, um daraufhin in ein, zwei Sätzen die Umstände des Unfalls abzuhandeln, die mir ja einigermaßen unklar waren, und dann die Dauer meines Aufenthaltes hier, die ich noch nicht absehen konnte.

Anschließend erzählte er mir, um mich auf andere Gedanken zu bringen, von seinen Eheproblemen.

Mein Bruder und seine Frau Claudine haben nicht mehr viel gemeinsam. Ein altes Ehepaar, jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Er leidet an Geschwüren, weil sie ihm auf den Magen schlägt. Sie hat Kopfschmerzen, weil er ihr auf den Wecker fällt. Außerdem wird sie taub, was sie noch um ihr Lebenselixier bringen wird: die Fernsehserien am Vormittag. Aber dafür wird sie ihn nicht mehr husten und jammern hören. Man muss immer in allen Dingen das Positive sehen.

Sie erinnern mich an das Paar, das Annie und ich waren, auch wenn ich sie liebte, bevor sie den Abgang machte. Ich kenne das, ich kenne es sehr gut, das Joch des Alltags, das das Gespann zusammenhält, das es daran hindert, sich zu trennen, und vielleicht auch, einander in die Fresse zu hauen.

Schließlich seufzte Hervé: »Du weißt gar nicht, was du für ein Glück hast, wenigstens hast du deine Ruhe!«

Er betrachtete mich auf meinem Schmerzensbett, dann fiel ihm wieder ein, dass ich Witwer bin, und merkte plötzlich, was er da gerade gesagt hatte.

Zur Ablenkung fing er schnell an, von seinem Sohn zu erzählen, der als freiwilliger Helfer in Haiti ist – jedem sein Kreuz –, und von meiner Nichte und ihrem Mann, denen ich zum Glück nicht oft begegnen muss. Dabei habe ich ihnen nicht mal etwas vorzuwerfen. Sie sind höflich, engstirnig, phantasielos. Anständige Leute, wie er. Ich habe von Uropa Jean einen gesunden Widerwillen gegen Familienbande und andere Pflichtschuldigkeiten geerbt. Allerdings – ist es das Alter? Werde ich weich? – kommt mir ihr Sohn, mein Großneffe Jérémy, ganz ausgeschlafen und eher sympathisch vor. Er hat mir gezeigt, wie man raubkopierte Filme herunterlädt, und allein schon deshalb schätze ich ihn.

Am Ende seines Besuchs habe ich Hervé die Schlüssel zu meiner Wohnung anvertraut.

»Meinst du, du könntest mir zwei, drei Sachen aus meiner Wohnung holen, solange du in der Gegend bist? Ich hätte vor allem gern mein Notebook, und mein Waschzeug. Und etwas Unterwäsche, wenn’s geht.«