Großbritannien in naher Zukunft: Ehemals ausgerottete Krankheiten haben die Bevölkerung befallen. Um die Epidemie einzudämmen, wurde außerhalb Londons eine riesige Kuppel gebaut, in die alle Kranken geschafft und sich selbst überlassen werden. Der Name der Sperrzone: Habitat Miseria.
In diesem Chaos versucht Rick, ein normales Leben zu führen – was gar nicht so einfach ist, denn auch seine Freundin wurde in die Kuppel gebracht. Aber plötzlich überschlagen sich die Ereignisse: Rick wird, obwohl er keine Symptome einer Krankheit zeigt, festgenommen und nach Miseria verschleppt. Aber was er dort vorfindet, entspricht nicht im Geringsten dem Bild, das die Außenwelt vom Innern der Kuppel hat. Was wird hier wirklich gespielt? Die Jagd nach der Wahrheit beginnt ...
Kris Brynn ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, die die Wand ihres Kinderzimmers lieber mit Bildern der Mondlandung schmückte, als mit Pferdepostern. Trekkie aus Überzeugung und Autorin aus Leidenschaft. Während des Studiums der Literaturwissenschaften begann sie sich auch durch die klassische Phantastik zu lesen und entwickelte ein Faible für Inselutopien. Ihr Kunstgeschichtsstudium schloss sie mit einer Arbeit ab, die sich mit Filmarchitektur im SF-Genre beschäftigt. Nachdem sie zwei Jahrzehnte für ein internationales Medienunternehmen gearbeitet hat, widmet sie sich jetzt ganz ihren Storys. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Stuttgart.
THE SHELTER –
ZUKUNFT OHNE HOFFNUNG
beBEYOND
Originalausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anke Pregler
Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause
Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Daniel Haller | Sean Gladwell | fazon1
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-5777-6
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Sie kamen zu zweit auf uns zu.
Obwohl sie noch ungefähr dreißig Meter von uns entfernt waren, ließen mich die abwechselnd rot und blau pulsierenden Kragen ihrer Uniformen zusammenzucken. Den Schriftzug darauf konnte ich aus der Entfernung nicht entziffern, ich hatte aber keinen Zweifel daran, dass es sich um ein Wort handelte, das aus den Buchstaben S, E, C, U, R, I, T und Y bestand.
Meine Beine fingen an zu zittern und zu kribbeln – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie sich auf ein schnelles Entkommen vorbereiteten, aber der Delta hielt mich am Ärmel fest.
»Wir bleiben genau hier stehen, Rick, Sir«, befahl er mir, und sein Ton duldete keinen Widerspruch. »Hier, an dieser Stelle.«
Unter meinen Achseln wurde es feucht, und ich riss mich los. »Warum sollte ich auf dich hören und dir vertrauen?«
Die in meine Kleidung eingelassenen Sensoren übermittelten eine Warnung an das kleine Tablet-Armband. Ich warf einen kurzen Blick darauf und entzifferte: Blutdruck über dem Durchschnittswert. Überraschung.
»Weil wir es fast geschafft haben. Überlassen Sie mir das Ganze.«
Es fiel mir schwer zu glauben, dass er uns tatsächlich ungeschoren aus dieser Situation herausbringen konnte, schließlich war er ein Delta und kein Alpha. »Bei allem nötigen Respekt. Du konntest vor ein paar Minuten ja nicht einmal geradeaus laufen, ohne zu stolpern!« Meine Verunsicherung schlug in Wut um. »Mir egal, was du vorhast, aber ich …«
In dem Moment stürmte der Delta mit einer für seine Modellreihe völlig unerwarteten Geschwindigkeit auf die Sicherheitsbeamten zu. Diese hatten nicht einmal Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie auf den Androiden reagieren sollten, der ihnen wie ein Pfeil entgegenschoss, als der auch schon einen der Männer mit einem blitzschnellen Fußfeger von den Beinen holte.
Ich sog verblüfft den Atem ein. Noch während ich mich wunderte, aus welcher hinterletzten Ecke seines veralteten Speichers der Delta diese Angriffstaktik ausgegraben haben könnte, hatte er dem zweiten Beamten bereits die Handfläche gegen die Nase gerammt. Ich glaubte, das Knacken des Knochens selbst über die Entfernung hinweg deutlich zu hören, und schloss angewidert die Augen. Mein Armband piepste lauter. Blutdruck erreicht hohes Niveau. Herzschlag stark beschleunigt. Suchen Sie die nächste Medikamentenausgabe auf! Riskieren Sie nicht Ihren Versicherungsschutz!
Als ich die Augen kurze Zeit später wieder öffnete, lagen beide Männer auf dem Boden, und der Delta stand über ihnen. Einer der Sicherheitsbeamten schrie etwas, was ich nur undeutlich verstand. Es hatte offenbar mit der Mutter des Deltas und ihrer angeblichen sexuellen Vorliebe für Tiere zu tun. Natürlich wusste der Beamte genauso gut wie ich, dass Androiden weder Eltern noch sexuelle Vorlieben haben, aber das war ihm in dem Moment vermutlich egal. Er wischte sich über das blutende Gesicht. Der andere versuchte aufzustehen, wurde aber durch die auf ihn herabprasselnden Stiefeltritte des Deltas daran gehindert, und so lag er zusammengekrümmt auf dem Boden, als würde er am liebsten wieder in den Bauch seiner Mutter hineinkriechen. Die er im Gegensatz zu den Androiden hatte.
Als sich auch der Mann mit der gebrochenen Nase nicht mehr rührte, ließ der Delta von den Sicherheitsbeamten ab, drehte sich zu mir um und sprintete den Gang zur Luke zurück, vor der ich immer noch fassungslos stand, als hätte man mich dort am Fußboden festgenagelt.
Im ersten Moment wunderte es mich, dass er nicht außer Atem war, als er mich erneut am Arm packte und Richtung Tunnelöffnung schob. Aber dann fiel mir ein: Androiden hatten keine Lunge. Auch die Deltas nicht. Das konnte man schon mal vergessen.
Mein Armband piepste wie verrückt.
Ich starrte auf das leicht flimmernde, durchsichtige Viereck, das von einem kleinen Kästchen auf dem Schreibtisch in die Luft projiziert wurde. Zahlen und Buchstaben schimmerten knapp über der Tischoberfläche.
»Es ist ganz einfach, Rick. Machen Sie sich keine Sorgen.« Ein spitzer Nagel, der abwechselnd in allen Farben des Regenbogens schillerte, tippte auf das leere Feld zwischen einer Zahlenkolonne und einer Adressbezeichnung. »Hier werden die Registrierungsnummer und der Name der betreffenden Person eingetragen, und dort drüben, in dieser Maske, verwalten Sie die Daten der CDF. Die Aktualisierung wird ebenfalls zu Ihren Aufgabe bei uns gehören. Nichts, das nicht zu bewältigen wäre. Über die Verifizierung der Namen müssen Sie sich keine Gedanken machen, das ist nicht unser Bereich.«
Die junge Angestellte des Institutes of Registration of Illegal Runners, kurz IRIR, warf ihr gewelltes erdbeerrotes Haar zurück und strich sich ihr knapp sitzendes Kostüm mit einer aufreizenden Bewegung an den Hüften glatt.
Meiner Meinung nach war nichts einfach. Und ich machte mir Sorgen. Die Erdbeerrote aber, die ein Holo-Schild am Revers ihrer eng anliegenden Bluse trug, welches meine müden Augen mit der ständig flackernden Botschaft Hallo – Ich bin Deborah malträtierte, war die Entspanntheit selbst. Lächelnd setzte sie sich so nah neben mich, dass ihre beeindruckende Oberweite mich wie zufällig streifte. Unverzüglich stellten sich die Härchen meines Unterarms auf.
»Die Daten für die CDF werden dann sofort weitergeleitet. Nur Minuten später erfolgen Festnahme und Überprüfung der Person. Aber wie gesagt, machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben noch niemals fehlerhafte Formulare abgeschickt. Ein internes Programm sorgt innerhalb von Millisekunden für eine letzte Kontrolle. Und außerdem werden natürlich die Gesundheitsdaten aller inhaftierten Personen vor der Umsiedlung noch einmal genau gecheckt.«
Die Abteilung CDF – Contagion, Disease and Fatalities – würde also sofort losschlagen, nachdem ich die Daten freigegeben hatte. Doch – ich musste zugeben, das machte mir Sorgen.
»Sie haben noch niemals einen vollkommen Gesunden … umgesiedelt?«, hakte ich krächzend nach. Umgesiedelt. Ich konnte das Wort kaum aussprechen.
»Aber nein!« Hallo – Ich bin Deborah schenkte mir ein strahlendes Lächeln, das aber nicht bis zu ihren Augen reichte. »Irrtümer gibt es nicht. Oder haben Sie schon einmal von einem Fehlzugriff gehört?« Ein amüsiertes Kichern begleitete ihre letzte Frage. Es war offensichtlich, dass sie keine Antwort erwartete.
Nein, dachte ich. Von einem solchen Patzer hatte ich noch nie erfahren. Aber was hieß das schon? Wer konnte mit Sicherheit sagen, welche Informationen die Bevölkerung erreichten und welche einfach unter den Teppich gekehrt wurden?
Mein ohnehin schon dürftiges Grundeinkommen war der Grund dafür gewesen, dass ich mich überhaupt auf den Job beim IRIR beworben hatte. Obwohl es scheinen mochte, als hätte ich in diesem Punkt freiwillig gehandelt, war das keineswegs so. Bisher hatte ich geregelte Beschäftigungen aller Art vermeiden können, aber eine Message in meinem persönlichen Post-Account hatte mich unmissverständlich und mit fast verächtlicher Wortwahl auf die Tatsache hingewiesen, dass man, falls ich nicht binnen vierzehn Tagen eine Arbeitsstelle akzeptierte, alle meine Person betreffenden Versicherungsleistungen unverzüglich einstellen und das Grundeinkommen, das ich monatlich bezog, empfindlich kürzen würde. Beides konnte ich mir auf keinen Fall leisten. Niemand, der noch bei Verstand war, konnte sich das leisten. Denn vom Gleiterunfall bis hin zu den häufigen Raubzügen der Außenbezirk-Gangs oder auch gesundheitlichen Problemen durch die Umweltverschmutzung konnte einem vieles das Leben in den Zonen Londons versauen. Eine Versicherung in der Hinterhand zu haben war deshalb genauso wichtig wie ein Dach über oder ein Kissen unter dem Kopf.
Ich hatte also nicht lange überlegen müssen, sondern mir die Wegbeschreibung zum Vorstellungsgespräch wenige Minuten nach Erhalt der Mail auf mein Tablet-Armband geladen. Von dort konnte ich die Informationen jederzeit über das schmale Display auf meinen Unterarm projizieren. Niemand, der noch bei Sinnen war, würde einem Bürger aus Miseria freiwillig begegnen wollen. Das war auch der Grund, weswegen man normalerweise Mundschutz und Handschuhe trug, wenn man sich außerhalb der eigenen vier Wände bewegte. Der Inner Circle war beliebt und relativ sicher, die Immobilien- und Mietpreise dementsprechend hoch. Und selbst meine Bude im ersten Ring außerhalb der City trieb mich monatlich fast in den Ruin. Je weiter man sich den Außenringen näherte, desto preiswerter wurden die Apartments. Genauso wie die Wohnungsmiete nahm dort aber auch die Lebenserwartung ab. Also hatte ich die Hinterhöfe und Müllhalden gemieden und war ausschließlich über die Main-Pedestrian-Ways zur Common-Rail-Station gelangt, auch wenn dies länger gedauert hatte. Sicher war sicher.
Die junge Frau stöckelte auf hohen Absätzen Richtung Tür und öffnete sie mit einer fast übertrieben eleganten Bewegung ihrer schlanken Hand. Mit einem kaum wahrnehmbaren Zischen glitt die Milchglasscheibe in eine Vertiefung in der Wand. Ich zuckte leicht zusammen, denn ich hatte erwartet, in den leeren Flur zu blicken, aber auf der Schwelle stand ein Astro, den ich unschwer als einen Delta-01 identifizieren konnte.
Grundgütiger! Das wird ja immer besser, ging es mir durch den Kopf. War die Fabrikation der Deltas nicht schon vor einiger Zeit eingestellt worden? So hatte man es zumindest in den News-Apps lesen können. Und jetzt auch noch einer aus der 01er-Serie! Ein Uralt-Modell!
Hallo – Ich bin Deborah nahm den Androiden wie ein schüchternes Kind an die Hand und führte ihn in das Büro.
»Darf ich bekannt machen?«, gurrte sie. »Rick, das ist Ihr persönlicher Assistent für besondere Botengänge.« Sie machte einen kleinen Knicks in meine Richtung und vollführte mit der Hand eine Demutsgeste. Dann wandte sie sich dem Delta zu. »01, das ist dein Kollege und Betreuer Rick.«
Der optisch jung wirkende Astro kam mit leicht schleppendem Gang auf mich zu, und ich meinte mich zu erinnern, dass die unausgereiften motorischen Bewegungsabläufe einer der Gründe für den Stopp der Serie gewesen waren. Die andere Ursache zeigte sich in dem Augenblick, als der Delta den Mund aufmachte.
»Rick, Sir«, schnarrte er mit einer viel zu hohen, leicht abgehackten Stimme. »Angenehm … Ihre … Bekanntschaft zu … machen.«
Ein Menschenähnlicher, der eigentlich eine Gehhilfe benötigte und die Sprachmelodie eines Chorknaben besaß. Na, das konnte ja heiter werden. Mir gefiel mein neuer Job in der Anstalt, wie ich das IRIR im Geheimen nannte, von Minute zu Minute weniger. Ich brauchte dringend eine Tasse Tee.
Grummelnd, aber ohne ein Wort, ignorierte ich die mir dargebotene Hand. Mit Androiden hatte ich so meine Probleme. Und mit alten Modellen kam ich in keiner Weise zurecht. Den hier durfte man nun wahrhaftig nicht mehr auf die Gesellschaft loslassen. Woher bekamen die Firmen bloß immer diesen Neuronenschrott? Die Anstalt müsste doch wirklich in der Lage sein, sich die neueste Androiden-Serie leisten zu können. Einen Alpha-03 zum Beispiel. Den hätte ich gerade noch so akzeptieren können. Wäre mir zwar schwergefallen, aber ich hätte mein Bestes versucht.
Der Delta-01 war in einen hellblauen Overall gehüllt, der an ihm klebte wie eine Wurstpelle. Der Seitenscheitel seines perfekt gestutzten Haares war perfekt gezogen. Keine einzige Strähne hatte sich auf die falsche Seite des Kopfes geschlichen. Er sah lachhaft aus.
Die Astros, wie man Androiden auch nannte, irritierten mich. Ich wusste schlichtweg nicht mit ihnen umzugehen. Sie sahen aus wie Männer, hatten die dunkle Stimme eines Mannes – von der 01er-Reihe des Delta-Modells mal abgesehen –, ihre Oberfläche bestand aus einem Gewebe, das der menschlichen Haut auf eine geradezu unheimliche Art und Weise ähnelte, und sie bewegten sich frei und selbstständig. Sie wurden den Menschen als Assistenten für einfache Arbeiten zugeteilt, waren als Fahrer von Taxi-Gleitern tätig, hatten Jobs in der Krankenpflege, wurden für gefährliche Arbeiten eingesetzt oder verrichteten anspruchslose Dienstleistungen.
»Rick? Mr Thorndyke?«
Die einschmeichelnde Stimme von Hallo – Ich bin Deborah ließ mich hochfahren. Meine Augen hatten sich am Display festgesaugt, und ich war in Gedanken gewesen.
»Äh, ja?«
»Gibt es dazu noch Fragen irgendwelcher Art?« Mit einer geübten Bewegung warf sie ihr Haar über die linke Schulter. Sie lächelte und legte mir sanft eine Hand auf den Unterarm.
»Nein.« Ich räusperte mich. »Nein«, wiederholte ich dann mit fester Stimme, »alles klar. Ich nehme an, falls Detailfragen auftauchen, kann ich mich vertrauensvoll an den Delta wenden?« Ich blickte den Astro nicht an, während ich sprach, aber er nahm sich die schamlose Freiheit, trotzdem auf meine Frage zu antworten.
»Selbstverständlich stehe ich … Ihnen jederzeit mit Rat und Tat zur … Seite, Rick, Sir!«
Schleimscheißer, dachte ich.
Der Tag wollte kein Ende nehmen. Über den Ausführungen von Hallo – Ich bin Deborah versank ich irgendwann in einem dichten Nebel der Langeweile, der mich zu umhüllen schien, dennoch regte es mich furchtbar auf, dass der Delta die meiste Zeit hinter meinem Rücken stand und mir über die Schulter schaute. Steht ein Mensch neben einem, dann merkt man das. Man spürt seine Anwesenheit. Vielleicht ist es die Wärme, die er abstrahlt, oder der Geruch, den er verströmt. Aber wenn sich ein Android in der Nähe befindet, dann ist da nichts. Absolut nichts.
Als Hallo – Ich bin Deborah mich nach Stunden des monotonen Irrsinns endlich entließ, hoffte ich, die Fahrt nach Hause im Gleiter solo antreten und in einen Autonomic steigen zu können, der selbstständig fuhr. Leider hatte ich mich mit dieser Annahme geirrt. Denn hinter den Digitalkonsolen des leicht angestaubten Drifters, Baujahr 2060, dessen geringfügig angekratzte Schönheit im Glanz der irisierenden Neonreklame der Stadt schillerte, hatte der Delta-01 Platz genommen.
Der Drifter gehörte zum Gesamtpaket. Er wurde sozusagen zum Job dazugeliefert. Eine kleine Bestechungsmaßnahme der Anstalt. Denn die Stellenbeschreibung verlangte zwar Konzentrationsfähigkeit, aber keinen Universitätsabschluss, und der Intelligenzquotient des Stelleninhabers musste auch nicht die Norm sprengen. Es gab nur noch wenige Menschen im ersten Outer-Rim, die sich auf das Niveau einfacher Datentipper herabließen. Der Großteil strebte nach Höherem. Bei den Bewohnern des Inner Circle brauchte man gar nicht erst für so einen Job werben. Die meisten hatten keine Arbeit, sondern lebten, nicht zuletzt dank Aktiengewinnen an der Pharmabörse oder anderen finanziell lukrativen Taschenspielereien, in Saus und Braus.
Ich würde also ab morgen einen Job antreten, den jeder Idiot machen konnte, und eine weitere Demütigung bei dieser Sache war, dass es sich beim IRIR um einen Überwachungsdienst handelte. Man lieferte Entflohene aus Miseria an die Behörden aus. Das hatte eindeutig einen üblen Beigeschmack. Auch wenn jeder Bewohner im Inner Circle insgeheim dankbar für diese Auslieferungen war, was jedoch keiner freiwillig zugegeben hätte – die Taste, die zur Übergabe führte, wollte dennoch niemand drücken. Im Inner Circle der Stadt sowieso nicht, und auch in den ersten Ringen außerhalb des Zentrums riss sich niemand darum, der noch alle Tassen im Schrank hatte. Und dafür gab es einen Grund.
Zehn Jahre zuvor war geschehen, wovor Mediziner schon lange gewarnt hatten. Infektionskrankheiten waren auf der Insel zur häufigsten Todesursache geworden, und Zoonosen dabei zügig an jeder Erkältung, an jeder Infektion, an jeder Antibiotikaresistenz vorbei an die Spitze marschiert. SARS, Hanta, Ebola oder Gelbfieber waren nur einige von unzähligen Seuchen, die vom Tier auf den Menschen übertragen wurden, und schließlich gab es niemanden mehr, der nicht mindestens einen Krankheitsfall dieser Art in seinem Bekannten- oder Verwandtenkreis hatte.
Mit Entsetzen hatten die Inselstaaten beobachtet, wie die Zahl der Todesfälle in die Höhe schnellte, in die Millionen ging, ganze Kleinstädte entvölkerte. Wie Mediziner damals tatsächlich noch Diskussionen führten, ob man alle bioethischen Bedenken über den Haufen werfen und für bestimmte Berufs- und Bevölkerungsgruppen verpflichtend Zwangsimpfungen vorschreiben dürfe, von denen man nicht einmal wusste, ob sie etwas bringen würden, oder ob dieses Vorgehen zu weit in die persönliche Freiheit eines Menschen eingreife.
Als diese Fragen geklärt waren, der medizinische Diskurs endlich ein Ende nahm und einige provisorische Zwangsimpfungen zur Vorschrift wurden, von denen man sich das Ende der Infektionen versprach, hatte sich die Hälfte des Staates England bereits infiziert, siechte unheilbar dahin oder war schon tot. In Wales, Schottland und auf den irischen Inseln sah es nicht anders aus.
Der letzte Befreiungsschlag der Politiker, deren Felle angesichts des Massensterbens und der eigenen Hilflosigkeit davonzuschwimmen drohten, war die Errichtung einer Zone für die Infizierten und die Einteilung der Menschheit in eine strikt definierte Drei-Klassen-Gesellschaft. Im Inner Circle von London, in Metro-City, sollten diejenigen leben, die die nötigen finanziellen Mittel besaßen, um sich als Stützen der Gesellschaft hervorzutun. In den beiden Außenringen der Stadt, den Outer-Rims, schuf man Wohnraum für die, die ebenso wie die Menschen im Inner Circle noch gesund waren.
Den infizierten Rest verfrachtete man an einen Ort, dem man den Namen Habitat Miseria gab: ein Bezirk enormen Ausmaßes, in dem gelitten und gestorben wurde. Ein Bezirk, aus dem es normalerweise kein Entrinnen gab. Statt Internierung nannte man es »Umsiedlung«.
Familien, Freunde und Geschäftspartner wurden getrennt. Jeglicher Widerstand bezüglich der Einteilung in die eine oder andere Klasse der neuen Gesellschaft wurde unterbunden. Selbst Bestechung war dabei kein Thema.
Jeder, der die Pestilenz überlebt oder sich noch nicht angesteckt hatte, bekam ein Mini-Tablet-Armband und musste Kleidung tragen, deren eingewebte Sensoren permanent Körperdaten an das Armband übermittelten. Diese wurden dort ausgewertet und eventuelle Abweichungen sofort dem Health Service gemeldet, der sie zu den zwei größten Pharmafirmen des Landes weiterleitete, woraufhin die Industrie ihre Produktion anpasste, an der Optimierung einzelner Arzneimittel arbeitete oder die Herstellung anderer zurückfuhr. An fast jeder Straßenecke gab es Medikamentenausgabefächer, die – hielt man das Armband unter den Scanner – die entsprechenden Pillen auswarfen. Die Kosten dafür übernahm zu einem kleinen Teil die Regierung, zu einem anderen kleinen Teil die Versicherung. Aber der größte Batzen wurde in Kredits direkt über das Armband vom Konto des Trägers abgebucht.
Man atmete auf. Wusste man nun doch, wie man mit dem Problem umzugehen hatte. Die Angelegenheit hatte sich erledigt. Die Insel war gerettet. Der Rest der Welt würde sich beruhigen, und die angrenzenden Länder auf der anderen Seite des Kanals würden ihre Grenzen wieder öffnen. So dachte man zumindest.
Was würden Sie als Infizierter tun? Abgeschnitten von Ihrer Familie, getrennt von Ihren Freunden, die Gesichter von Vater, Mutter, Sohn oder Tochter auf der Netzhaut eingebrannt, in Gedanken noch immer zu Hause? Erinnerungen an Abschiede voller Tränen und Verzweiflung – und einem unterschwelligen winzigen Funken Hoffnung, es würde alles wieder gut werden. Vielleicht hatten die Behörden sich ja geirrt! Die Hoffnung, nicht infiziert zu sein – schließlich geht es Ihnen prächtig! Nur ein kleiner Schnupfen, sonst nichts! Es konnte sich nur um ein Missverständnis handeln, etwas, was wiedergutzumachen war.
Aber weder dem IRIR noch der CDF unterlaufen irgendwelche Patzer. Pannen sind nicht vorgesehen im System. Das System irrt sich nicht.
Wenn Sie das erst einmal begriffen haben, werden Sie kurz wütend, und dann stellt sich lähmende Resignation ein. Sie ergeben sich Ihrem Schicksal, denn was können Sie schon unternehmen? Sie sind nur ein Rädchen im Getriebe, und man muss die, die noch gesund sind, doch schützen, oder? Auch vor Ihnen. Hauptsache denjenigen, die Sie zurücklassen mussten, geht es gut. Hauptsache, sie sind wohlauf. Und so schlecht ist es in Habitat Miseria nicht. Man soll nicht meckern, wenn man eine Zeltplane über dem Kopf hat, und auch die Decken werden für jeden reichen. Genauso wie die Mahlzeiten, die aus einem großen Topf kommen.
Doch irgendwann fällt Ihnen auf, dass es immer die gleichen Mahlzeiten sind, die Plane schon lange ein Loch hat und dass die Decke Sie nicht mehr gegen das hereintropfende Wasser schützen kann. Sie merken, dass Sie es satthaben, jeden Tag in einer Schlange für ein bisschen Porridge anstehen zu müssen, um das Sie sich dann mit den Menschen streiten, mit denen Sie sich gestern den letzten Kanten Brot teilten. Sie können die Husterei und den blutigen Auswurf nicht mehr ertragen, den Ihr Bettnachbar jede Stunde auf den Boden spuckt, und überhaupt sind Sie angewidert von dem Siechen und Sterben um sich herum.
Sie wollen nur noch weg. Und dann versuchen Sie es eben. Und mit Ihnen andere. Es wird erst nicht gelingen, denn die Zone wird scharf bewacht, und das Sicherheitspersonal, das aus Alpha-Androiden besteht, wird nicht zögern, auf alles und jeden zu schießen, der sich der Schleuse auch nur ansatzweise unerlaubt nähert. Es sind ja auch nur die lebenden Toten, die auf das monströse Tor zulaufen. Die kann man abknallen wie die Karnickel. Doch Sie schmieden Pläne, und mit jedem Tag werden Sie erfindungsreicher.
Vielleicht hängen Sie sich unbemerkt an einen der Konvois, die Kranke und Infizierte im Habitat abladen und für die die mächtigen Riegel der imposanten Stahlschleuse geöffnet werden. Möglicherweise können Sie sich unter der Ladeplane des Transporters verstecken, der die Zone einmal im Monat mit dem Allernötigsten versorgt.
Mit der Zeit gewinnen Sie Brüder und Schwestern im Geiste. Zusammen fühlen Sie sich stark. Und dann gelingt es Ihnen. Aus dem lebenden Toten ist ein Runner geworden.
So zumindest stellte ich mir das immer wieder vor. Und: Hatte ich schon erwähnt, dass auch Sofie dort ist? Wenn sie noch dort ist. Wenn sie nicht schon verreckt ist. Im Habitat Miseria.