Kiran Millwood Hargrave
Die Sternenleserin und das Geheimnis der Insel
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Insel Verlag
Für einen Stern: Sabine Karer in 286139° N, 772090° O
und für die, die mir geholfen haben, die Tinte zu Papier zu bringen, in 517519° N, 12578° W
Es heißt, am Tag, als der Gouverneur kam, kamen auch die Raben. All die kleineren Vögel flogen rückwärts ins Meer, und deshalb gibt es auf Joya keine Singvögel. Nur große, struppige Raben. Manchmal, wenn ich sie wie Omen auf den Dächern sitzen sah, kniff ich die Augen zusammen und stellte mir vor, es wären Finken und Goldhähnchen, wie Pa sie aus dem Gedächtnis gezeichnet hatte. Wenn ich mir richtig Mühe gab, konnte ich sie beinahe singen hören.
»Warum sind die Singvögel fort, Pa?«, fragte ich dann.
»Weil sie es konnten, Isabella.«
»Und die Wölfe? Und die Rehe und Hirsche?«
Pas Gesicht verdunkelte sich. »Das Meer war wohl immer noch besser als das, wovor sie geflohen sind.«
Dann erzählte er mir eine andere Geschichte, von dem Kriegermädchen Arinta oder von Joyas sagenumwobener Vergangenheit als schwimmende Insel, und weigerte sich, noch etwas zu den Wölfen und den rückwärts fliegenden Vögeln zu sagen. Aber ich fragte immer wieder, bis ich schließlich selbst die Antworten fand.
Der Morgen, an dem alles begann, war wie jeder andere.
Ich wachte in meinem schmalen Bett auf, als gerade die ersten Sonnenstrahlen auf die Lehmwände meines Zimmers fielen. Es roch nach angebranntem Haferbrei. Pa musste schon seit Stunden auf sein, denn es dauerte lange, bis das Feuer den schweren Tontopf erhitzte. Hinter dem Vorhang, der als Tür diente, hörte ich Miss La, unsere Henne, nach Krümeln scharren. Sie war dreizehn Jahre alt, genau wie ich, aber während das für einen Menschen jung ist, ist es für ein Huhn sehr, sehr alt. Ihr Gefieder war grau und ihre Laune schwarz, und sogar unser Kater Pep hatte Angst vor ihr.
Mir knurrte der Magen. Pep, der quer über meinen Beinen lag, maunzte laut, als ich mich reckte und aufsetzte.
»Bist du wach, Isabella?«, rief Pa aus der Küche.
»Ja. Guten Morgen.«
»Der Haferbrei ist fertig. Ein bisschen mehr als das, um genau zu sein …«
»Ich komme!« Ich zog vorsichtig die Beine unter der Decke hervor und strich das zerzauste Fell des Katers glatt. »Tut mir leid, Pep.«
Er schnurrte und schloss seine grünen Augen.
Ich wusch mir das Gesicht in der Schüssel am Fenster und streckte meinem Spiegelbild in der polierten Metallscheibe über Gabos Bett die Zunge heraus. Dann zupfte ich seine Decke zurecht, die mit jedem Tag staubiger wurde. Neben seinem Kopfkissen stieg die Sprechrinne auf, eine lange, schmale Vertiefung, die Pa in die Wände und quer über die Decke gemeißelt hatte. Wenn wir die Lippen daranhielten und hineinflüsterten, trug sie unsere Stimmen, sodass wir miteinander sprechen konnten, selbst wenn wir an den entgegengesetzten Seiten des Zimmers in unseren Betten lagen.
Drei Jahre. Drei Jahre war es jetzt her, seit ich dort gesessen und die fieberglühende Hand meines Zwillingsbruders gehalten hatte, während er in der Dunkelheit erlosch wie die Flamme eines Streichholzes.
Aber ich konnte ihn immer noch sehen, hören, spüren.
Es war nicht gut, den Tag traurig zu beginnen. Ich vertrieb die Gedanken aus meinem Kopf und zog mein Schulkleid an. Es war viel zu groß, obwohl ich es schon seit sechs Wochen hatte. Lupe, meine beste Freundin, zog mich oft damit auf: Immer noch die Kleinste in der Klasse!
Rasch flocht ich mein ungekämmtes Haar. Hoffentlich merkte Pa nicht, dass ich es den ganzen Sommer über nicht entwirrt hatte. Pep rollte sich auf dem Bett hin und her, aber ich durfte ihn nicht streicheln, wenn ich die Uniform anhatte. Meine Lehrerin, Señora Feliz, zupfte dauernd mit gereizten Fingern die rötlichen Haare vom Stoff.
Ich zog den Vorhang beiseite und stieg vorsichtig über Miss La hinweg, die gackernd schimpfte, als ich in ihr Häufchen Krümel trat. Sie kniff die trüben Augen zusammen und pickte nach meinen Knöcheln, sodass ich rasch in den Hauptraum floh, in dem wir aßen, redeten und Abenteuer planten.
Auf unserem langen Holztisch stand eine große Schale mit angekokeltem Haferbrei, gestrandet in einem Meer aus Karten. An den Wänden hingen noch mehr von Pas Karten, und sie raschelten, als ich an ihnen vorbeiging, wie ein sprechender Windhauch.
Wie jeden Morgen strich ich mit dem Finger über das Papier und sah, wie die silbern schimmernden Flüsse Afriks sich mit denen Ægyptias vereinten; wie Ægyptia sich an die Spitze der Europabucht klammerte, als reichten sie sich über das Meer hinweg die Hände. An der gegenüberliegenden Wand hing die skizzierte Küste von Amrika mit ihren Ozeanströmungen, die wundersame, geheimnisvolle Namen trugen: Gefrorener Kreis, Dreieck des Verschwindens, Himmelblaue See. Das Papier war in einem wunderschönen satten Blau gefärbt, und die Strömungen hatte Pa mit haarfeinen Fäden aufgenäht – gold für die Himmelblaue See, schwarz für das Dreieck und weiß für den Gefrorenen Kreis. Doch jenseits der östlichen Küste war nichts mehr. Nur ein Wort unterbrach die leere Fläche.
Incognito. Unbekannt.
In der längst getrockneten Tinte spürte ich förmlich Pas Enttäuschung. Bei seiner letzten Reise waren ihm die Winde nicht gewogen gewesen, sodass er vorzeitig nach Joya zurückkehren musste, und er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, die weite Wildnis zu erforschen, weil der Gouverneur auf unsere Insel gekommen war. Gouverneur Adori hatte die Häfen geschlossen und den Wald, der unser Dorf Gromera vom Rest der Insel abtrennte, in eine Grenze verwandelt. Jeder, der sich seiner Herrschaft widersetzte, wurde auf die andere Seite verbannt, und der Wald war von dichtem Dornengebüsch und riesigen Glocken durchzogen, die die Wachen des Gouverneurs alarmierten, falls jemand versuchte hindurchzugelangen. Ich hatte die Glocken noch nie läuten hören.
Während Pa davon träumte, die Lücken seiner Karten von Amrika zu füllen, sehnte ich mich danach, die Waldgrenze zu überwinden und die Vergessenen Gebiete zu erforschen, die jenseits davon lagen. Aber das hatte ich ihm nie gesagt.
Es gab nur eine Karte, auf der unsere ganze Insel verzeichnet war, und die hing in Pas Arbeitszimmer. Ich nannte sie Mas Karte, weil sie seit Generationen innerhalb ihrer Familie weitergereicht worden war, vielleicht sogar seit Arintas Zeiten vor über tausend Jahren. Es war mir immer wie ein Zeichen vorgekommen, dass Ma und Pa füreinander bestimmt waren, denn er war Kartograph, und ihr einziges Erbe war eine Karte.
Wir alle tragen die Karte unseres Lebens auf unserer Haut, in der Art, wie wir gehen, sogar in der Art, wie wir wachsen, sagte Pa oft. Siehst du die Adern hier an meinem Handgelenk? Sie sind nicht blau, sondern schwarz. Deine Mutter hat immer gesagt, es sei Tinte darin. Ich bin Kartograph bis in die Tiefe meines Herzens.
»Holst du bitte mal den Krug?« Pas Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
Ich zog einen Stuhl vor das Regal, kletterte hinauf, nahm den Krug von oben und stellte ihn neben den Haferbrei auf den Tisch. Der Krug war grün wie der Wald und etwas Besonderes, weil er das Letzte war, was Ma gemacht hatte. Wir benutzten ihn nur am ersten Schultag und an Geburts- und Feiertagen. Pa bewahrte ihn außer Reichweite auf und wusch ihn mit großer Sorgfalt ab.
Manchmal erinnerte ich mich noch an Ma – ihre dunklen Augen, ihr Lächeln, den Geruch nach schwarzem Ton, aus dem sie Töpfe für die Dorfleute und zartes Geschirr für den Gouverneur anfertigte. Oder vielleicht stellte ich sie mir auch nur vor, so wie die Singvögel.
»Guten Morgen, Kleines.« Pa kam hinkend aus der Küche. Ich beeilte mich, ihm den Milcheimer und die Becher abzunehmen, die er in den Händen hielt.
»Du sollst doch nicht ohne deinen Stock gehen«, schimpfte ich.
Pa hatte sich als junger Mann ein Bein gebrochen, als er in einem Hafen in Ægyptia vom Anleger auf ein fahrendes Schiff gesprungen war, und seither stützte er sich beim Gehen auf einen Stock, der aus einer Planke vom Fischerboot seines Urgroßvaters geschnitzt war. Von all den wunderbaren Dingen hier im Raum war der Stock das Wunderbarste. Er war so leicht wie Papier und schwamm selbst in der kleinsten Pfütze, aber vor allem leuchtete er im Dunkeln. Pa meinte, das käme vom Harz, aber ich wusste, dass hier Magie im Spiel war.
Rasch machte ich auf dem Tisch Platz und legte die Himalay-Berge ins Regal.
Pa goss die Milch in Mas Krug, dann setzte er sich mit breitem Lächeln neben mich auf die Bank. »Rechte oder linke Tasche?«
Ich verdrehte die Augen. »Die linke.«
Er ließ seine Brauen zappeln wie zwei schwarze Tausendfüßer. »Richtig geraten.« Er zog ein kleines Glas aus der Tasche.
»Kiefernhonig!« Ich schraubte den Deckel ab, und der Duft war so köstlich, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief. »Danke, Pa.«
»Am ersten Schultag nach den Ferien gibt es für dich nur das Beste.«
Ich zuckte die Achseln. »Ist doch nur Schule …«
»Tja, dann muss ich den wohl alleine essen …« Er nahm mir das offene Glas weg und tat so, als wollte er sich den Honig in den Mund laufen lassen.
»Nicht!« Ich riss ihm das Glas aus der Hand. »Du hast recht, heute ist ein sehr wichtiger Tag. Ich bin nur überrascht, dass du nicht zwei Gläser gekauft hast.«
Der Honig war so lecker, dass ich das Verbrannte im Haferbrei kaum schmeckte, doch als ich aufblickte, sah ich, dass Pa sein Essen nicht angerührt hatte. Er saß ein wenig zusammengesunken da, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Er hatte die Hand um den Milchkrug gelegt, und ich konnte den Puls an seinem Handgelenk sehen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.
Der erste Schultag nach den Ferien war für uns beide immer schwer.
Ich spülte meine Schale so lautlos wie möglich ab und schob ihm seine ein wenig näher hin. »Bis später, Pa.«
Er antwortete nicht, und ich nahm meine Tasche, verließ das Haus und schloss die Tür, deren grüne Farbe abblätterte, leise hinter mir.
Unsere Straße führte in einer geraden, steilen Linie hinunter zum Westmeer, und alle Häuser waren auf dieselbe Weise gebaut: eine lange Reihe von strohgedeckten Lehmhütten. Lupe fand, dass sie niedlich aussahen. Ich fand, sie sahen aus, als würde ein kräftiger Windstoß sie alle ins Wasser purzeln lassen.
Normalerweise rutschte ich auf den Fersen den Hügel hinunter und rannte dann zum Marktplatz, weil die Raben gerne tief flogen, und wenn man rannte, ließen sie einen in Ruhe. Doch heute entschloss ich mich, nur schnell zu gehen – schließlich war ich jetzt fast in der obersten Klasse, da gehörte es sich nicht mehr, zu rennen wie ein kleines Kind.
Masha, die gegenüber wohnte, stand in der offenen Tür. Ich winkte und versuchte, an ihr vorbei ins Haus zu spähen.
»Suchst du jemanden?« Sie lächelte, und ihr Gesicht knitterte wie altes Papier. »Pablo ist schon weg. Du weißt ja, der Gouverneur will, dass sie schon vor Tagesanbruch bei der Arbeit sind.«
Mashas Sohn Pablo war auf die Welt gekommen, als sie schon alt war. Ihr Bauch hatte sich gerundet, obwohl ihr Haar schon grau und ihr Gesicht von Falten durchzogen war. Masha hatte es ein Wunder genannt, und Pablo war tatsächlich wundersam. Gabo und ich hatten, wie all die Leute im Dorf, immer über seine Stärke gestaunt. Mit zehn Jahren konnte er seine Eltern über den Schultern tragen, und zwar beide zugleich. Von Pablo huckepack getragen zu werden fühlte sich an wie fliegen, aber ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen.
Vor zwei Jahren, als der Rücken seiner Mutter zu sehr zu schmerzen begann, hatte Pablo die Schule verlassen und ihren Platz als Arbeiter eingenommen, obwohl Masha ihn angefleht hatte, es nicht zu tun. Jetzt, mit fünfzehn, zog er Karren, als wären sie aus Papier, und kümmerte sich unter anderem um die Pferde des Gouverneurs.
»Er hat das Geschenk für Lupe mitgenommen«, fügte Masha mit gerümpfter Nase hinzu. Ich wusste, dass sie nicht verstand, weshalb ich ausgerechnet mit der Tochter des Gouverneurs befreundet war. »Ich habe ihm gesagt, dass er es verstecken soll, so wie du es wolltest.«
»Danke«, sagte ich. »Vielleicht sehe ich ihn ja morgen?«
»Ja, vielleicht.« Aber in ihrer Stimme lag keine Hoffnung. Er war immer vor Tagesanbruch auf und kam erst im Dunkeln nach Hause.
Ich winkte ihr noch einmal zu, schulterte meine Tasche und machte mich auf den Weg den Hügel hinunter.
Von hier oben sah Gromera aus wie ein Rad oder ein Strahlenkranz, mit dem Marktplatz in der Mitte und den Straßen, die wie Speichen davon wegführten. Einige davon endeten beim weiten, ruhigen Hafenbecken, von dem ein schmaler Durchlass in das fischreiche Meer führte. In einer klaren Nacht schimmerten die Sterne auf dem Wasser wie Seerosen.
Dort lag wie immer das Schiff des Gouverneurs. Pa sagte, es sei aus einem einzigen Affenbrotbaum geschnitzt, wie sie in Afrik wachsen. Das muss ein riesiger Baum sein, denn der Rumpf durchmaß fast die gesamte Breite des Hafenbeckens, und der Mast mit den gerafften Segeln schien bis zum Himmel zu reichen. Mächtig und reglos wie ein Berg ragte es über die Fischereiflotte hinaus. Wie alles, was der Gouverneur besaß, nahm es viel mehr Raum ein, als es sollte.
Im Westen funkelte sein Haus in der Morgensonne. Aus schwarzem Basalt erbaut und so groß wie fünf Schiffe, breitete sich das Herrenhaus zwischen dem blauen Meer und dem grünen Wald aus wie eine Gewitterwolke. Von hier aus sah es so klein aus, als könnte ich es zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschen. Unterhalb davon lag das Dorf und ein Stück weiter auf halber Höhe die Schule.
Das alte Schulgebäude war klein, aber hell gewesen, und wir hatten die Wände in allen Regenbogenfarben gestrichen, je nachdem, was Pa gerade entbehren konnte. Doch dann hatte der Gouverneur es abreißen lassen – Lupe hatte keine Lust mehr gehabt, allein zu Hause unterrichtet zu werden, und darauf bestanden, zusammen mit uns anderen Kindern in die örtliche Schule zu gehen.
Daraufhin hatte Gouverneur Adori eine neue Schule gebaut, aus Stein und doppelt so groß wie zuvor, denn wenn seine Tochter dorthin ging, musste sie prächtiger aussehen.
»Nicht meinetwegen, verstehst du«, hatte Lupe mit traurigem Lächeln gesagt und dann mit Etepetetestimme hinzugefügt: »Sondern ›um die Ehre der Familie zu wahren‹.«
Die Wände der neuen Schule durften wir nicht anstreichen. Viele von den Kindern waren deshalb unfreundlich zu Lupe, aber ich wusste, es war nicht ihre Schuld.
Hinter dem Haus des Gouverneurs, ganz nah beim Wald, erstreckte sich der Obstgarten, in dem ich noch nie gewesen war. Ich spähte zu den Arbeitern hinüber, die winzig wie Ameisen aussahen, und fragte mich, welcher davon wohl Pablo war. Im Osten war der schwarze Sand der Strände fast vollständig von der herannahenden Flut bedeckt. Bei Flut durften wir nicht an die Strände, und niemand durfte ins Meer, es sei denn, der Gouverneur befahl, eines seiner Boote zu Wasser zu lassen. Es juckte mir in den Zehen. Pa hatte mir beschrieben, wie es war, im Meer zu sein, aber das war nicht dasselbe, wie es selbst auszuprobieren.
Oberhalb der Strände lagen die Tonminen, aber ich mochte nicht dorthin schauen, weil das eine der wenigen klaren Erinnerungen weckte, die ich noch an Ma hatte: Jener Tag, als sie Gabo und mich in die Minen mitgenommen hatte. Sie hatte uns gezeigt, wie wir uns mit Ranken an einen Drachenbaum binden sollten – Ihr verknotet sie so, und dann verreibt ihr den Saft in den Händen, damit ihr euch besser festhalten könnt –, und uns dann nacheinander in die Schlucht hinabgelassen. Gabo hatte Angst bekommen und so gezappelt, dass der Knoten aufging. Er war mit einem schmatzenden Geräusch im Matsch gelandet und von oben bis unten dreckig, als Ma mit ihm aus der Dunkelheit hochkletterte. Ich hatte so gelacht, dass mir der Bauch wehtat.
Daran erinnerte ich mich, an diesen Schmerz im Bauch. Zwei Monate später hatte ich ihn erneut verspürt, als Ma starb. Aber da war er schneidender, und niemand hatte sie aus der Dunkelheit gerettet. Drei Jahre später hatte dieselbe fiebrige Krankheit auch Gabo geholt. Nun waren noch mal drei Jahre vergangen, aber bei der Erinnerung an die Tonmine schnürte sich mir immer noch die Kehle zu.
Lupe wartete immer bei einem Fass am Rand des Marktplatzes auf mich, damit wir zusammen zur Schule gehen konnten, obwohl sie dafür fast so früh aufstehen musste wie die Arbeiter. Als ich zum Platz kam, bildete sich bereits eine Schlange vor dem Brunnen. Immer mehr Leute holten ihr Wasser dort, seit der Fluss Arintara auszutrocknen begonnen hatte.
Alle Stände waren geöffnet und verkauften Fisch und Getreide und Leder. Die meisten davon gehörten dem Gouverneur, die Markisen so kühl und blau wie der Himmel, nur der Honigstand in der Mitte leuchtete in hellem Sonnengelb.
Als ich auf das Fass zuging, packte mich plötzlich jemand am Handgelenk. Vor lauter Schreck stieß ich gegen einen der Stände, sodass lauter Gemüse auf den staubigen Boden fiel.
»He!«, knurrte der Standbesitzer. »Pass doch auf!«
Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, wer mich festhielt. Es war eine Frau in einem grünen Kleid, was bedeutete, dass sie im Obstgarten arbeitete. Sie sollte längst dort sein – wer zu spät kam, riskierte Peitschenhiebe.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte die Frau zum Standbesitzer, ohne den Blick von mir zu wenden. »Isabella Riosse?«
»Ja«, antwortete ich. »Wer –?«
»Es ist etwas passiert.« Sie umklammerte mein Handgelenk fester. Sie war so klein, dass ihr Gesicht fast auf der Höhe von meinem war.
»Was soll denn das werden?«, rief der Standbesitzer und kam hinter seinem Kartoffelberg hervor.
»Hast du Cata gesehen?«, fragte die Frau, ohne ihn zu beachten.
Ich runzelte die Stirn. »Cata Rodriguez?« Cata war in meiner Klasse, aber wir hatten bisher nur wenig miteinander zu tun gehabt.
Die Frau nickte mit Nachdruck. »Ich bin ihre Mutter. Sie hat gesagt, ihr wärt befreundet, und ich dachte, du weißt vielleicht, wo sie ist.«
Ich trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Es stimmte zwar, dass ich netter zu ihr war als der Rest der Klasse, aber sie war sehr still, und die meisten nahmen sie kaum zur Kenntnis. »Tut mir leid, aber –«
»Ich habe überall nachgesehen. Sie war nicht da, als ich aufgewacht bin, und ich –« Keuchend brach die Frau ab und legte die Hand auf die Brust, als bekäme sie keine Luft.
»He! Was tust du hier?«
Catas Mutter zuckte zusammen. Einer von den Männern des Gouverneurs kam auf uns zu, und die Menge teilte sich vor seiner blauen Uniform wie ein Weizenfeld.
»Wenn du sie siehst, schick sie nach Hause«, sagte die Frau hastig, das Gesicht von Sorge zerfurcht. Dann lief sie eilig zum Anwesen des Gouverneurs.
»Was für ein Durcheinander«, schimpfte der Standbesitzer und begann, das heruntergefallene Gemüse aufzuheben. »Nein, hilf mir nicht. Du hast schon genug angerichtet.«
Benommen ging ich zu der Marktecke, wo Lupe und ich uns immer trafen. Etwas in der Miene der Frau hatte mich bis ins Mark erschüttert. Hoffentlich war Cata nichts zugestoßen.
»Isa!«
Ich fuhr herum und sah Lupe, die mit fliegender Schultasche auf mich zugelaufen kam. Die anderen Leute aus dem Dorf wichen vor ihr zurück. Die Tochter des Gouverneurs hatte nicht viele Freunde. Aber das kümmerte sie nicht.
»Ist mir ganz egal«, hatte sie entgegnet, als eins von den Mädchen sie wegen der komplizierten Zopffrisur aufzog, auf der ihre Mutter bestand. »Isabella gefällt es, und das genügt mir.«
Wir waren ein seltsames Paar, Lupe und ich: sie fast so groß wie ein erwachsener Junge und ich so klein, dass ich ihr gerade mal bis zur Schulter reichte. In den vier Wochen, die ich sie nicht gesehen hatte, schien sie sogar noch gewachsen zu sein, was ihrer Mutter bestimmt nicht gefiel. Señora Adori war eine zierliche, elegante Frau mit traurigen Augen und einem kalten Lächeln. Laut Lupe lachte sie nie und fand, dass Mädchen nicht laufen und vor allem nicht so groß werden sollen wie Lupe.
Sie umarmte mich fest, dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete mich von oben bis unten.
»Immer noch so klein!«, sagte sie voller Neid. Dann runzelte sie die Stirn. »Was ist? Du bist ja ganz blass. Hat dein Pa dich den ganzen Sommer über nicht in die Sonne gelassen? Mama versucht das auch immer, aber ich schleiche mich –«
»Cata ist verschwunden«, stieß ich hervor. »Ihre Mutter war gerade hier.«
»Welche Cata?«
Ich verdrehte ungeduldig die Augen. »Das Mädchen aus der letzten Reihe.«
Lupe wandte den Blick ab. Sie sah genauso aus wie Pep, wenn er einen Teller hinuntergeworfen hatte.
Ich starrte sie an. »Was ist?«
»Was soll sein?«, entgegnete Lupe und zog ihre Schultasche höher über die Schulter.
»Du weißt etwas.« Ich trat einen Schritt vor.
»Nein, tue ich nicht.« Sie wich einen Schritt zurück.
Ich zog die Augenbraue hoch, wie ich es mir von Pa abgeschaut hatte.
Lupe knickte ein. »Es hat bestimmt nichts zu bedeuten, aber sie hat im Sommer bei uns in der Küche gearbeitet, und ich habe sie gestern gebeten, in den Obstgarten zu gehen, um mir ein paar –«
»In den Obstgarten!« Mir wurde ganz flau. »Lupe, du weißt doch, dass wir da nicht reindürfen.«
»Ja, natürlich weiß ich das, aber ich hatte seit Ewigkeiten keine Drachenfrucht mehr, und heute ist doch mein Geburtstag, da wollte ich welche haben.«
Ich hatte noch nie eine Drachenfrucht gegessen und wusste nicht mal, wie sie aussahen, aber ich wusste, dass es Lupes Lieblingsfrüchte waren, und sie wuchsen im Obstgarten des Gouverneurs am Rand des Waldes. Und den durfte niemand außer seinen Wachmännern und den Arbeitern betreten.
»Lupe, wenn sie Cata erwischt haben, ist sie jetzt wahrscheinlich im Dédalo.«
Lupe machte eine wegwerfende Handbewegung. »Fängst du schon wieder davon an? Ich habe diesen Ort noch nie gesehen, und ich wohne schließlich da.«
Das überraschte mich nicht, denn Lupe bemerkte nie etwas, selbst wenn es direkt vor ihrer Nase lag. Und das Dédalo – das Labyrinth – lag direkt vor ihrer Nase, denn Gouverneur Adori hatte sein Haus über den natürlichen Tunneln gebaut, die ihm jetzt als Gefängnis dienten. Mashas Ehemann hatte zehn Jahre dort gesessen und war dann gestorben.
Lupe legte mir den Arm um die Schultern. »Komm schon, hör auf zu maulen. Cata ist bestimmt nichts passiert!« Sie steuerte mich durch die schmale Straße auf die Felder zu. »Wahrscheinlich sitzt sie schon im Klassenzimmer und futtert meine Drachenfrüchte. Ich gebe dir auch welche, die sind einfach köstlich. Und vergiss das Feuerwerk heute Abend nicht!«
Lupe hasste die Dunkelheit, aber sie liebte Feuerwerk. Es war auch wirklich beeindruckend mit all den schönen Farben und den Sternengarben, die vom Himmel fielen, aber es machte Pep Angst, und deshalb mochte ich es nicht.
»Papa hat mich die Farben aussuchen lassen. Es gibt goldene Raketen, eine blaue, zwei rote …«
Ich ließ Lupe reden, während wir die Abkürzung durch die Felder nahmen. Wahrscheinlich hatte sie recht. Selbst wenn sie Cata erwischt hatten, würden die Männer des Gouverneurs doch sicher kein Mädchen ins Dédalo werfen, nur weil sie ein paar Früchte gepflückt hatte, oder? Ich nahm mir vor, in der Schule besonders nett zu Cata zu sein und sie vielleicht sogar einzuladen, sich von unserem Garten aus Lupes Geburtstagsfeuerwerk anzuschauen. »Ach, und das habe ich dir ja noch gar nicht gezeigt«, sagte Lupe plötzlich und blieb stehen.
»Was denn?«
Sie zog eine dicke Goldkette aus ihrem Kleid, und daran hing ein goldenes Medaillon, in das ein Umriss eingraviert war, den ich erkannte.
»Das ist Afrik, wo Papa herkommt«, sagte Lupe. »Er hat es mir zum Geburtstag geschenkt. Es hat meiner Großmutter gehört.«
»Und was ist da drin?«
Sie zuckte die Achseln. »Papa sagt, ich darf es erst aufmachen, wenn ich älter bin. Er hat als Einziger einen Schlüssel.«
»Es ist hübsch.«
»Und schwer«, sagte Lupe. »Aber es gefällt mir. Allerdings war es das einzige Geschenk, das ich bekommen habe.«
Sie sah mich erwartungsvoll an. Ich tat so, als wüsste ich nicht, worauf sie hinauswollte, aber sie grinste so breit, dass ich nachgab und eine Rolle aus meiner Schultasche nahm.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich und grinste nun auch.
»Eine Karte! Mit einem X!«
Es war eine ganz einfache Karte, ohne Sternenlinien und Kompass, nur mit einem Pfeil, der den Norden anzeigte. Ich hatte nicht genug Zeit gehabt, um eine richtige Schatzsuche mit lauter verschiedenen Hinweisen anzufertigen.
»Da ist der Schatz versteckt.« Ich drückte Lupes Hand.
»Worauf warten wir noch?«, rief sie und lief los. »Wer zuerst da ist!«
Mit ihren langen Beinen hätte Lupe eigentlich viel schneller sein müssen als ich, aber sie bewegte sich so ungeschickt wie ein einbeiniges Kaninchen, und so blieben wir auf gleicher Höhe. Atemlos und mit hüpfenden Taschen rannten wir über das abgeerntete Feld.
Cata ist bestimmt in der Schule, Lupe bekommt ihre Drachenfrucht, und alles wird gut.
Schließlich kam Lupe bei dem X an, dem verlassenen Kaninchenbau, in dem Pablo das Geschenk für mich versteckt hatte. Sie zog das kleine blaue Päckchen hervor und riss das Papier auf. Darin lag ein einfaches Armband, das ich aus Garnresten von Masha geflochten hatte. Zwischen den bunten Strängen schimmerte ein einzelner Goldfaden, den ich aus Pas Arbeitszimmer stibitzt hatte. Er fertigte keine Spezialkarten mehr an, deshalb würde er es sicher nicht bemerken.
»Oh, ist das schön!« Lupe schlang es um ihr Handgelenk, und ich knotete es zu. »Das ist mein Lieblingsgeschenk.«
Nur Lupe würde ein Stück geflochtene Schnur einem Medaillon aus echtem Gold vorziehen. Das war auch etwas, das mir an ihr gefiel.
»Komm«, sagte ich, nahm ihre Hand und zog sie mit mir. Am ersten Tag des neuen Schuljahrs zu spät zu kommen, mochte bei Lupe Adori durchgehen, aber gegenüber Isabella Riosse würde Señora Feliz nicht so nachsichtig sein.
Wir liefen wieder los, in der Hoffnung, dass es noch nicht geklingelt hatte, kamen verschwitzt, außer Atem und lachend an und krümmten uns vor lauter Seitenstichen.
»Ich … hab … gewonnen!«, keuchte Lupe.
»Nein … ich! Ich … war … zuerst … hier.«
»Mädchen!« Señora Feliz tauchte in der Schultür auf, mit einer Miene, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Als sie Lupe erkannte, wurde ihre Miene noch säuerlicher. »Señorita Adori! Hat Ihnen denn niemand Bescheid gesagt? Ich habe extra jemanden zu Ihrem Vater geschickt –«
»Was?« Lupe runzelte die Stirn. »Warum?«
»Es hat einen … Nun ja, Ihr Vater wird Ihnen sicher alles erzählen. Die Schule bleibt heute geschlossen.«
»Geschlossen?«, wiederholte ich. »Aber warum denn?«
»Schluss mit der Fragerei!«, sagte die Lehrerin barsch, dann wurde sie plötzlich blass, und ihr Blick heftete sich auf etwas hinter uns.
Wir drehten uns um und sahen eine Kutsche, gezogen von zwei falben Hengsten, die langsam den von Schlaglöchern durchzogenen Weg vom Dorf heraufkam. Die Pferde tänzelten unruhig und schüttelten ihre Mähne. Hinter dem Fahrer saßen zwei Männer, deren Schwerter in der Sonne funkelten.
Die blauen Vorhänge der Kutsche waren zugezogen, um die Passagiere vor der Hitze zu schützen. Doch selbst aus diesem Abstand erkannte ich die Umrisse des massigen Gouverneurs und seiner zierlichen Frau, die sich durch die Seide abzeichneten.