Christa Wolf
Sämtliche Essays und Reden
Band 2: 1981-1990 Wider den Schlaf der Vernunft
Herausgegeben von Sonja Hilzinger
Suhrkamp
Günter de Bruyn
»Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, und gestatte vor allem du mir, lieber« Günter, »meine Ausführungen mit einem Zitat zu beginnen. Es lautet: Wem geben wir Einsen: den Nachbetern oder den Selbstdenkern, den Gleichgültigen oder den Aufrichtigen, den Braven oder den Schöpferischen?
Und wer kriegt die Preise?«
Wer es, wie der Autor, den ich vom ersten Wort an zitiert habe – mit Ausnahme des Vornamens, versteht sich, der lautet bei ihm »Paul« –, riskiert, einen seiner Romane »Preisverleihung« zu nennen, hat Boshaftes, mindestens Maliziöses zu gewärtigen, nun, da er sich selbst einer Preisverleihungsprozedur unterwerfen muß. Doch muß ich nicht boshafter werden, als er selbst es war. »Es gibt so viele Literaturpreise, daß im Laufe der Zeit jeder bedacht werden kann«, las ich schadenfroh und nahm mir vor, hier anzumerken, daß es nicht den Autor, sondern die Institution beschämen muß, wenn ein Preis, wie nach meiner Ansicht dieser hier, reichlich spät an den gerät, dem er lange schon gebührt. »Und überall werden Lobreden gehalten«, las ich weiter, »und kein Redner macht sich soviel Sorgen« – hier stock ich doch – »wie er«. Dr. Teo Overbeck nämlich, der die Preisrede für seinen Freund Paul Schuster zu halten hat und in dessen Haut ich nicht schlüpfen kann: Nicht nur, weil ich mich einem Geschlechtertausch mit allen Mitteln widersetzen würde, und nicht etwa, weil Günter de Bruyn nicht mein Freund wäre: er ist es, aber eben nicht über den Zeitabgrund von siebzehn Jahren hinweg und nicht nur, hoffe ich, in dem von ihm scharfzüngig beschriebenen Sinn, daß man Freunde suche, »deren Wesen und Wissen einem nicht ständiger Vorwurf ist, sondern Bestätigung« – denn gerade das Wissen dieses Freundes ist mir ständiger Vorwurf und Anlaß zu neidvollem Vergleich, und ein Teil seines Wesens auch: Fleiß, Disziplin, Beharrlichkeit, Gründlichkeit, Genauigkeit, Zurückhaltung. Doch bei Preußen sind wir noch nicht, sondern immer noch bei dem Germanisten Teo Overbeck, in dessen Haut ich doch nicht so weit hineinschlüpfen kann, wie ich es, einiger Pointen wegen, gewünscht hätte. Schon daß ich es nicht fertigbrächte, mit zwei verschiedenen Schuhen und einer unausgearbeiteten Rede hier zu erscheinen, trennt uns, und doch sind diese Äußerlichkeiten nur Symptome dafür, daß dieser Laudator sich in die Klemme manövriert hat: Er mußte entdecken, daß er das preisgekrönte Buch nicht ehrlichen Herzens loben kann. Da bin ich in entgegengesetzter Lage; paradoxerweise muß ich, zumindest für diesen konkreten Fall, befestigen, was Günter de Bruyns gesellschaftskritisch angelegter Roman gerade in Frage stellt: die Institution einer solchen Preisverleihung. Darüber ließe sich reden, finde ich, doch nicht heute.
Heute nehme ich diesen Teo Overbeck als das, was er doch hoffentlich ist: eine literarische Figur. Eine von denen – wie übrigens auch sein Mit- und Gegenspieler, der Schriftsteller Paul Schuster –, in denen der Autor sich selber prüft, ohne je in die heroische, auch nicht in die tapfer-tüchtig-unerschrockene, die moralisch wünschbare Variante zu verfallen. Teo Overbeck hat ja diesen Autor, den er nun nicht mehr rühmen will, einst selber mit »gemacht«, aber eben auch verdorben, indem er seinem Erstlingsbuch ganz nach dem damals gültigen Maßstab die Individualität austrieb (»Ich wußte, was in der Literatur richtig und falsch, aber nicht, was sie selbst ist«). Er ist klüger geworden, der Autor aber ist auf der Strecke geblieben – so verschlungen laufen, wenn kein Eiferer, sondern ein maßvoller Beobachter ihnen nachgeht, die Wege gesellschaftlicher, auch die persönlicher Moral, wer wollte da richten?
Über den »autobiographischen Kern künstlerischer Literatur«. Ohne erwarten zu können, daß Sie mir glauben werden, versichere ich, daß sich, nach der neuerlichen Lektüre einiger Bücher dieses Autors, auch meine Notizen auf eben dieses Thema konzentriert haben, welches der verwirrte Overbeck ins Zentrum seiner verunglückenden Laudatio stellt: »Jeder Autor beutet sein Ich literarisch aus – sein Rang aber bestimmt sich unter anderem dadurch, wieviel auszubeuten da ist.«
Und dadurch, was da ist, erlaube ich mir hinzuzufügen. Welche Qualitäten freigesetzt werden, wenn ein Autor sich selber heran- und unter die Lupe nimmt. Nüchternheit, zum Beispiel, auch bei dieser schärfsten Probe, Skepsis manchmal, Selbstkenntnis und Selbstironie, die, das bekenne ich gerne, den Umgang mit diesem Autor nicht nur, auch den mit seinen keineswegs harmlosen Büchern ersprießlich, provozierend und produktiv machen. Dem psychologischen Detail entspricht das topographisch-historische, die suggestive Wirkung der Fakten, eine Freude, die de Bruyn sich selber macht, und seine Art von Höflichkeit gegenüber dem Leser. Wenn er etwas verabscheut, ist es Geschwafel, sind es allgemein formulierte Bekenntnisse, doch sind alle seine Bücher ein Bekenntnis zum Konkreten, zu der greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit. Liebe zum genau beobachteten, durch Studium genau gekannten Detail also, zu bestimmten Städten, Stadtvierteln, Straßen; zu einer bestimmten Landschaft und ihrer Geschichte, zu einem bestimmten Menschenschlag, einer bestimmten Flora und Fauna. Und, alles in allem, zu einer bestimmten, nämlich unaufwendigen, aber auch unbeirrbar humanen Weise, auf dieser Welt zu sein.
Nicht also durch starke, blendende Scheinwerfer, die ein aufgestelltes Ich als übergroßen Schatten an eine sonst leere Wand werfen, wird diese Prosa beleuchtet. Sie empfängt ihr Licht aus einer Vielzahl von Quellen, die, jede für sich, nicht viel von sich hermachen, alle zusammen aber jenen Schein hinter den Arbeiten dieses Autors erzeugen, an dem man sie erkennt. Ein Licht, wie es – falls solche Übertragung erlaubt ist – auf märkischen Kiefernwäldern und auf märkischem Sandboden liegen kann; denn die Mark ist es ja, von der Günter de Bruyn in immer neuen Varianten sprechen, auch schwärmen kann, es ist, noch genauer gesagt, die Gegend um die Oberspree und um die Landstädte Beeskow und Storkow, es ist die Stadt Berlin, genauer gesagt, Berlin-Mitte. Dort ist er geboren und aufgewachsen, da lebt er heute, zu Hause in mehr als einem Sinn, und er kann nicht anders, als dieses Gebunden- und Verhaftetsein, diese immer noch wachsende Faszination und Bezauberung auch literarisch auszudrücken und so seiner literarischen Provinz reichlich heimzuzahlen, was er ihr entnimmt: nicht achtend, nicht allzusehr achtend, glaub ich, ob diese Treue und Bindung – eine Art »Freiheitsberaubung« ja auch (einer seiner Titel) – auf Verständnis, gar auf den gehörigen Respekt stoßen. Nicht daß er unempfindlich wäre. Doch nimmt er seine Würde aus der Sache, die ihn besetzt hält. Denn die Besessenheit, mit welcher der Amateur-Forscher Ernst Pötsch, die bisher letzte Verwandlungsfigur de Bruyns, seine märkischen Forschungen betreibt, die besitzt der Autor selbst in hohem Maße, und die Versuchung, sich in dieser Entdeckerlust, in Akten- und Quellenstudium, in penibelster, durch Lokaltermine erworbener Detailkenntnis zu verlieren, mag auch an ihn herangetreten sein, doch bannt er sie (und da benötigt er die Fiktion, die Erfindung eben doch), indem er sich durch einen Kunstgriff Distanz verschafft: Ganz wenig nur, um einige Grade, verrückt und verschiebt er die Figur des dörflichen Schwedenow-Forschers ins Provinzielle, Skurrile, Abseitige, zuletzt Abwegige – und hat ein Neben-, kein Ebenbild geschaffen, immer noch gut als positive Kontrastfigur zu dem karrierelüsternen, seine Forschungsergebnisse manipulierenden Berliner Professor, aber doch auch selbst ein kleines bißchen belächelnswert –, bis ganz am Ende sein Schicksal noch einen tragischen Zug bekommt. Die Frage nach den Verhältnissen, die den autoritären, berechnenden Professor Menzel nach oben tragen und den an den Rand gedrückten braven Pötsch verrückt machen – die muß der Leser sich selber stellen.
Das Zeitgenössische – de Bruyn hat es immer mit dem Persönlichen zusammen genannt, er hat (nach seinem ersten Buch, dem er später die Legitimierung entzieht) nie versucht, eine Zeitgenossenschaft nach Vorbild oder gar Vorschrift herzustellen, rückhaltlos hat er – und das mag manchmal irritiert haben – »nur« das gegeben, was er verantworten konnte, nämlich sich selbst. Denn – mag es Nebensonnen geben, die sein Werk erleuchten – die zentrale Sonne ist doch das Ich-Interesse, das ich mit dem Beiwort »scheu« charakterisieren möchte, damit auf die Spannungen in Leben und Werk, zwischen Leben und Werk eines derart angelegten Autors hinweisend. Daß »von sich aus«, »über sich« schreiben immer etwas mit Selbstentblößung, also Überwindung der Schamschwelle, selbst Schamlosigkeit zu tun hat – auch dazu hat er sich geäußert. Aber ein Schreib-Prozeß wird eben nicht authentisch durch die Anlässe und Materialien, derer er sich bedient, die er aufgreift und mit sich führt – die können zufällig sein, angenommen, anempfunden: authentisch ist das Werk, das eine Fixierung, eine Leidenschaft hervorgetrieben hat, eine persönlichste Erschütterung.
Dies bringt mich darauf, von dem Geflecht zu sprechen, das – entstehend aus einer Reihe wiederkehrender Motive und deren Verknüpfung untereinander und mit den Figuren – alles, was de Bruyn geschrieben hat, durchdringt. Manchmal wird das zentrale Motiv ganz rein und unverschlüsselt angeschlagen: »Wenn einer Provinz sagte oder Mark Brandenburg oder Preußen, fühlte er sich gemeint, nach seiner Herkunft befragt, sagte er immer: aus der Berliner Gegend.« So über Karl Erp in »Buridans Esel«, der Bibliothekar ist, wie de Bruyn es war (nebenbei: ein Einblick in diesen Schriftstellerhaushalt, der nichts umkommen läßt, schon gar nicht einen Fundus, wie die genaue Kenntnis eines Berufes es ist); der zwar nicht, wie sein Autor, in der Auguststraße wohnt, sondern in einer gehobenen Siedlung an der Oberspree, doch das Fräulein Broder in der Auguststraße findet, dem Autor also Gelegenheit gibt, diese Straße zu verewigen, sogar eines ihrer Häuser, und dazu noch eine kleine Berlin-Chronik anzubringen. Selbstverständlich, dieses Buch handelt von einer Liebe, an der dieser Karl Erp – auch wieder alles andere als eine Idealgestalt – doch ein bißchen enttäuschend versagt. Mindestens beim zweiten Lesen aber »handelt« es noch von einer anderen, weiter zurückliegenden Verletzung dieses nicht ganz glücklichen Liebhabers. »Die Kindheit: das Muttermal, das mit den Jahren größer wird« – nach einer Fahrt Karl Erps in sein Kindheitsdorf zu Fräulein Broder gesagt, die, »ganz neue Zeit«, nichts »von den Gefühls- und Erkenntnisschichten« begreift, »die sich manchmal nur überlagern, aber nicht überall durchdringen«. Ein zeitgemäßer Mangel, das kann man wohl sagen, eine generationsbedingte Not, die einer, der es genau nimmt, nicht wegdrücken kann wie die meisten; an der so einer, ohne auch davon viel Aufhebens zu machen, schon leiden kann; eine Versehrung, die er nicht zu verleugnen, sondern der er durch eine fast fieberhafte Suche nach seiner, unserer Herkunft im engen, weiteren, weitesten Sinn beizukommen sucht; dabei abstößt, was dieser persönlichsten, aber geschichtlich bedingten Not nicht angemessen ist, und, immer sicherer, selbstbewußter werdend, an sich zieht, was er brauchen kann, mit ihr zu leben, mit ihr fertig zu werden. Auch Bücher natürlich, literarische Ahnherren, die in diesen Sog der Selbstfindung geraten, oft nennt de Bruyn Thomas Mann, Theodor Fontane (»Immer wieder Fontane«) und, endlich fällt der wichtigste Name: Jean Paul.
Zwar habe ich versucht zu zeigen, daß Günter de Bruyn sich in allen seinen Büchern Geschichte vergegenwärtigt, Gegenwart als Geschichte erlebt, doch ist das Zentralwerk, um dessentwillen ein Preis in Feuchtwangers Namen so besonders genau zu ihm paßt, zweifellos sein Buch über Jean Paul Friedrich Richter, und ich müßte dieses Buch hier vorlesen, wollte ich erschöpfend über das Verhältnis de Bruyns zu eben diesem großen Romanschreiber Auskunft geben, der ihm keine Ruhe ließ, bis er über ihn geschrieben hatte. Lange schon hat ihn dieser Mensch gereizt, in seinen früheren Büchern finden sich Verweise auf Buchtitel Jean Pauls, resignierte Bemerkungen: Aber wer kennt ihn schon? (Das Geflecht!) Blieb de Bruyn bis dahin – wäre ich er, würde ich den geheimen Motiven auch dieses Kunstgriffs noch nachspüren – als Autor und als Person – doch wie das trennen! – über seinen Figuren, nahm ihn jetzt einer in die Pflicht, dem er sich als gleichrangig erweisen mußte. Der Glücksfall also einer Idealfigur, alles andre natürlich als ideal, aber so komplex, widersprüchlich, ausschweifend, daß der Autor, sich ihr nähernd, bewundern, verehren, sich identifizieren kann (das exzessive Lesevergnügen, das dieser unbändige Verfasser ungebändigter Prosa seinem Biographen bereitet hat!); daß er andere Züge, Skurrilitäten, Marotten, verstehen, analysieren, erklären, den ganzen Mann und seine Zeitumstände jedenfalls von Grund auf darstellen muß: das Schreibvergnügen nun also auch, das de Bruyn am meisten liebt, nämlich: schreiben aufgrund genauer Recherchen, dabei die Freiheit genießen, Charaktere zu erschaffen. Da wäre es denn ein Wunder, wenn er, de Bruyn, sich in diesem Buch irgend etwas entgehen ließe, was sein Thema oder den Mann, der sein Thema ist, berührt. Seien es die Aufklärung oder die Werther-Mode, die Schulmeistermisere und das Hofmeisterelend der Intellektuellen, sei es, natürlich, das ständige Gerangel mit der Zensur in den deutschen Ländern und der Nachweis ihrer ständigen Wirkungslosigkeit. Menschenhandel. Kleiderordnung.
Die Lage der deutschen Autoren gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Verlagsgepflogenheiten. Verlegerlaunen. Wechselnde Schicksale ganzer Länder während der Napoleonischen Kriege. Freiheitsdichtung (oder was damals so hieß). Freundschaftskult und Liebessitten: Wir werden informiert, sachlich, knapp oder ausführlich, genüßlich, ironisch, satirisch, auch aufgebracht. Hier wird Geschichte aufgearbeitet, Herkunft, unter Stichwörtern und in einem Geist, die denen etwas sagen, die heute leben und lesen. Das ist ja kein zahmes Buch, es arbeitet mit Anzüglichkeiten, Spitzen, allen möglichen Arten von Verweisen auf unsere Zeit und unsere Zustände. Sein doppelter Zeitbezug macht es lebendig, sein Autor hat seinen ganzen Apparat in Bewegung gesetzt. Berührt aber wird der Leser, wurde ich, am stärksten durch den Ton der Seelenverwandtschaft, durch jene Verbindung von Sachlichkeit und Einfühlung, bis in den Stil hinein (nein: durch ihn), die dem Autor de Bruyn, glaube ich, vorschwebt, wenn er »Prosa« sagt. Denn nach allem soll man nicht erwarten, hier ginge ein Autor im anderen auf, es bliebe etwa kein Bruch, es gebe keine Abstoßung, selbst Abgrenzung. »Was dieses Leben«, schreibt de Bruyn, »so faszinierend und, bei aller Rationalität, auch unheimlich macht, ist, daß er immer genau weiß, was er will.« »Unheimlich« – ein Wort, das man hier nicht erwartet hätte, es signalisiert Gefahren und Gefährdungen, die Doppelbödigkeit des scheinbar Eindeutigen, ein Erschrecken auch vor der nicht ganz geheuren Problematik von Leben und Kunst, vor der Kälte, die den bedroht, »dem alles Erleben sich in Stoff für seine Arbeit umformt«, vor der »Zerstörung des Gefühls durch seine Vorwegnahme im Intellekt«.
Wenn die Jean-Paul-Biographie de Bruyns die allgemeine Problematik einer progressiven kleinbürgerlichen Existenz im Deutschland nach der Französischen Revolution behandelt, so ist sie, mindestens im gleichen Maß, auch ein Essay über diffizilste, letzten Endes moralische Fragen der Kunst und dessen, der ihr verfallen ist. (»Er kann nicht anders; nur schreibend realisiert sich sein Leben.«)
Denn ihre Moral ist es, die alle Figuren de Bruyns mit ihrer Zeit verbindet, nicht grundlos hat man ihn einen Moralisten genannt – wenn dieses Wort nur nicht im Kopf des deutschen Lesers sogleich die Vision eines erhobenen Zeigefingers erstehen ließe. Doch ein Moralprediger, ein Besserwisser, Spaß- und Spielverderber ist dieser Autor eben gerade nicht, sondern von alledem das genaue Gegenteil. Er kennt die Menschen und kann sie nicht in »kleine« und »große« Leute aufteilen; er weiß, auch von sich selbst, daß ihre Stärken die Kehrseiten ihrer Schwächen sind, und umgekehrt. Er ist, als Autor, gerecht zu ihnen, ohne jemals selbstgerecht zu sein, er nimmt sie und sich, wo immer es angeht, mit Humor. So zögere ich nicht, ihn freundlich zu nennen; ja – diesmal paßt das so selten zutreffende Wort: menschenfreundlich.
September 1981
Liebe Kollegen, beinahe wäre es mir lieber gewesen, ich wäre nicht mehr drangekommen; dann wäre noch deutlicher geworden, als es so schon ist, daß es sich bei dem Thema, über das wir sprechen, um eine Männerangelegenheit handelt: Das ist meine Überzeugung.
Im Laufe dieses letzten Jahres habe ich einmal – ich glaube, es war im April – eines jener Erlebnisse gehabt, die man selten im Leben hat und die man nicht vergißt: Das war angesichts einer Fernsehnachrichtensendung. Der Sprecher oder die Sprecherin referierte, daß eine Expertenkonferenz – ich glaube, sie tagte in London – zu dem Ergebnis gekommen war, Europa habe noch eine Überlebenszeit von drei oder vier Jahren – für den Fall, daß die jetzige Politik weitergeführt würde.
Da hatte ich eine Minute, in der das geschah, was in drei oder vier Jahren geschehen soll.
Ich muß sagen, daß diese Minute nicht nur negativ in mir gewirkt hat – lähmend –, sondern sie hat auch sehr viel Zorn freigesetzt und Freiheit. Wenn es so ist oder so sein soll, wenn manche es sich wünschen oder es jedenfalls planen, daß dieses Europa zugrunde geht, dann darf man sich ja wohl noch einiges herausnehmen; zumindest fragen. Zum Beispiel frage ich – nicht erst seitdem, aber besonders seitdem: Was eigentlich – wenn Überleben von Verdiensten abhängt, was ja natürlich nicht der Fall ist; aber da wir Intellektuelle sind, in bestimmten ethischen Begriffen erzogen, kommen uns eben auch solche Fragen –, was eigentlich hat diese Kultur gegeben, daß sie zu überleben verdient.
Es ist mir einiges eingefallen. Ich war über mich selbst ein wenig erstaunt: Bisher hatte ich eher dazu geneigt, die mörderischen, expansionistischen, andere Völker und Erdteile unterdrückenden und ausraubenden Züge in der Geschichte des Abendlandes zu betonen. Ich stelle diese Frage hier, im positiven Sinn, daß Ihnen auch einiges einfallen möge. Ich glaube nämlich, das gehört zur Friedensvorbereitung und zur Kriegsverhinderung. Ich glaube, diese neue Durcharbeitung unserer Kultur gehört zu unseren Aufgaben als Schriftsteller.
Ein Satz war mir in dieser Minute auch eingefallen – wiederum eine Frage –, den ich seitdem nicht mehr aus meinem Kopf herauskriege, der mich sehr stört und den ich nicht ohne Bedenken weitergebe: Hat Hitler uns eingeholt? – Dieser Satz kam mir spontan, dann erst fragte ich mich, wie mein Kopf, mein Unbewußtes ihn gemeint haben mochten. Gemeint war er wohl so: Hitler hat es nicht geschafft, Europa zu vernichten, wonach es ihn ungeheuer verlangte, wie wir wissen; wenn er schon die Tür hinter sich zuschlug, dann sollte das mit einem solchen Krach geschehen, daß ganz Europa davon zusammenstürzen sollte. Dies hat er nicht geschafft, auf Grund von historischen Bedingungen, auf Grund der Leistungen von Armeen, die wir kennen.
Nun ist eine historische Lage eingetreten, die diese selbe Frage wieder auf die Tagesordnung setzt, und ich muß sagen, neben dieser großen Freiheit, die sich mir da auftat, machen eine ungeheure Beklemmung und ein schweres Gefühl von Verantwortung mir zu schaffen.
Daraus ergibt sich meine nächste Frage, die für mich weitreichend geworden ist, die ich hier nur andeuten kann: Sollten wir nicht, angesichts der »Lage«, in der wir uns nun befinden, ernsthaft beginnen – mehr, als wir es bis jetzt tun, mehr, als es auch durch diese Tagung angefangen wurde –, zu denken und für möglich zu halten, was eigentlich nicht geht? Ich bin nämlich der Meinung, uns kann nur noch helfen und retten, was eigentlich nicht geht. Was für möglich zu halten wir uns abgewöhnen ließen.
Beispielsweise muß ich mich dazu bekennen: Hätte Hermlin mich gefragt, als er diese Tagung in seinem Kopf herumtrug, ob ich es für möglich halte, daß sie zustande kommt – ich hätte gesagt: Nein, ich halte das nicht für möglich. Sie ist aber zustande gekommen. Ich finde sie sehr wichtig, mit allem, was gesagt wurde, sehr wichtig, und in ähnlicher Weise stelle ich mir vor weiterzugehen.
Mehr noch als die Frage, die ich vorhin zitierte, plagt mich eine Überlegung, von der ich mich nur langsam und widerstrebend, inzwischen aber so fest überzeugt habe, daß es sehr schwerfallen würde, mir das Gegenteil zu beweisen: Diese Raketen, diese Bomben sind keine Zufallsprodukte dieser Zivilisation. Eine Zivilisation, die imstande war, derartig exakt ihren eigenen Untergang zu planen und sich, unter solch furchtbaren Opfern, die Instrumente dafür zu beschaffen – eine solche Zivilisation ist krank, wahrscheinlich geisteskrank, vielleicht todkrank. Diese Raketen, diese Bomben sind ja entstanden als genauester und deutlichster Ausdruck des Entfremdungssyndroms der Industriegesellschaften, die mit ihrem »Schneller, Besser, Mehr« alle anderen Werte diesem »Wert« Effektivität untergeordnet haben, die Massen von Menschen in ein entwirklichtes Scheinleben hineingezwungen und die besonders die Naturwissenschaften in den Dienst genommen haben. Ihre »Wahrheiten«, das heißt: Fakten, als die Wahrheit anerkennen, bedeutet: Was nicht meßbar, wägbar und verifizierbar ist, das ist so gut wie nicht vorhanden. Es zählt nicht, so wie überall, wo das »Wirkliche« und Wichtige entworfen, hergestellt und geplant wird, Frauen nicht zählten und nicht zählen. Man muß sich doch einmal vorstellen, wie es sich auswirken muß, wenn die Hälfte der Menschen, die in einer Kultur lebt, von Natur aus überhaupt keinen Anteil hat an ihren Hervorbringungen; und eben auch daran nicht – hindernd –, wenn diese Kultur ihren eignen Untergang plant. Vielleicht sollte man einmal nicht nur mit einem Lächeln darüber hinweggehen, nicht nur abwehren, was eine Frau da wieder mal vorzubringen hat in bezug auf Wirksamkeit oder Unwirksamkeit ihres Geschlechts. Dieses Wegdrängen des weiblichen Faktors in der Kultur hat genau in dem Zeitraum begonnen, über den Helmut Sakowski eben sprach: als die minoische Hochkultur durch die mykenischen Expansoren überlagert, vernichtet wurde. Homer hat diese Kämpfe Hunderte Jahre später in seinem berühmten Epos verherrlicht: Kampfbeschreibungen sind die ersten Beschreibungen der abendländischen Literatur, Schlachtenschilderungen, Beschreibung von Schlachtgeräten: der Schild des Achill. Daran, ist mir klargeworden, kann ich nicht anknüpfen. Das kann meine Tradition nicht sein. Es ist kein Hymnus denkbar auf die Schönheit der Atomrakete. Auch unsere Ästhetik muß neu durchdacht werden.
Eine letzte Bemerkung. Das Wort: »Im Krieg schweigen die Musen« – gilt es etwa schon? Ich habe den Eindruck, daß unsere Gesellschaft, daß wir zu leicht bereit sind, uns in einen Vor-Krieg hineinzubegeben: Darüber bin ich am meisten betroffen, davor möchte ich am meisten warnen.
Was die Kunst seit Hölderlin, Goethe und Büchner behauptet hat, dann wieder, mit Nachdruck, in diesem Jahrhundert; wofür die Künstler mißverstanden, verhöhnt, ihre Bücher verboten und verbrannt wurden und werden, wofür sie vertrieben, eingesperrt, gefoltert und umgebracht wurden und werden, das hat sich leider bestätigt: Das Absurde ist die Wahrheit, das Phantastische ist realistisch, und das Denken des »gesunden Menschenverstands« ist wahnwitzig. Angesichts solcher Tatsachen und Zustände muß ich mich weigern, in meine Arbeit das Kalkül eines Atomkriegs hineinzunehmen. Ich kann nur arbeiten für diese Zeit, die nicht Kriegszeit ist, und für die Zeit »danach«, in der, hoffentlich, die Abrüstung zunächst beginnt, dann durch Verträge gesichert ist. Ich hoffe, es noch zu erleben, daß dann eine Zeit ohne Waffen kommt, in der der bleierne Druck, der auf uns liegt, weicht. Ich denke, für diese Zeit muß die Literatur heute schon arbeiten, so phantastisch und utopisch es erscheint: Das mit schaffen helfen, was, nach den Definitionen von Wissenschaft und Politik, überhaupt nicht »wahr« ist oder nicht einmal vorhanden, nämlich nicht »effektiv«: all das, dessen andauernde Abwesenheit eben jene Todesverzweiflung hervorgebracht hat, an der die »zivilisierte« Menschheit leidet und die sie dazu treiben könnte, sich in den Tod zu stürzen: Freundlichkeit, Anmut, Duft, Klang, Würde, Poesie; Vertrauen, auch Spontaneität – das eigentlich Menschliche. Das, was am ehesten verfliegt, wenn eine Vorkriegsatmosphäre sich breitmacht. Dagegen, finde ich, müssen wir anschreiben – auf Hoffnung hin, wie Bobrowski sagte.
Auf die Frage, die junge Leute mir oft stellen, wie man leben soll in einer solchen Zeit, kann ich nur sagen, wie ich es versuche: ignorieren, was alles nicht »wahr« sein soll, und es in seinem persönlichen Leben wahr zu machen suchen. Und als Autor: so schreiben, daß die Gesellschaft, in der man lebt, den größten Nutzen davon hat. Das bedeutet: kritisch. Die Gesellschaft durch Kritik auf das aufmerksam machen, was ihr helfen könnte, zu leben und zu überleben. Davon kann ich mich auf keinen Fall abhalten lassen.
Dezember 1981
Zum 65. Geburtstag
Einmal, vor Jahren, zeigte mir ein gemeinsamer Freund in einem Ihrer Briefe einen Halbsatz, der sich auf einen Dritten bezog; er lautete: »… vom Ruhm bedroht wie wir alle …« Meine Reaktion auf Ihre wie beiläufige Aussage machte mir klar, daß ich Sie nicht als »vom Ruhm bedroht« sah, und daran hat sich seitdem nichts geändert. Ich hätte nie gedacht, daß ich Ihnen das einmal sagen würde, denn zu Ihrem nicht vom Ruhm-Gefährdetsein gehört es gerade, daß Ihr Gesicht solche Bekenntnisse einfach nicht entgegennimmt; darum höre ich damit auf und frage lieber mich, nicht Sie, wie Sie es fertigbringen, als Instanz, die Sie glücklicherweise sind (übrigens auch für mich), nicht Schaden zu nehmen. Ich erinnere mich an Seiten in Ihren Büchern, an Auftritte im Fernsehen, an polemische Artikel und sanfte Artikel, in denen Sie sich ungeschützt zeigten, wütend, verletzt, traurig, entsetzt, angstvoll, dankbar und liebevoll: dies ist nicht der Weg der Instanzen. Ist eine Instanz lustig, ironisch, selbstironisch, listig? Mutig? Und noch dazu scheint Ihnen gar nichts anderes übrigzubleiben, als dem Bedürfnis so vieler nach einem Menschen, der »zuständig« ist, zu genügen und es gleichzeitig, »mit der andern Hand«, zu ignorieren.
Wenn man die Wörter zurückverfolgt – was Sie tun; die Wörter beim Wort zu nehmen ist ein Teil Ihrer Arbeit –, dann kommt man ja an den Punkt, an dem sie lebendig waren. Und so finden wir ja denn »instare«, »auf etwas bestehen«, als Quelle für das eingetrocknete »Instanz«, und das ist ja ein höchst lebendiger Vorgang – gewiß kein einfacher, konflikt- und schmerzloser –: auf sich zu bestehen und dieses »Sich« in aller Bescheidenheit groß zu nehmen. Sie haben es sich selbst zugeschrieben, und Sie schreiben es sich immer weiter zu, daß wir auf Sie hören.
Von vielen Ihrer Bücher weiß ich den Ort, an dem ich sie las: ein Garten, ein Krankenhauszimmer, Hotelzimmer, ein Zugabteil. Nichts, was Sie geschrieben haben, hat mich kalt gelassen, ungeachtet, welchen literarischen Rang es in Ihrem Werk einnimmt. Die Rheinländer kannte ich, ehe ich sie »in Wirklichkeit« kennenlernte, durch Sie. Durch Sie die Lehre, daß man Abstrakta wie Güte, Gewissen, Hoffnung genauso konkret nehmen und beschreiben kann und soll wie ein Haus, eine Landschaft, eine Familie. Und daß Güte, Gewissen, Hoffnung politische Tugenden sein können. Daß es doch menschenmöglich ist, in einer Person private, literarische, politische Tugenden zu vereinen, zu einer widersprüchlichen Einheit, die ich »Lauterkeit« nenne.
Lieber, verehrter Heinrich Böll, ich nutze den Anlaß Ihres Geburtstages schamlos aus, um Ihnen einmal zu sagen: Ich bin froh, daß es Sie gibt.
Mai 1982
Ausgehend von der Beobachtung, daß seit der Berliner Begegnung europäischer Schriftsteller und Wissenschaftler im Dezember 1981 die Ablehnung der Kriegsvorbereitung, die sich am deutlichsten durch die wahnsinnigen Rüstungsanstrengungen beider Seiten manifestiert, allgemein geworden ist, daß nicht nur Autoren und Wissenschaftler, sondern Massen von Menschen wissen und sagen, was sie nicht wollen: Krieg und alles, was zum Kriege führt; daß auch die Regierungen beider, im Kriegsfall einander vernichtender Seiten wieder und wieder bekundet haben und bekunden, daß sie Krieg nicht wollen; daß also eine weitgehende Übereinstimmung in Europa herrscht, was zu verhindern ist, wenn auch noch nicht wie: von all dem ausgehend, scheint es mir an der Zeit, deutlicher und genauer zu sagen, was wir wollen. Ich bin nämlich davon überzeugt, daß wir alle, alle die Länder, aus denen wir kommen, Friedfertigkeit lernen müssen, ernst und ehrlich in einen Lernprozeß eintreten müssen, der jede Art geistigen Streits nicht nur zuläßt, sondern voraussetzt, übt und wahrscheinlich steigert, der aber jeden Neben- und Hintergedanken an eine Machtlösung der Spannungen zwischen den Blöcken und innerhalb der Blöcke vollständig ausschließt und bis in die Generalstäbe hinein die Versuchung, mit einem Erst-, Zweit- oder Drittschlag auch nur vorbeugende Planspiele zu betreiben, absolut ächtet.
Über die Schwierigkeit, eine solche Forderung nicht nur verbal anzuerkennen, sondern zu leben, mache ich mir keine Illusionen, aber ich bin sicher, daß aus einem Zustand des Nicht-Kriegs, in dem wir uns befinden, immer wieder, und schnell, wirklicher Krieg werden kann, und daß Friede nur von friedensfähigen Völkern ausgehen wird. Mir scheint, daß Autoren in besonderem Maße verpflichtet und in der Lage sind, vertrauensbildend zu wirken, was heißt: Friedensfähigkeit herzustellen.
Den Vernichtungsphantasien, die heute so viele Kräfte binden, so viele Kräfte unterdrücken, müssen schöpferische Phantasien entgegengesetzt werden, konkrete Utopien. Das Humanum fördern. Die Ethik nicht den Waffensystemen anpassen. Dem Hauptargument beider Seiten, die jeweilige Gegenseite würde in jede Blöße, die man sich gäbe, hineinschlagen, in allem Ernst vertrauensbildende Maßnahmen entgegensetzen. Auf diesem Feld können Konferenzen wie diese praktisch Fortschritte erzielen, z. B. indem von ihnen die Anregung ausgehen kann, gemeinsame Lesungen von Schriftstellern verschiedener Länder in möglichst vielen Ländern zu veranstalten, unter dem Motto: Schriftsteller lesen für den Frieden; indem der Kreis der Autoren, die an der Arbeit dieser Konferenzen teilnehmen, bewußt und systematisch erweitert wird, nämlich besonders auf jüngere Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die Generationen vertreten, die die Erfahrung »Krieg« nicht hatten und die ein Recht darauf haben, sich selbst gegen die Bedrohung ihrer Zukunft mit ihren Mitteln zu wehren. Ferner, indem man überlegt, wie diese Reihe: Appell der Schriftsteller; Berliner Begegnung, Haager Konferenz, Interlit in Köln – fortgesetzt wird und ob zwischen den einzelnen Tagungen irgendeine Art von Kontinuum denkbar wäre, damit die Arbeit eine Beständigkeit bekommt.
Meine Anregungen, die selbstverständlich offen und fair jede Modifikation erlauben, zielen darauf, daß die Impulse der Berliner Begegnung, die in der DDR, aber nicht nur dort, ein großes Echo hatte, Hoffnungen weckte, lebendig bleiben.
Wir als Schriftsteller haben in unserer Arbeit an untergründige, unbewußte Ströme in uns zu rühren, aber wir wollen damit keinen Irrationalismus freisetzen, sondern beitragen zu jener Vernunft, in der beides beschlossen ist: Rationales und Emotionales.
Mai 1982