2. Auflage, 2021

Originalausgabe erschienen 2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Jakob Winkelmair

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7543-6901-2

Dieses Buch ist Lilly gewidmet.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Nathan

Natürlich wusste ich, dass es Monster gibt. Ich meine, jedes Kind wusste das. Und auch jeder Erwachsene. Wir lernten schließlich in der Schule über sie, sahen sie in den Nachrichten und jeder kannte zumindest über zwei Ecken jemanden, der mal einen Riesen oder einen Wyvern in freier Wildbahn gesehen hatte. Und natürlich hatte jeder auch schon mal einen Freak gesehen. Freaks, das waren menschenartige Monster oder Menschen mit magischen Fähigkeiten. Sie waren im Grunde Monster und früher wurden sie auch genauso behandelt, aber im Zeitalter der Aufklärung begann man damit, ihnen Rechte zuzugestehen, und jetzt wurden sie zumindest nicht mehr regelmäßig auf Scheiterhaufen verbrannt. Viele glaubten, dass diese Änderung bereits ein großer Fehler gewesen war. Die meisten Freaks lebten in abgesicherten Siedlungen, außerhalb der Städte, wo sie Feld oder Bergbauarbeiten verrichteten. Unser Schulbus fuhr jeden Morgen an einer solchen Siedlung vor der Stadt vorbei. Der Anblick der hohen Mauern und der Wachtürme verunsicherte mich in den ersten Jahren immer ein bisschen und ich fragte mich, was für Schrecken wohl hinter ihnen lauerten, aber mit der Zeit gewöhnte ich mich an ihn. Manchmal sah man auch einen freien Freak in der Stadt als Müllmann oder Putzfrau arbeiten. Immer gekennzeichnet durch die grüne Armbinde, die sie alle tragen mussten. Als ich ein kleines Kind war, hatte meine Mutter mich immer an der Hand gepackt und schnell weiter gezerrt, wenn wir auf einen von ihnen trafen. Als ich sie fragte, warum sie Angst vor diesen Menschen zu haben schien, erklärte sie mir, dass es keine Menschen seien, dass sie gefährlich wären und dass ich mich von ihnen fernhalten solle. Als ich dann älter wurde, sah ich in den Nachrichten, warum sie so viel Angst vor ihnen hatte. Dort wurde gezeigt, was passierte, wenn ein Freak oder ein anderes Monster außer Kontrolle geriet: Blutige Laken, die leblose Gestalten bedeckten, zerstörte Gebäude und traumatisierte Überlebende. Doch sie zeigten auch die Retter: Männer und Frauen in voller Kampfmontur, die blutbespritzt über den von Kugeln durchlöcherten Leichnamen von Werwölfen, Trollen oder anderen Monstern standen. Die Jägercorps. Menschen, die dazu ausgebildet waren, Monster und durchgedrehte Freaks zu jagen und zu töten. Helden. Als Kind wollte ich immer einer von ihnen werden. Jeder Junge, den ich kannte, wollte das. Aber ich schweife ab. Ich wusste also, dass es Monster gab und auch, dass diese gefährlich waren, aber ich hätte nie gedacht, dass sie mein Leben je wirklich verändern würden. Monster waren etwas aus dem Geschichtsunterricht oder aus den Nachrichten, etwas, wie Naturkatastrophen oder Kriege, also nichts, was wirklich jemals einen direkten Einfluss auf mein Leben haben würde. Das dachte ich damals zumindest. Was war ich nur für ein Vollidiot.

Alles begann wenige Monate vor dem Ende des Schuljahres und damit auch kurz vor meinem endgültigen Abschluss. Meine Noten sahen gut aus, sehr gut sogar und ich würde die freie Wahl beim Aussuchen eines Studiengangs und einer Universität haben. Tja, die Qual der Wahl eben: Ich hatte einfach keine Ahnung, was ich nach der Schule machen sollte. Wie bereits erwähnt, wollte ich früher mal den Jägercorps beitreten, aber dieser Traum war durch die Erkenntnis gestorben, dass das Leben in den Jägercorps nicht nur sehr gefährlich und verhältnismäßig kurz sein konnte, sondern die Arbeit dort auch relativ schlecht bezahlt wurde. Also hatte ich zahlreiche andere Optionen. Ich hätte Arzt, Anwalt, Pilot oder Alchemist werden können, aber irgendwie erschienen mir all diese Optionen nicht wirklich attraktiv. Die Frage, was ich denn nach dem Abschluss machen wollte, gestellt von zahlreichen Verwandten und relativ vielen Freunden, wurde langsam immer drängender und ich wusste einfach immer noch nicht, wie ich sie beantworten sollte. Also beschloss ich an diesem Abend, anstatt auf die in einem Monat anstehenden Abschlussprüfungen zu lernen, einen Spaziergang zu machen und dabei über meine Zukunft nachzudenken. Es war wahrscheinlich die schlechteste Entscheidung, die ich in meinem ganzen Leben treffen würde. Hätte ich doch einfach nochmal Mathe wiederholt.

Nach einer Weile, in der ich durch den Wald gewandert war, der einige hundert Meter hinter unserem Haus lag, erreichte ich eine kleine Anhöhe mit einer Bank. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die kleine Vorstadtsiedlung, in der ich die achtzehn Jahre meines bisherigen Lebens verbracht hatte. Dahinter erstreckte sich die Silhouette der Stadt. In der Ferne wurde der beinahe wolkenfreie Himmel von der untergehenden Sonne in ein fantastisches, rotes Licht getaucht. Während um mich herum die Geräusche der Waldtiere des Tages durch die der Tiere der Nacht abgelöst wurden, saß ich auf der Bank und sah der Sonne beim Untergehen zu. Es war eine tolle Stelle und ich nahm mir vor, bald mal mit meiner Freundin Emily hierherzukommen. Wir waren seit mehreren Jahren in der gleichen Klasse gewesen, aber erst auf einer Hausparty vor fünf Monaten hatte ich meinen Mut zusammengenommen und sie endlich angesprochen. Zwei Wochen später hatten wir unser erstes Date gehabt und wiederum zwei Wochen danach waren wir offiziell ein Paar geworden. Emily war ein wunderschönes und kluges Mädchen mit langen, blonden Haaren und einem umwerfenden Lächeln. Sie wollte Alchemistin werden und hatte versucht, mich dazu zu überreden, den gleichen Pfad einzuschlagen. Aber Alchemie hatte mich nie wirklich interessiert und es gehörte auch zu meinen schwächeren Fächern. Was war schon interessant daran, irgendwelche Substanzen zusammenzuschütten, um dann eine andere Substanz zu erhalten? Das warf aber wiederum eine ganz andere Frage auf: Wie sollte es mit uns weitergehen, wenn wir auf verschiedene Unis gehen würden? Darüber dachte ich an diesem Abend nach und wurde dadurch davon abgelenkt, dass die Sonne inzwischen hinter dem Horizont verschwunden war und es schnell begann, dunkel zu werden. Es war ein sonniger Tag im März gewesen, aber jetzt breitete sich die Dunkelheit schnell über den Wald aus. Doch als mir das endlich auffiel, war die Sonne bereits gänzlich hinter dem Horizont verschwunden. Ich war gerade aufgestanden und wollte mich zurück nach Hause beeilen, als ich etwas hinter mir hörte. Ich fuhr herum. Im ersten Moment registrierten meine Augen die Kreatur, aber mein Gehirn weigerte sich beharrlich, ihre Existenz zu akzeptieren. Ich stand einfach nur da und starrte das Monster an, während zahlreiche Gedanken versuchten, sich gleichzeitig in meinen Kopf zu zwängen. Was machte ein Werwolf hier? Es war doch nicht mal Vollmond. So nahe an der Stadt sollten die Jäger-Patrouillen doch eigentlich die meisten Monster ausgeschaltet haben. Er sollte nicht hier sein. Nein, er musste ein Produkt meiner Fantasie sein oder des spärlichen Lichts. Das hatte mein Gehirn beschlossen, nur um dann von meinen Augen gleich darauf wieder das Gegenteil bewiesen zu bekommen. Ungefähr zehn Meter von mir entfernt stand tatsächlich ein Lykanthrop. Er hatte komplett schwarzes Fell, das seinen muskulösen Körper ganz und gar bedeckte. Dieser wäre wohl ungefähr zwei Meter groß gewesen, wenn er sich aufgerichtet hätte, aber die Kreatur stand in leicht gebückter Haltung und so befand sich ihr Kopf ungefähr auf einer Augenhöhe mit mir. Sie stand auf zwei Beinen, aber es war klar, dass sie mithilfe der langen und kräftigen Arme auch auf allen vieren laufen konnte. Vor allem der Kopf des Wesens erinnerte an den eines Wolfes, mit seiner langen Schnauze, den spitzen Ohren und einer hundeartigen Nase. Alles in allem war es nicht so furchteinflößend, wie ich es mir vorgestellt hatte. Natürlich sah der Lykanthrop nicht gerade harmlos aus, wie er da als eine bizarre Kreuzung aus Mensch, Wolf und Gorilla stand und mich anstarrte, aber anders als die Werwölfe in den Medien war er nicht mit dem Blut unschuldiger Menschen befleckt und zumindest hatte er bisher auch noch nicht versucht, mich in Stücke zu reißen, was ich ihm hoch anrechnete. Mir fiel auf, dass seine Augen auch in dieser Form die eines Menschen waren, und aus irgendwelchen Gründen gab mir das die Hoffnung, dass er mich vielleicht nicht angreifen würde. Aber dann begann er sein Maul zu öffnen, wobei er lange, weiße Zähne entblößte und ein tiefes Knurren, das einem kettenrauchenden Grizzly alle Ehre gemacht hätte, entrang sich seiner Kehle. Auf einmal war er furchteinflößender als alle Darstellungen von Werwölfen in Filmen und Nachrichtenberichten zusammen. Und da realisierte ich endlich, dass dieses Ding vor mir real und ich damit in Lebensgefahr war. Ich verlor nicht die Nerven. Zumindest nicht sofort. Stattdessen versuchte ich, mich krampfhaft daran zu erinnern, wie man mit Werwölfen umgehen sollte. Ich erinnerte mich daran, in der Grundschule einmal mit meiner Klasse einen Wildpark besucht zu haben. Der Park-Ranger hatte uns damals erklärt, wie man sich bei Begegnungen mit verschiedenen gefährlichen Tieren und Monstern verhalten sollte. Bei Braunbären sollte man Lärm machen, um sie zu vertreiben, und dann langsam rückwärtsgehen, bei Wölfen im Notfall auf Schnauzen und Augen schlagen, sich bei Wyvern nicht bewegen und bei Riesen und Trollen versuchen, sie auszutricksen. Eines der Kinder hatte ihn damals gefragt, was man denn bei Werwölfen tuen solle. Der Ranger hatte einen Moment geschwiegen, dann seinen Hut abgenommen und sich am Kopf gekratzt.

„Tja, bei Werwölfen …“, hatte er begonnen, „sagen wir einfach, hoffe darauf, dass es schnell vorbei ist.“ Super, dieser Tipp würde mir jetzt nicht wirklich helfen können. Also versuchte ich es einfach mit langsamem Rückwärtsgehen. Ich hob meine Hände und versuchte, in einem beruhigenden Tonfall zu sprechen.

„Ganz ruhig, Großer. Alles ist gut. Ganz ruhig“, sagte ich und machte gleichzeitig einen Schritt zurück, weg von ihm. Entgegen meiner Erwartungen zerfleischte mich der Werwolf nicht sofort. Stattdessen richtete er den Blick seiner menschlichen Augen auf mich und drehte wie ein Welpe fragend den Kopf zur Seite. Das Ganze hätte irgendwie niedlich sein können, wenn es ein kleiner Hund und nicht eine zwei Meter große, Fleisch gewordene Killermaschine getan hätte. So war es hauptsächlich verstörend. Aber ich versuchte, mir über das eigentümliche Verhalten des Monsters keine Gedanken zu machen und konzentrierte mich stattdessen darauf, mehr Abstand zwischen mich und den Freak zu bekommen. Ich machte einen weiteren Schritt zurück und der Werwolf reagierte nicht. Gerade, als ich dachte, ihm vielleicht so tatsächlich entkommen zu können, stieß mein Fuß auf eine Kante. Verdammt! Ich hatte vergessen, dass sich vor der Anhöhe hinter mir ein kleiner Abhang von ungefähr vier Metern Tiefe erstreckte. Da konnte ich unmöglich riskieren, rückwärts hinunterzuspringen. Bei meinem Glück würde ich mir dabei wahrscheinlich entweder gleich das Genick oder aber den Knöchel brechen. In keinem der beiden Fälle wäre ich dann noch in der Lage, wegzulaufen. Der Werwolf schien meinen Gedankengang bemerkt zu haben, denn er verzog seine Lefzen zu etwas, das entweder ein Zähnefletschen oder aber ein Lächeln sein konnte. Jetzt hatte ich zwei Möglichkeiten: Ich konnte mich umdrehen und dann langsam den Abhang hinunterklettern, was ziemlich sicher mit meinem Tod durch den Werwolf enden würde, oder ich konnte versuchen, langsam und vorsichtig nach vorne an dem Werwolf vorbeizugehen, was ziemlich sicher auch mit meinem Tod durch den Werwolf enden würde. Gut, eigentlich gab es noch zwei weitere Alternativen: Ich konnte entweder mein Handy aus der Tasche ziehen und die Nummer des Monster-Notdienstes wählen und dann die zehn bis zwanzig Minuten abwarten, bis die Jäger hier sein würden. Solange würde ich natürlich nicht überleben. Oder ich könnte versuchen, den Werwolf zu bekämpfen, was ich auch nicht überleben würde. Letztendlich beschloss ich den Versuch zu wagen, mich umzudrehen und dann den Abhang hinunterzuklettern oder zu springen. Die Option schien zumindest nicht schlechter zu sein als all die anderen. Also begann ich, mich ganz langsam von dem Monster wegzudrehen und war bereits kurz davor, den Sprung zu versuchen, als mich auf einmal etwas am Arm packte. Ich fuhr herum und sah direkt in die Augen der Bestie. Sie hatte nicht einmal zwei Sekunden gebraucht, um mich zu erreichen und hatte dabei kein einziges Geräusch gemacht. Instinktiv versuchte ich mich loszureißen, aber das bewirkte nur, dass sich die Krallen des Werwolfs in mein Fleisch gruben. Das Monster kam mit seiner Schnauze näher an meinen Hals heran und ich dachte, es würde mir gleich hier und jetzt die Kehle herausreißen. Stattdessen begann es, die Luft durch seine Nase einzusaugen und so an mir zu schnuppern. Ich schloss die Augen und erwartete, jeden Moment den Schmerz eines zerfetzten Halses zu spüren, aber dann merkte ich, wie der Boden unter meinen Füßen verschwand und der Druck auf meinen Arm sich vergrößerte. Die Augen öffnend sah ich, dass der Werwolf mich mit einer Hand in die Luft gehoben hatte. Für einen Moment hing ich wie ein Boxsack in der Luft, dann schleuderte mich die Kreatur über die Sitzbank und ungefähr sechs Meter durch die Luft. Für einen Moment flog ich, dann schlug ich hart auf dem trockenen Boden auf und die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Ich rang nach Atem. Der Werwolf sprang hinter mir her und landete direkt über mir. Aber auch jetzt zerfetzte er mich nicht. Nein, stattdessen näherte sich sein Kopf meinem an und er knurrte mir ins Gesicht. Langsam hatte ich wirklich genug von ihm. Wenn er mich umbringen wollte, sollte er das jetzt gefälligst tun und aufhören herumzuspielen. Mein Blick fiel auf einen etwa faustgroßen Stein, der etwa einen halben Meter neben meinem Kopf auf dem Boden lag. Ich packte ihn und schlug ihn mit aller Kraft gegen die Schläfe des Monsters. Sein Kopf wurde von der Wucht des Aufpralls zur Seite gerissen und ich glaubte für den Bruchteil einer Sekunde, so etwas wie Überraschung in seinem Blick zu sehen. Erneut holte ich aus und schlug wieder zu. Dunkles Blut tropfte vom Kopf der Bestie und ich glaubte schon, diesen Kampf vielleicht sogar gewinnen zu können, als der Werwolf plötzlich meine Hand mit dem Stein packte und seine Zähne in meinen Arm grub. Der Schmerz war unglaublich. Ich hatte mir als Kind einmal den Arm beim Spielen auf einer Schaukel gebrochen. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, es könne keinen schlimmeren Schmerz geben. Das hier war ungefähr doppelt so schlimm. Die Zähne gruben sich durch mein Fleisch und direkt in meine Knochen. Ich nahm meine andere Hand und begann, wie verrückt auf die Schnauze und die Augen meines Angreifers einzuschlagen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, aber es waren wahrscheinlich nur wenige Sekunden, bis der Werwolf von meinem Arm abließ, sich aufrichtete und von mir heruntersprang. Ich erwartete einen erneuten Angriff und dann einen grausamen Tod, aber die Kreatur stand nur da und betrachtete mich einen Moment lang, wie ich da auf dem Boden lag und meinen zerfetzten Arm hielt. Dann wandte sie sich ab und rannte in den Wald davon. Mich ließ sie einfach zurück.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich es nach Hause schaffte. Die Erinnerungen daran sind eine wirre Mischung aus verschiedenen Eindrücken, von denen der Schmerz wohl der stärkste ist. Doch Abnormalen sei Dank hatte dieser begonnen, schwächer zu werden, sodass ich, als ich schließlich Zuhause ankam, bereits wieder relativ rational denken konnte. Ich zog mein T-Shirt aus und wickelte es um meinen Arm, um die Blutung zu stoppen. Zu meiner Überraschung hatte diese jedoch bereits fast ganz von selbst aufgehört. Im Haus meiner Familie stellte ich erleichtert fest, dass meine Eltern nicht da waren. Es war Samstagabend und sie waren zu Besuch bei Freunden. Also ging ich zu unserem Medikamentenschrank im Bad. Da meine Mutter Ärztin war, stellte sie immer sicher, dass dieser gut befüllt und auf dem aktuellsten Stand war. Ich entnahm ihm eine Flasche mit Desinfektionsmittel, eine Rolle Verbandmull, einige Klammern und eine Schere und verzog mich damit in mein Zimmer. Dort entfernte ich mein T-Shirt von meinem Arm und betrachtete die Verletzung. Die Abdrücke der Zähne waren tief, aber nicht so tief, wie ich zunächst befürchtet hatte. Ich schüttete ungefähr die halbe Flasche des Desinfektionsmittels über meinen Arm und biss die Zähne zusammen, als das Brennen begann. Als es abgeebbt war, wickelte ich die Bandagen um meinen Arm, schnitt sie ab und befestigte sie mit den Klammern. Mum hatte sichergestellt, dass ich im Notfall Verletzungen selbst verbinden konnte, aber mit einer Hand war das natürlich etwas schwieriger als bei den Übungen an meinem Vater unter ihrer Aufsicht. Nach dieser ersten temporären Versorgung meiner Verletzung sank ich auf meinem Bett zusammen und dachte darüber nach, was ich jetzt tun sollte. Dann tat ich das erste, was wohl jeder Teenager in meiner Situation getan hätte. Ich zog mein Handy hervor und suchte online nach Informationen über einen Werwolf-Biss. Bereits die ersten paar Ergebnisse waren genau das, was ich brauchte: „Hilfe, ich wurde von einem Werwolf gebissen, was soll ich tun?!“, auf einer Seite namens www.monsterangriffe.com. Ich rief die Seite auf und wurde von einem wenig ansehnlichen Bild eines Beines mit deutlichen Bisspuren begrüßt, die allerdings nicht so tief wie meine eigenen Wunden zu sein schienen. Ich las den ganzen Artikel.

Angriffe durch den modernen Werwolf (Lupinotuum pectinem novum) sind in der heutigen Zeit häufig. In den meisten Fällen bleiben, bedingt durch die Wildheit dieser Therianthropen, von den Opfern nur verstümmelte Überreste übrig. Wie soll man sich aber im unwahrscheinlichen Fall verhalten, dass man selbst oder eine nahestehende Person einen Werwolf-Angriff tatsächlich überlebt hat? Anders als bei herkömmlichen Verletzungen sollte die Wunde zunächst sofort gründlich ausgewaschen werden, um jeglichen Speichel aus ihr zu entfernen. Anschließend gilt das klassische Vorgehen bei einer Bissverletzung durch ein wildes Tier: Lassen Sie die wahrscheinlich tiefere Verletzung bei einem Arzt gründlich reinigen und desinfizieren. Dieser wird anschließend auch das Risiko einer Infektion mit dem Lykanthropievirus (umgangssprachlich manchmal auch als Werwolffluch bezeichnet) feststellen. Bei nur oberflächlichen Verletzungen oder Wunden, verursacht durch die Krallen des Monsters, liegt dieses Risiko bei etwa 30 Prozent; bei Bissverletzungen, bei denen Speichel in den Blutkreislauf gelangt ist, bei deutlich über 90 Prozent. Bei Letzteren ist der behandelnde Arzt oder sind Sie selbst gesetzlich dazu verpflichtet, sofort das MEA (Monster-Eindämmungsamt) zu konsultieren. Da sich die Verletzungen im Falle einer Infektion mit Lykanthropie in den nächsten Tagen selbst heilen werden, müssen diese meist nicht behandelt werden. Sollte eine Infektion vorliegen, wird die gebissene Person, da bis dato keine Heilung für Lykanthropie existiert, anschließend als Abnormaler eingestuft und in eine Einrichtung für frisch Mutierte gebracht.

Ich bemerkte, wie mir der Schweiß ausbrach. Natürlich, Infektion! Wie hatte ich das nur vergessen können?! Wer von einem Werwolf gebissen wurde und überlebte, lief Gefahr, selbst zu einem zu werden. Jeder wusste das. Wie hatte ich das nur ausblenden können?! Verdammt! Das konnte einfach nicht wahr sein. Das durfte nicht passieren! Bei dem Biss war definitiv Speichel in meinen Blutkreislauf gelangt. Der Artikel hatte doch gesagt, dass man die Verletzung auswaschen sollte, oder? Das hatte ich noch nicht getan und in meiner Verzweiflung beschloss ich, es zu versuchen, obwohl mir unterbewusst klar war, dass es dafür längst zu spät war. Ich rannte ins Bad, riss meinen Verband von meinem Arm und hielt die Verletzung für mindestens zwei Minuten unter den voll aufgedrehten Wasserhahn. Anschließend desinfizierte ich die Wunde nochmal - besser zu viel als zu wenig - und verband sie dann wieder. Danach fühlte ich mich etwas besser. Aber dann fiel mir wieder ein, was noch in dem Artikel gestanden hatte. Ich war gesetzlich dazu verpflichtet, das MEA zu benachrichtigen. Aber ich wusste, was das bedeuten würde: Sie würden mich abholen kommen und ich würde als ein Freak eingestuft werden. Das konnte ich nicht zulassen. Aber andererseits musste ich auch jemanden darüber informieren, dass da draußen ein wilder Werwolf herumlief. Also ging ich zurück in mein Zimmer und nahm mein Handy in die Hand. Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer des Monster-Notdiensts 166. Eine Nummer, von der ich bisher immer gedacht hatte, sie nie in meinem Leben wählen zu müssen. Ich hielt das Smartphone an mein Ohr.

„Hallo, 166 hier, was ist Ihr Notfall?“, ertönte eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich zögerte einen Moment. „Hallo? Ist da jemand?“, fragte die Frau.

„Ja, ja ich, ich habe einen Werwolf im Wald hinter der Adamsstraße gesehen“, erklärte ich ihr stotternd.

„Aha, wurden Sie oder jemand durch die Kreatur verletzt?“, fragte die Frau, während ich hörte, wie sie etwas in eine Tastatur hackte. Ich umklammerte mein Handy und sagte gar nichts. Wenn ich zugab, dass ich gebissen worden war, würde mich ein Jäger-Team aus dem Haus und in die nächste Anstalt für frisch Mutierte begleiten. So viel war mir klar. Also legte ich einfach auf. Jetzt konnte ich mir wenigstens einreden, meine Bürgerpflicht nicht komplett vernachlässigt zu haben, da ich ja zumindest jemanden über den Werwolf informiert hatte. Nun konnte ich nur noch hoffen, dass ich mich nicht in ein grauenvolles Monster verwandeln würde. Ich setzte mich auf mein Bett und überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte. Wenn ich mich nicht verwandeln würde, würde ich morgen mit der Verletzung zu einem Arzt gehen und ihm erklären, dass mich ein Hund gebissen hatte. Er würde mir wahrscheinlich ein Antibiotikum gegen Infektionskrankheiten verschreiben und die Wunden nähen. Wenn ich aber tatsächlich zu einem monströsen Gestaltwandler mutieren sollte, dann wäre ich damit offiziell erledigt. Ich wollte nicht einmal darüber nachdenken, was dann passieren würde. Mein Blick fiel auf den Wecker neben meinem Bett. Es war bereits halb zehn. Ich beschloss, heute früh ins Bett zu gehen. Dann würde ich wenigstens nicht meine Eltern darüber anlügen müssen, was mit meinem Arm passiert war. Ich wusste nicht, was sie getan hätten, wenn sie gewusst hätten, dass ihr Sohn möglicherweise zu einem Monster mutieren würde. Zur Sicherheit schloss ich mein Zimmer für die Nacht ab. Anschließend zog ich mich um und legte mich in mein Bett, darauf hoffend, nicht als etwas anderes als ein Mensch wieder aufzuwachen. Es dauerte verständlicherweise eine Weile, bis ich einschlafen konnte, aber ich war müde und letztendlich gelang es mir trotz allem, in einen unruhigen Schlaf zu fallen.

Am nächsten Tag erwachte ich in menschlicher Gestalt, was ich als ein gutes Zeichen wertete. Doch dann fiel mir auf, dass ich meinen Arm schon wieder fast normal bewegen konnte und als ich den Verband zur Seite zog, um die Verletzungen zu untersuchen, musste ich feststellen, dass diese nicht mehr so tief waren, wie sie es eigentlich sein sollten. Ich redete mir ein, dass sie gestern genauso tief gewesen waren, aber tief in mir wusste ich, dass das nicht stimmte. Meinen Verband unter dem Ärmel meines Sweatshirts verbergend, ging ich nach unten um zu frühstücken. Ich hatte einen Riesenhunger. Mein Vater saß bereits am Frühstückstisch und sah von seiner Zeitung auf, als er mich kommen hörte.

„Na, lange Nacht gehabt, gestern?“, begrüßte er mich und wies mit dem Kopf auf die Uhr an der Wand. Es war bereits elf Uhr vormittags. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und zuckte nur mit den Schultern.

„Und ihr?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage. Er sah wieder in seine Zeitung und ließ sich Zeit, um zu antworten.

„Es war ein schöner Abend gestern, ja. Die Maiers haben uns erzählt, dass ihr Sohn für das Jurastudium zugelassen wurde.“ Ich seufzte. Mein Vater war Anwalt und er gab sich keine Mühe, zu verheimlichen, dass er es gern gesehen hätte, wenn ich in seine Fußstapfen getreten wäre.

„Das freut mich für ihn“, erwiderte ich nur. Dann setzte ich mich an den Tisch und überlegte, was ich essen wollte. Es gab Honig, Butter und Marmeladen, aber obwohl ich sehr hungrig war, erschien mir nichts davon ansprechend. Nein, ich brauchte etwas anderes. Ich ging zum Kühlschrank und zog ein Päckchen mit rohem Hackfleisch hervor. Als ich es anstarrte, überkam mich das dringende Bedürfnis, meine Zähne in ihm zu versenken. Aber dann wurde mir klar, wie das für meinen Vater ausgesehen hätte, also stopfte ich das Päckchen stattdessen in meine Hosentasche, entschuldigte mich und rannte in mein Zimmer. Ich schloss die Tür hinter mir, zog das Päckchen hervor, wickelte seinen Inhalt aus und stopfte mir das rohe und noch blutige Fleisch in den Mund. Erst als ich fertig war wurde mir klar, was ich da gerade getan hatte, und ich erstarrte. Das war kein normales Verhalten. Verdammt. Das konnte nur eines bedeuten. Nein. Nein! NEIN! Das durfte einfach nicht wahr sein. Ich redete mir ein, dass es vielleicht irgendetwas mit einem verspäteten Wachstumsschub oder etwas Ähnlichem zu tun hatte und ignorierte das offensichtliche Warnzeichen. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, meinen Eltern aus dem Weg zu gehen, in meinem Zimmer auf- und abzulaufen und mit dem sinnlosen Versuch, mich abzulenken, indem ich für die Abschlussprüfungen lernte. Was sollte ich sonst tun? Ich machte mich strafbar damit, nicht die MEA zu benachrichtigen, aber was würde das schon für einen Unterschied machen, wenn sich erst wirklich herausstellte, dass ich ein Werwolf war? Dann würden sie mich sowieso als Freak einstufen und dann wegsperren. Nein, das konnte ich nicht zulassen. Ich suchte im Internet und fand eine Doku über Werwölfe, die es geschafft hatten, ihren Zustand jahrelang vor den Menschen zu verheimlichen und so unter ihnen zu leben. Ihre Verwandlungen unterdrückten sie mithilfe von Medikamenten und bei schwierigen Situationen sperrten sie sich in Schutzräume ein. Vielleicht konnte ich das ja auch tun. Es wurde Abend und ich beschloss, dass ich das zumindest versuchen müsste. Ich konnte doch nicht einfach so meine Zukunft wegwerfen, indem ich mich als Freak outete - nicht all das, wofür ich jahrelang so hart gearbeitet hatte. Mich einfach mit all den anderen Monstern irgendwo einsperren lassen. Also nahm ich mir einige Beruhigungsmittel aus dem Medikamentenschrank und aß ohne meine Eltern, indem ich mir einige Würste aus dem Kühlschrank nahm und diese dann in meinem Zimmer roh verschlang. Als meine Mutter mich fragte, ob ich mit ihnen essen wollte, behauptete ich einfach, keinen Hunger zu haben. Nachts lag ich wach und hoffte für morgen, den ersten Schultag in meinem neuen Zustand, vorbereitet zu sein. Ich hatte herausgefunden, dass nicht der Vollmond der Hauptauslöser für unwillentliche Verwandlungen war, sondern starke Emotionen, so wie Schmerz, Wut oder Stress. Aber ich hoffte, mit den Medikamenten dagegen gewappnet zu sein, und in mir war noch immer ein Teil davon überzeugt, dass ich sowieso kein Lykanthrop werden würde und dass das alles doch nur ein schlechter Traum war.

Diese Hoffnung wurde am nächsten Tag zerschmettert, als ich meine Verletzung inspizieren wollte und stattdessen nur noch einige hässliche Narben vorfand. Die Wunde hätte niemals so schnell verheilen dürfen. Das hier war das letzte und unmissverständliche Zeichen: Ich würde ein Werwolf werden. Ein Monster. Ein Freak. Bisher hatte ich noch verzweifelt versucht, mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber jetzt war es eindeutig. Ich schrammte haarscharf an einer Panikattacke vorbei und redete mir ein, dass ich es bestimmt verheimlichen könne. Doch als ich die Vorhänge meines Zimmers öffnete, stach die Sonne in meine Augen und ich musste geblendet den Blick abwenden. Auch das Gezwitscher der Vögel von draußen war ungewöhnlich laut und ich konnte mehr Geräusche gleichzeitig hören als je zuvor. Das musste bedeuten, dass meine Sinne schärfer geworden waren. Falls es noch einen Zweifel gegeben hatte, war dieser jetzt endgültig zerstört. Und wie sollte ich so Stress vermeiden, wenn alleine Sonnenlicht und Vogelgezwitscher mir so unerträglich vorkamen? Ich hatte eine Idee und entnahm meinem Kleiderschrank ein Kapuzensweatshirt und eine Sonnenbrille. In die Ohren würde ich mir Kopfhörer stecken können. Ja, so würde das Ganze funktionieren. Zur Sicherheit schluckte ich noch einige Beruhigungstabletten, bevor ich nach unten zum Frühstück ging. Dort trug ich die Brille und die Kopfhörer noch nicht, um meinen Eltern nicht aufzufallen. Aber ich hielt den Blick gesenkt und versuchte, so gut wie möglich das Geklapper des Geschirrs und die Kaugeräusche meiner Eltern auszublenden, die bereits unangenehm laut waren. Meine Mutter zwang mich, eine Semmel zu essen, die ich widerwillig hinunterwürgte. Ihr Aroma war unglaublich intensiv und alleine von ihrem Geruch wäre mir beinahe schlecht geworden. Dann machte ich mich auf den Weg zum Schulbus. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und zog mir die Kapuze tief ins Gesicht. So war die Welt zumindest halbwegs erträglich. Ich schaffte es, die Fahrt im Bus zu überstehen, ohne total die Nerven zu verlieren. Als wir an der Freak-Siedlung vorbeikamen, zuckte ich innerlich zusammen. Dort würde ich landen, sollte bekannt werden, was ich wirklich war. Eine magische Missgeburt der Natur. Ich schwor mir selbst, nicht zuzulassen, dort jemals eingesperrt zu werden. Der Bus blieb schließlich vor der grauen und kastenartigen Silhouette meiner Schule stehen und ich stieg aus. In der Aula traf ich auf meine Freunde James und William.

„Alter, was ist denn mit dir los?“, fragte mich William, als er mein seltsames Outfit bemerkte. „Gestern zu lange gefeiert?“

„Ja, klar, hab einen Mordskater“, bestätigte ich einfach nur. Ich wusste nicht, ob sie mir das abnehmen würden, immerhin galt ich nicht gerade als exzessiver Trinker, aber eine bessere Ausrede fiel mir auch nicht ein. Wir unterhielten uns noch über die anstehenden Prüfungen und ein Mädchen, auf das James heimlich stand, aber ich hielt mich größtenteils zurück. Dann ertönte die schmerzhaft laute Schulglocke und rief uns zum Unterricht. Schon in der ersten Stunde zwang mich unser Englischlehrer, Herr Miller, die Kapuze und die Sonnenbrille ab- und die Kopfhörer herauszunehmen. Als Resultat war der gesamte Unterricht schmerzhaft laut und das Licht der Sonne, das durch die Fenster des Klassenzimmers fiel, brannte in meinen Augen. Ich konnte spüren, wie mein Blutdruck sich erhöhte und Schweiß aus meinen Poren brach. Verdammt, das war gar nicht gut. Ich musste doch Stress vermeiden! Ich versuchte, heimlich eine weitere Beruhigungstablette zu nehmen, aber Herr Miller erwischte mich dabei. Er riss mir die Medikamentendose aus meinen Händen. Vielleicht dachte er, es wären Drogen oder so was. Als würde ich mitten im Unterricht illegale Substanzen einnehmen. Doch ertappt zu werden war, was das Fass zum Überlaufen brachte. Ich konnte plötzlich ein seltsam heißes Kribbeln unter meiner Haut spüren und fühlte, wie mein Puls begann, regelrecht zu rasen. Ich musste hier raus. Schnell murmelte ich irgendetwas davon, dass mir schlecht sei und ich auf die Toilette müsse, während ich aufstand und begann, mir einen Weg aus dem Klassenzimmer zu bahnen. Herr Miller stellte sich mir in den Weg und ich wollte ihn zur Seite schieben. Ich musste jedoch wesentlich stärker geschoben haben, als ich beabsichtigt hatte, denn er stolperte zwei Meter zurück und fiel hart auf seinen Rücken. Mein erster Impuls war, ihm wieder aufzuhelfen, aber dann intensivierte sich das Kribbeln und ich stürmte durch die Tür und nach draußen auf den Gang. Doch ich kam nicht weit. Nach ungefähr fünf Metern begann sich meine Wirbelsäule zu verformen und zu verkrümmen und ich fiel zu Boden. Ich fing mich mit den Händen ab und als ich diese ansah, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass Krallen begonnen hatten, aus meinen Fingern zu wachsen und lange, braune Haare durch meine Haut brachen. Mich umwendend sah ich, dass Herr Miller und einige meiner Mitschüler mir auf den Gang gefolgt waren, um zu sehen, was mit mir los war. Ein Mädchen schlug sich die Hände vor den Mund, als sie mich sah. Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, aber aus meinem Mund kam nur ein heiseres Knurren. Das Letzte, was ich sah, bevor es schwarz vor meinen Augen wurde, war, wie Herr Miller den kleinen, grünen Kasten neben dem Feuer- und dem Rauchalarm einschlug. Den Monsteralarm.

Das erste, was ich wahrnahm, als ich aufwachte, war ein grelles, weißes Licht, das in meinen Augen stach. Ich schloss diese wieder und wandte mich ab. Anscheinend lag ich auf irgendetwas, also rollte ich zur Seite und öffnete dann wieder die Augen. Ich musste sie zu einem schmalen Schlitz zusammenkneifen, weil es unangenehm hell um mich herum war, aber ich konnte trotzdem erkennen, dass ich in einem kleinen Raum von etwa zwei Metern Breite und vier Metern Länge war. Ich lag auf einem Bett und das unangenehme Licht über mir kam von einer einzelnen Neonröhre, die an der niedrigen Decke befestigt war. Ansonsten gab es in dem Raum noch ein Waschbecken, eine Kloschüssel direkt neben dem Bett, von der ein widerlicher Geruch ausging, und eine Tür an der gegenüberliegenden Seite. Die Tür war aus Stahl und hatte ein kleines Fenster in ihre Mitte eingelassen, sowie eine Klappe direkt am Boden. Es war die Tür zu einer Zelle. Mein Kopf schmerzte und ich fühlte mich, als hätte man mit einem Baseballschläger auf mich eingeprügelt. Jeder Knochen und jeder Muskel schmerzten. Zuerst war mir nicht klar, was passiert war, aber dann kamen die Erinnerungen langsam, eine nach der anderen, wieder zurück. Ich war gebissen worden, hatte versucht, es zu verheimlichen und hatte mich in der Schule verwandelt. Dann endeten sie einfach. Das Einzige, woran ich mich danach noch erinnern konnte, waren verschwommene Fetzen. Wut und Hunger, Schreie und dann ein stechender Schmerz in meinem Rücken. Ich setzte mich auf dem Bett auf und stellte fest, dass ich, bis auf eine weiße Unterhose, komplett nackt war. Eine Weile saß ich auf der Bettkante und versuchte, mir zusammenzureimen, was passiert sein musste und wo ich jetzt war. Das hier war auf jeden Fall so eine Art Zelle, also befand ich mich wahrscheinlich in einem Gefängnis oder, was wahrscheinlicher war, in einem Zentrum für frisch Mutierte. Verdammt, mein Plan, meine Lykanthropie zu verheimlichen, war also nicht aufgegangen und möglicherweise hatte ich auch noch jemanden verletzt. Als diese Erkenntnis durch meinen Kopf ging, vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen. Ich war ein Freak und alle Welt wusste es. Mein ganzes Leben war im Eimer, nur weil dieser blöde Flohsack von einem Werwolf seine Zähne in mir hatte vergraben müssen. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich glaube, ich begann zu weinen. Da klopfte es auf einmal an meiner Zellentür und jemand schob ein Paket durch die Klappe an deren unterem Ende hindurch. Ich unterbrach es, mich in meinem Selbstmitleid zu suhlen, stand auf und ging zur Tür. Dort nahm ich das Päckchen und riss seine weiße Plastikverpackung auf. In ihm fand ich eine billige Plastiksonnenbrille, ein Paar einfache Ohrstöpsel und einen giftgrünen Overall. Ich war dankbar für die ersten zwei Gegenstände und setzte mir die Brille sofort auf und steckte mir die Ohrstöpsel in die Ohren, aber ich zögerte, als ich den Overall betrachtete. Er war die Standardkleidung für straffällig gewordene Freaks und Insassen von Freak-Gefängnissen. Ich hatte in den Nachrichten gesehen, wie diese Overalls von am ganzen Körper tätowierten, grimmigen Orks und verschlagen aussehenden Vampiren getragen wurden. Doch nicht von einem braven und unschuldigen Mittelschicht-Jungen, wie ich einer war. Aber ich hatte keine Alternativen und auch wenn mir nicht kalt war, wollte ich trotzdem nicht fast nackt herumlaufen. Ich war ja kein Wilder. Als ich mich gerade anzog, fiel mein Blick auf einen kleinen Spiegel, der an der Wand über dem Waschbecken befestigt war, und damit auf mein Spiegelbild. Ich war nie ein besonders kräftiger Junge gewesen. In meiner Freizeit spielte ich zwar Tennis und Badminton, aber beide Sportarten verwandelten einen jetzt nicht direkt in einen Bodybuilder. Doch jetzt erstreckten sich Muskeln über meinen gesamten Körper. Ich hatte ein Sixpack und gewaltige Arm-, Schulter- und Brustmuskeln. Ich hatte gehört, dass Werwölfe kräftiger als normale Menschen waren, aber das hier überraschte mich trotzdem. Vielleicht hatte die Verwandlung ja zumindest irgendetwas Gutes gehabt. Schließlich hörte ich auf, meinen Körper im Spiegel anzustarren, und zog mich an. Danach passierte eine Weile lang rein gar nichts. Von draußen drangen gelegentlich Geräusche herein und ich konnte gedämpfte Gespräche hören. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass ein Mensch diese durch die dicke Stahltür wahrscheinlich nicht hätte hören können. Aber inzwischen brauchte ich keinen weiteren Beweis mehr dafür, dass ich selbst keiner mehr war. Immerhin hatte ich mich ja bereits in ein verfluchtes Monster verwandelt. Es gab keine Uhr in meiner Zelle, aber es vergingen sicherlich mehrere Stunden, in denen einfach rein gar nichts passierte. Zunächst dachte ich noch über mein weiteres Schicksal nach, machte mir Gedanken darüber, was meine Eltern, meine Freunde und Emily wohl darüber denken würden, wenn sie erfahren würden, dass ich jetzt ein Freak war. Wahrscheinlich hatten sie es bereits erfahren. Aber irgendwann überkam mich die Langeweile und ich saß einfach nur noch da und dachte an nichts. Ich versuchte, wieder zu schlafen und legte mich auf das Bett, aber die Geräusche von draußen hielten mich davon ab, einzuschlafen. Letztendlich hörte ich Schritte, die sich von draußen der Tür näherten und setzte mich auf. Ein Schlüssel wurde zweimal im Schloss der Tür gedreht und diese öffnete sich. Drei Männer traten ein. Zwei von ihnen trugen militärische Schutzkleidung mit dem gelben Symbol der Jägercorps auf ihren Schulter- und Brustplatten: Eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss. Einer von ihnen, der rechte, hielt einen Schlüsselbund in seiner Hand, der linke eine Pumpgun. Beide trugen Helme, deren schwarz reflektierende Visiere ihre Gesichter verbargen. Zwischen ihnen stand ein gelangweilt aussehender Mann im Anzug mit dunkelblauer Krawatte. Er war weiß, dünn und hatte schwarzes Haar, das sich an seinen Schläfen langsam grau färbte. Er kaute einen Nikotinkaugummi, dessen Geruch unangenehm in meiner Nase stach. Unter seinem Arm trug er ein Klemmbrett, das er jetzt hervorzog und konsultierte. Dann wandte er sich an mich.

„Herr Jones?“, fragte er mich. Ich nickte, etwas eingeschüchtert von der Mündung des Gewehrs, die der linke Jäger inzwischen auf meine Brust gerichtet hatte.

„Wenn Sie uns bitte folgen würden“, sagte der Anzugträger und klang dabei, als wäre er ein Tourguide, der jeden Tag die gleichen Sätze herunterleiern musste. Damit drehte er sich um und ging. Ich wollte gerade tun, was er verlangt hatte und trat auf die Tür zu, aber der Mann mit der Schrotflinte richtete diese sofort auf meinen Kopf und der andere bedeutete mir, stehenzubleiben. Dann zog er Hand- und Fußschellen hinter seinem Rücken hervor und legte mir diese an. Meine Haut begann sofort seltsam zu jucken, als die Fesseln sie berührten. Ich betrachtete die Schellen näher und ihr Glanz bestätigte meine Vermutung: Sie waren mit Silber legiert. Der Mann mit der Pumpgun riss mich aus meinen Beobachtungen, als er mich unsanft mit deren Kolben in den Rücken stieß. Ich stolperte vorwärts. Als ich die Zelle verließ, fiel mein Blick auf ein Schild, das neben der Tür angebracht war: Sicherheitsraum für besonders gefährliche Individuen. Das war ich jetzt also. Ein besonders gefährliches Individuum. Ich folgte dem Anzugträger einen langen Gang entlang, von dem zahlreiche weitere Metalltüren, wie die zu meiner Zelle, abgingen, bis wir schließlich an eine weitere Tür aus weiß lackiertem Sperrholz kamen. Der Mann trat durch sie hindurch und ich folgte ihm, während die beiden Wachen im Gang zurückblieben. Hinter ihr lag ein kleiner Raum mit vielleicht zwölf Quadratmetern. Der Raum hatte keine Fenster, aber eine Wand wurde fast gänzlich von einem großen Spiegel eingenommen. Es war ein von einer Seite durchsichtiger Spiegel, wie man ihn von vielen Verhörräumen her kennt. Ich wusste dies, weil ich die Menschen im Raum auf der anderen Seite des Spiegels reden hören konnte. Doch leider konnte ich nicht verstehen, was sie sagten. Ansonsten gab es in dem Raum nur einen einfachen Metalltisch in der Mitte und einen Stuhl an jeder seiner Längsseiten. Der Mann im Anzug setzte sich auf den Stuhl auf der Seite des Spiegels und bedeutete mir, mich auf den anderen, ihm gegenüber, zu setzen. Ich tat, wie mir geheißen. Der Mann legte sein Klemmbrett auf den Tisch und las den Inhalt der Blätter auf diesem aufmerksam durch. Es war für mich nicht einfach zu lesen, was auf ihnen stand, weil es von meinem Platz aus kopfüber war, aber es war nicht allzu schwer, meinen Namen ganz oben auf dem ersten Blatt zu entziffern. Nathan Jones. Nach einer gefühlten Ewigkeit räusperte sich der Mann und sah mich an.

„Wissen Sie, was passiert ist?“, fragte er mich schließlich. Ich sah schuldbewusst zu Boden und auf meine Füße, als ich antwortete.

„Ich wurde am Samstagabend im Wald hinter meinem Zuhause von einem Werwolf angegriffen und gebissen.“

„Und?“, fragte er mich.

„Und ich habe niemanden darüber informiert, dass ich gebissen wurde.“

„Sie wissen, dass Sie sich dadurch strafbar gemacht haben.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Aber ich habe beim MEA den Werwolf gemeldet!“, versuchte ich, mich zu verteidigen und sah auf.

„Das wissen wir. Wir haben Ihren Anruf inzwischen zu Ihrem Mobiltelefon zurückverfolgt.“ Ich kam mir wie ein Vollidiot vor. Natürlich hatten sie das.

„Was ist passiert? Ich erinnere mich an nichts mehr, nachdem ich begonnen habe, mich zu verwandeln“, fragte ich den Mann vor mir. Er antwortete nicht sofort, sondern lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete mich eine Weile, bevor er schließlich doch auf meine Frage einging.

„Der Monster-Beauftragte Ihrer Schule hat Sie mit einem Taser geschockt, bevor Sie Ihre Verwandlung gänzlich abschließen konnten.“ Und wir hatten den alten Ollie immer dafür veräppelt, dass er doch sowieso nie was zu tun hätte. Der Mann fuhr fort.

„Anschließend wurden Sie von einem Jäger-Team aufgesammelt und hierhergebracht, in ein Auffangzentrum für frische Freaks.“ Er spuckte das letzte Wort aus, als würde es einen üblen Geschmack in seinem Mund hinterlassen. Eine Weile herrschte Stille im Raum.

„Was passiert jetzt mit mir?“, fragte ich schließlich.

„Das kommt ganz auf Sie an. Sie wurden bereits offiziell als Freak und damit als potentielle Bedrohung für die Allgemeinheit eingestuft. Demnach wurden Ihnen Ihre Freiheitsrechte bereits entzogen. Es gibt jetzt also noch zwei Möglichkeiten für Sie: Erstens, Sie werden in eine Freak-Siedlung umgesiedelt und verbringen den Rest Ihres erbärmlichen Werwolf-Daseins dort damit, ein Feld zu bewirtschaften oder Steine zu hacken, bis Sie wahrscheinlich entweder versuchen zu fliehen und erschossen werden oder von einem der anderen Bewohner getötet werden. Wären Sie ein Ork oder irgendeine andere relativ ungefährliche Art von Freak, könnten Sie nach einigen Jahren Arbeit dort wieder freikommen, aber ich fürchte, Werwölfe sind hierfür einfach als zu gefährlich eingestuft.“

„Was ist die andere Möglichkeit?“, unterbrach ich seine Ausführungen.

„Die andere Möglichkeit ist, dass Sie der Freak Force beitreten, dort fünf Jahre dienen und anschließend den Rest ihres Lebens als freier Bürger verbringen dürfen. Die können Werwölfe wie Sie dort immer gut gebrauchen. Ich überlasse Ihnen die Entscheidung.“ Damit riss er ein Blatt von seinem Klemmbrett und legte es zusammen mit einem Kugelschreiber vor mich auf den Tisch. Dann stand er auf, ging und ließ mich so mit der Entscheidung alleine. Ich betrachtete das Blatt vor mir. Mein Name stand bereits darauf und unten gab es ein Feld, in dem ich unterschreiben sollte. In der Mitte stand ein einzelner Satz: Hiermit willige ich freiwillig und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte ein, mich dem folgenden Programm anzuschließen: Darunter waren zwei Optionen zum Ankreuzen: das Siedlungsprogramm für abnormale Humanoide und das Eingreiftruppenprogramm für abnormale Humanoide. Das Letztere stand für die Freak Force. Eine der wenigen Möglichkeiten für einen Freak, dem Ghetto der Siedlungen zu entkommen. Freaks im Alter von achtzehn bis fünfundzwanzig Jahren erhielten dort die Möglichkeit, durch das Abdienen einer fünfjährigen Zeitspanne fast schon menschliche Rechte zu erhalten. Dafür mussten sie im Team, zusammen mit anderen Freaks, gefährliche Monster und durchgedrehte Freaks jagen und ausschalten. Es war eine gefährliche Aufgabe und da die Freak Force unter anderem dann eingesetzt wurde, wenn eine Aufgabe zu riskant für die Jägercorps war, überlebten nur etwa fünfzig Prozent der Mitglieder diese fünf Jahre. Ich unterschrieb das Blatt schon mal, aber dann zögerte ich. Was sollte ich ankreuzen? Es war die Wahl zwischen Pest und Cholera. Eigentlich gehörte ich doch in keines von beidem. Ich wollte zurück in mein altes Leben als Mensch, meinen Abschluss machen, dann irgendetwas Gewöhnliches studieren und anschließend einen gewöhnlichen Job und vielleicht ein paar gewöhnliche Kinder bekommen. Das konnte doch nicht alles einfach so von mir weggerissen werden! Doch mir war klar, dass ich keine Chance mehr haben würde, dieses Leben zu leben. Also hob ich den Stift über das Papier und war kurz davor, ein Kreuz bei der Siedlungsoption zu machen. Da fiel mir meine letzte Busfahrt wieder ein und das Versprechen, das ich mir währenddessen gegeben hatte: Ich würde mich niemals in eines dieser Ghettos sperren lassen. Entschlossen riss ich den Stift zurück und machte ein Kreuz bei der anderen Option. Ich würde ein Mitglied der Freak Force werden.

Kapitel 2: Sarah