Kirsten Fuchs wurde in Karl-Marx-Stadt geboren und ist in Berlin aufgewachsen. 2003 gewann sie den renommierten Literaturwettbewerb „Open Mike“. Sie war Mitglied verschiedener Berliner Lesebühnen, seit 2008 liest sie bei der Chaussee der Enthusiasten. Von 2003 bis 2005 war sie Kolumnistin für die taz. Seit 2007 schreibt sie für Das Magazin. Zuletzt erschienen: „Zieh dir das mal an!“ und „Heile, heile“ (Rowohlt Berlin).
Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2011
© by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR
Lektorat: Das Magazin
Umschlaggestaltung: Tim Jockel, Berlin
Satz: Fred Uhde, Leipzig
ISBN: 978-3-86391-071-6
www.voland-quist.de
Inhalt
Versuchsanordnung
Sind Männer wie Dielen?
Schatz und Liebchen
Nach der Trennung
Ich und Outdoor
Fenster (Mein Haus wird saniert)
Wie wir mal eine gespaltene Persönlichkeit waren
Techtel
Butzeltag
Meine liebe Miezekatze!
Also, ich habe nichts gegen Linkshänder
Butzeltag II
Rücktritt
Strangsanierung
Widrig
Zinnowitz auf Usedom, 7. Juli bis 13. Juli
Kreuzberg
Es ist weg
Mit Alfred in Rheinsberg, auf dem Sogenannten
Der ultimative Test
Reginas Kitzler
Kocherziehung
Die Fantasie ist ein Hort wohlklingender Pupse
Papa, komm vom Müll weg!
Haben
König Kind
Männerversteherin
Jahr eins
Der hilfreiche Dialog
Anonyme Solitärspieler
Männerversteherin II
Elternabend
Außenbezirk
Mutter zweier Söhne
Liebeserklärung
Mohrrübe
Versuchsanordnung
WIE DIE LIEBE ANFÄNGT
Modell 1: Gar nicht
Bedeutet: Es fängt gar nicht an.
Beispiel: Ein Lehrer versucht, einen Wiedehopf an einer Tafel zu befestigen. Der Wiedehopf fällt herunter, denn Wiedehopfe sind nicht magnetisch. Die Tafel ist zwar magnetisch, aber der Wiedehopf eben nicht. Der Wiedehopf ist auch nicht klebrig und die Tafel ebenso wenig. Wiedehopf und Tafel können sich nicht ineinander verlieben, sie empfinden das nicht als Verlust. Der Lehrer war der Zufall, aber das reicht eben nicht.
Modell 2: Gar nicht, aber auf eine andere Art
Bedeutet: Einer verliebt sich, der andere nicht.
Beispiel: Ein Eichhörnchen versucht, eine Nuss zu öffnen. Das Eichhörnchen hat keine Zähne. Das Eichhörnchen ist also gar nicht in der Lage, die Nuss zu öffnen. Hätte das Eichhörnchen Zähne, würde es die Nuss öffnen, die Nuss essen, die Nuss wäre leer, das ginge zu Lasten der Nuss. Eventuell liebt die Nuss das Eichhörnchen nicht, genau weil es keine Zähne hat, damit ist es eine intolerante Nuss, die ein übertriebenes Schönheitsideal hat und deshalb nie gegessen wird. Eine Nuss, die nie gegessen wird, vergammelt. Eine Nuss, die gegessen wird, wird in den Wald gekackt, wird ein Baum, darauf könnte das Eichhörnchen leben, so soll es aber leider nicht sein, das Eichhörnchen wird verhungern. Schade!
Modell 3: Gar nicht, aber auf eine ganz andere Art
Bedeutet: Beide verlieben sich, sind aber zu scheu.
Beispiel: Zwei Stehlampen verlieben sich in einem Möbelhaus ineinander, aber sie geben kein Licht. Sie können sich nicht anleuchten. Warum sie nicht leuchten, kann viele Gründe haben: kein Strom, Glühbirne kaputt, Stecker nicht drin. Es sind keine Gehlampen, sondern Stehlampen, darum kann keine zur anderen gehen. Das ist fatal!
Modell 4: Es wächst
Bedeutet: Aus langer Freundschaft wächst Liebe.
Beispiel: Ein Trampolin kann nur mit einer Spargelsuppe über alles reden. Nachdem sie über alles geredet haben, springt das Trampolin in die Suppe, und beide erfahren dadurch eine Aufwertung.
Modell 5: Na gut
Bedeutet: Einer gibt sich geschlagen und lässt sich aus Erschöpfung erobern.
Beispiel: Ein Eichhörnchen versucht, einen Sessel zu pflanzen. Das Eichhörnchen weiß, dass alles, was man gießt, wächst. Es gießt so lange den Sessel, bis der Sessel anfängt zu schimmeln und auf ihm ein kleiner weißer Pelz wächst. Das Eichhörnchen freut sich und streichelt den Schimmel. Dass der Sessel stinkt, riecht das Eichhörnchen nicht, denn es ist das Eichhörnchen ohne Zähne, und es hat auch keine Nase. Die Nuss hatte schon recht, das Eichhörnchen abzulehnen, es ist ein hässliches Eichhörnchen. Der Sessel ist schon lange verrottet, aber das Eichhörnchen streichelt glücklich den Schimmel. Ich kenne mindestens drei solcher Paare.
Modell 6: Im Zauber der Nacht
Bedeutet: Sie wollen beide Sex und haben darum Sex.
Beispiel: Ein Magnet lernt in einem Club einen Salzstreuer kennen. Der Magnet hat zu viel Bier getrunken, um feststellen zu können, ob der Salzstreuer aus Metall ist. Der Salzstreuer weiß auch nicht mehr, ob er aus Metall ist. Sie verhalten sich erst mal, als wäre es so.
Modell 7: So soll’s sein
Bedeutet: Beide finden sich sofort schau.
Beispiel: Die Stehlampe kann plötzlich gehen, ein Salzstreuer hat genau auf diese Stehlampe gewartet, eine Nuss hält an einer Tafel, das Möbelhaus findet das Eichhörnchen ohne Zähne und Nase irgendwie süß, der Lehrer entdeckt hinterm Haus ein Trampolin und freut sich voll, ein Magnet zieht Spargelsuppe an, ein Sessel lernt einen Wiedehopf kennen und kann plötzlich fliegen. Wunder über Wunder. Es muss nicht wirklich passen, es muss sich nur gut anfühlen.
WIE ES MIT DER LIEBE WEITERGEHT, WENN ES ANGEFANGEN HAT
Modell 1: Huch, passt ja gar nicht
Bedeutet: Huch, passt ja gar nicht.
Beispiel: Leider stellen alle Beteiligten fest, dass Wunder nicht anhalten: Die Stehlampe kann nicht mehr gehen, kein Stück, dem Salzstreuer geht das Schnarchen auf den Keks, die Nuss fällt wieder von der Tafel, das Möbelhaus findet das Eichhörnchen ohne Zähne und Nase nach zwei Jahren gemeinsam frühstücken nicht mehr süß, außerdem hat das Eichhörnchen einen Bierbauch bekommen, der Lehrer will nicht mehr Trampolin springen, ihm ist schischi im Kopf davon, den Magneten zieht es woandershin, die Spargelsuppe wird kalt, ein Sessel kann nicht fliegen, er fällt auf die Schnauze, der Wiedehopf will im Winter immer nach Süden, aus und vorbei.
Modell 2: Keine Langstreckenläufer
Bedeutet: Die Puste geht aus.
Beispiel: Eine Pflanze, die nicht gegossen wird, ein Schlüpfer, der viel getragen wird, ein Lagerfeuer, in das kein Holz nachgelegt wird, ein Ski, der nicht gewachst wird, eine Fahrradkette, die nicht geölt wird: wirft die Blüten in den Dreck, leiert in der Hüfte aus, brennt sich zu Glut, bleibt im Pappschnee kleben, quietscht irgendwann nervtötend.
Modell 3: Jetzt bin ich hier, wo soll ich denn sonst hin (Mischung aus Modell 1 und Modell 2)
Bedeutet: Die Puste geht aus, und huch, es passt nicht, aber egal.
Beispiel: Ein Silikonimplantat zerplatzt in einer Brust. Es ist nicht genug Geld da, um zu operieren, denk an die Kinder, denk an das Haus. Es heißt ja nicht umsonst: »Bis dass der Tod euch scheidet.«
Modell 4: Symbiose bis zum Umfallen
Bedeutet: Wenn man nicht genau hinsieht, kann man auch »sich ergänzen« dazu sagen.
Beispiel: Zwei Wiesel nagen sich zwei Beine ab, jeder sich selbst oder jeder dem anderen oder ein Wiesel sich selbst zwei und dem anderen zwei, egal. Zwei Wiesel mit zwei Beinen. Beide Wiesel können nur zusammen humpelnd vorwärtskommen.
Modell 5: Langstreckenläufer
Bedeutet: Glück, würd ich mal sagen.
Beispiel: Zwei Kastanien rollen nebeneinander den Berg hinunter. Manchmal kollidieren sie, mal rollt die eine, mal die andere vor, manchmal jauchzen sie.
Sind Männer wie Dielen?
Es war an einem Frühlingsabend, der sanft und geheimnisvoll ein Licht aus Zärtlichkeit über die Alleen von Berlin hätte streicheln können, ein Busseln in den Straßencafés, ein Balzen aller Lebewesen, das Blühen der Bäume nur für dich, ein Singen der ewigen Befruchtung, als zufällig achtzig Prozent der Frauen in Berlin prämenstruale Zicken bekamen und darum mit der besten Freundin saufen gingen. Auf der Straße war kein Mann. Sie saßen verängstigt zu Hause, und zwischen den Bürgersteigen sirrte der unbefriedigte Hass trockener Frauen mittleren Alters.
Doreen ging mit Jana was trinken. Erst hatten sie überlegt, ob sie mal was anderes machen sollten, als in der Kneipe zu sitzen: Kino, tanzen, einfach was anderes, aber sie waren doch wieder was trinken gegangen.
Dann überlegten sie, ob sie mal was anderes trinken sollten als Bier: Wein, Cocktails, dann hatten sie Bier bestellt. Beim ersten Bier sprachen sie noch über dies und das und jenes, beim zweiten über das und jenes und dies, und beim dritten blieben sie bei jenes hängen: erst Männer allgemein, dann Männer im Speziellen. Sie hatten das Thema umzingelt, eingekreist, sich rangepirscht. Jetzt waren sie da, und da blieben sie auch die nächsten Biere. Beide schilderten ausführlich, wie unfähig ihre aktuellen Bettgefährten wären, sich zu binden, ohne dabei zu denken, es ginge um das Verbinden der riesengroßen Wunde Freiheit, die blutete und blutete, weshalb es besser wäre, den Verband immer mal zu wechseln. Dabei ist jeder Verband nur wieder ein Verband, fanden Doreen und Jana, beide Krankenschwestern, die verstanden was von Verbänden. Es fing doch immer gleich an, entwickelte sich gleich und endete gleich: Landete man nicht immer wieder besoffen mit einer Freundin bei diesem Gespräch, ach, am Anfang war alles so und so, und dann verschwand das eine so und das andere so, und zurück blieb die Sprachlosigkeit? Sie belegten ihre Anschuldigungen den Männern gegenüber mit demütigenden Geschichten, akribischen Beweisen, und Hunderten von Belegen dafür, wie unsensibel und unaufmerksam die beiden Stiesel seien, denen sie so großzügig ihr Herz geschenkt hatten. Ach, ach, Prost.
»Weißt du«, sagte Doreen zu Jana, »weißt du, mir geht es auf den Keks, dass ich den Mann beziehungsfähig mache, und dann profitiert davon eine andere Frau. Das ist doch unfair.«
So sagte es Doreen, »beziehungsfähig machen«, wie man ein Auto flott macht, ein Fahrrad repariert, einen Keller entrümpelt oder einen Hund dressiert. Und sie fragten sich, warum sie sich die Mühe machen sollten, den Hund zu dressieren, dass er Sitz macht, dass er Fick macht, dass er Romantik macht, wenn der Hund dann wegläuft? Der HUND!!
»Was ich schon alles investiert habe!«, stimmte Jana Doreen zu. »Ich habe so viel gegeben, und das nimmt er alles mit. Er ist mit der Zeit richtig gut geworden im Bett. Er hat sich gemerkt, dass es wichtig ist, zu wissen, wann wir Jahrestag haben, und dass er ein schlechtes Gewissen zu haben hat, wenn er ihn vergessen hat. Und es ist gut, wenn er ihn vergisst, dann bekomme ich ein viel größeres Geschenk.«
Sie kicherten.
»Investieren« sagte Jana, wie in eine Aktie, ein Geschäft, eine Firma, die ohnehin wieder Konkurs anmeldet. Und dann nimmt der Hund, das Auto, das Fahrrad, der Keller die Firma, die Konkursmasse mit, und es kommt einer völlig fremden Frau zugute.
»Wie unfair!«, sagten Jana und Doreen
»Wie unsinnig!«
»Wir müssen dann wieder von vorne anfangen mit dem Nächsten, gerade, wenn der Alte fast fertig ist.«
Ja, ja, Prost.
»Weißt du!«, sagte Jana zu Doreen. »Vielleicht machen gerade andere Frauen dieselbe Arbeit für uns. Jetzt gerade im Moment formen sie unsere zukünftigen perfekten Männer, mit denen wir uns, so wie sie momentan noch sind, nur herumärgern müssten. Sie werden für uns fertiggestellt, und wir treffen sie erst, wenn sie aus fremder Frauenhand handzahm weglaufen, direkt zu uns.«
Doreen war begeistert. »Das ist ja wie ein Ringtausch, bei dem wir uns alle ununterbrochen verbessern. Es kann nur besser werden. Das ist, wie wenn man die Dielen in einer Wohnung abschleift und dann auszieht. Dann hat ein neuer Mieter schöne Dielen.«
Jana sagte, dass sie schon dreimal Dielen abgeschliffen habe, sie wäre jetzt langsam dran, dass sie in eine Wohnung zieht, wo das schon erledigt ist.
»Und woran merken wir, ob der Mann schon eine abgeschliffene Diele ist?«, fragte Doreen.
Tja, tja, Prost.
Ihre Idee ging nicht ganz auf. Manchmal lackieren Menschen schon geschliffene Dielen wieder farbig, oder sie kleben Teppich darauf. Das hieß, andere Frauen verkorksten gleichzeitig auch ihre zukünftigen Männer. An den Tischen ringsum summten die Trennungen in die Frühlingsstadt, in der in den nächsten Wochen die alte Leier ausgepackt werden würde, um ein schmalziges Lied darauf zu lügen. Die Frauen hockten hässlich in ihrem eigenen Geschlecht. Es machte keinen Sinn, die Haare um den Finger zu wickeln, die Lippen zu befeuchten, die Augenbrauen zu heben. Nur Frauen unter Frauen, und der Kellner war schwul. Der Frust soff mit, die Enttäuschung schluckte. Es würde lange, quälende Telefongespräche geben in dieser Nacht.
»Lass uns morgen darüber reden, du bist ja besoffen!«, würden die Herren versuchen, das Gezeter aus dem Ohr zu bekommen.
Jana und Doreen seufzten schwer.
Darum hier jetzt der Aufruf an alle Frauen: Verlasst eure Männer, wie ihr sie vorfinden wollt. Dasselbe gilt für öffentliche Toiletten und Dielen.
Schatz und Liebchen
Schatz und Liebchen waren seit fünf Wochen Schatz und Liebchen. Davor waren sie zwei einzelne traurige Mehrzeller mit Körperbehaarung an unterschiedlichen Stellen, aber auch an den gleichen Stellen. Nur Namen, nur Gestalten. Sie waren nur nahrungsaufnehmende Münder, die sagten: »Halloundsonstso? Najaokaytschau.« Dann hatten sie begonnen, ihre Münder aufeinanderzupressen, als ob das etwas besser machen würde, und es machte alles besser.
Jetzt waren sie schwingende, summende, schnurrende Mehrzeller, die sich ihre Körperbehaarungen gegenseitig zeigten und darin ihr Glück suchten und fanden. Sie rieben sich aneinander, bis kleine Röllchen abgerubbelter alter Haut entstanden, die zu Boden schwebten wie Rosenblätter, die das Bett umzogen wie ein Bannkreis, den man nicht verlassen will. Also blieben sie eben im Bett.
Vorher waren sie nur zwei Wohnungsbewohner zweier Wohnungen gewesen, die ihr Telefon brauchen, um bei der Welt draußen anzurufen und dann zu sagen: »Halloundsonstso? Najaokaytschau.«
Aber jetzt waren sie Schatz und Liebchen. Sie wohnten in sich selbst: Schatz in Liebchen und Liebchen in Schatz, und weil das so schön war, wohnten sie auch in sich selbst viel lieber: Schatz in Schatz und Liebchen in Liebchen. Sie putzten die Fenster, die vorher nur starrende Augen waren, und die Scheiben blitzten, funkelten und strahlten. Sie standen hinter den Fenstern und winkten sich zu mit selbst gebastelten Winkelementen aus rosa Velourpapier. Der ganze real existierende Kitsch der Liebe regnete auf sie herab und ließ die ranken und schlanken Klettertriebe der Gefühle der Menschen in der modernen Zeit der Schnelllebigkeit wachsen.
Ihre Münder sagten nicht mehr nur: »Halloundsonstso? Najaokaytschau.« Sie sagten sich ganze Schlagertexte, ohne sich zu schämen. Schatz sagte: »Ich schenke dir den Himmel über Marzahn«, und Liebchen erstrahlte einen Stern. Liebchen sagte, sie schenke Schatz dafür das Herz, das nur für Schatz gewachsen sei, und Schatz erstrahlte ebenfalls einen Stern. Es wurde hell im Zimmer. Schatz sagte: »Mit dir ist mir die Rechtschreibung egal, ich schreibe wunderbar groß«, und Liebchen erstrahlte ganze Sternbilder neu, das große Wagen, der kleine Muschibär und nie wieder Jungfrau. Schatz sagte in Liebchens Ohr, dass Liebchen die Sommerliebe bis ans Ende des Lebens wäre und ab jetzt sowieso immer Sommer. Liebchen erstrahlte eine ganze Milchstraße.
Die Spinnen in den Zimmerecken mussten kotzen von so viel Geseier. Sie erhängten sich freiwillig in ihren Netzen. Die Fliegen im Schlafzimmer konnten es nicht mehr ertragen und schlugen ihre Köpfe gegen die Fensterscheiben. Dann fanden sie einen Ausgang und flüchteten zu den Nachbarn Olle und Arschloch, die stumm monoton ihre Hände um den Hals des anderen legten, aber zu träge waren, dem Ganzen ein würdevolles Ende zu bereiten. Die Fliegen ließen sich in diesem Gestank nieder und warteten das dramatische Ende ab, welches für sie ein Festmahl werden würde.
Am schlimmsten von allen Insekten traf es aber die Mücken, die von Schatz’ und Liebchens Blut getrunken hatten. Einige der Liebesblut-vollgesoffenen Mücken taumelten hinaus in die Berliner Nacht, wo sie in wahnwitziger Selbstüberschätzung versuchten, türkische Gangs zu verprügeln, Autos zu stechen, Mülltonnen umzuschubsen und Banken auszurauben. Sie starben schnell und sehr glücklich.
Auch die Freunde von Schatz und Liebchen litten. Jeder dieser Freunde hatte vorher behauptet, er wolle nichts anderes für die beiden, als dass sie wieder glücklich seien. Jetzt, wo sie es waren, waren sie widerwärtig glücklich, ekelerregend. Drei Menschen starben beim Zukucken, wie Schatz und Liebchen sich anschielten, zwei Menschen wurden blind, vier Paare trennten sich, weil sie so nie werden wollten.
Schatz und Liebchen hatten, außer sich selbst, allen nur Kummer und Leid gebracht, aber davon nicht einmal etwas mitbekommen, weil sie Schwäne im Ohr hatten, Tauben, Rosen, Kerzen, Kondome.
Dann kam der schreckliche Tag, an dem Schatz und Liebchen sich für zwei Tage trennen mussten. Weh und Ach, Wei und Oh! Welch gemeiner Schachzug des Lebens riss die beiden, die doch weiße Königin und weißer König waren, so derb auseinander? Was für eine Grausamkeit des Lebens tat ihnen so etwas an? Die Tante von Liebchen war verstorben, sodass das Wochenende darauf die Beisetzung sein sollte. Am Wochenende! Wo Schatz und Liebchen zusammen so wichtige Dinge zu erledigen hatten: Leberflecken zählen und Geschichten erzählen z.B. Aber nein, die Tante starb, und Schatz und Liebchen mussten ihre Finger auseinanderflechten, obwohl ihr Gefühl ihnen sagte, dass ihre Finger auch seine Finger waren und seine Finger auch ihre und seine Hände ihre Hände und ihre Hände seine Hände – dass ihre Hände eben ihre Hände waren. Sie entwirrten ihre Arme, sie verringerten den Unterdruck ihrer angesaugten Münder, die so fest verbunden waren wie die Magdeburger Halbkugeln, die keine zehn Pferde auseinanderbekamen. Sie mussten sich Kleidung anziehen, Kleidung, die ihre Körper voneinander trennten, was sich so unnatürlich anfühlte, wie eine Mauer durch ein Land zu bauen.
Liebchen packte den Koffer, und Schatz schaute weinend zu. »Ich nehm dich einfach mit!«, sagte Liebchen und zerrte Schatz in den Koffer. Sie kopulierten mit klammernden Körpern den kakifarbenen Koffer kaputt. Und das sollte nun zwei Tage nicht möglich sein! Sie weinten New Orleans’ Straßen landunter.
Dann standen sie an der Tür, zwischen ihnen die Türschwelle. Sie wussten ihre Saugnapfaugen nicht zu lösen. Es schmerzte, etwas anderes anzusehen als ihre Augen, ihre Augen waren ihre Augen, seine ihre, und ihre seine, ihre ihre.
Liebchen wandte sich ab und floss die Stufen hinab, floss aus dem Haus, durch den Park, und tränenblind sah Liebchen Schatz auf dem Fahrrad. Er war ihr hinterhergefahren. Schatz sprang vom Rad, das Rad fiel um. Einen letzten Kuss! Einen letzten halbstündigen Kuss!
Dann schleppte sich Liebchen in die U-Bahn, und an jeder Station stand Schatz, pochenden Herzens vom Fahrradfahren, Fahrrad am Bahnhof anschließen, Rolltreppe herunterrennen, Liebchens Gesicht suchen. »Schatz!«, schrie Liebchen. Ein letzter Kuss, zersägt von der U-Bahntür. Lalülala, sang das Signal zum Türenschließen das traurige Lied.
Schatz stand auf dem Fernbahnhof mit Rosen. Ein letzter Kuss. Der Zug fuhr über X, X, X, X, X und X. In X stand weinend Schatz mit Rosen, und in X stand weinend Schatz mit Rosen, und in X stand weinend Schatz mit Rosen, und in X stand weinend Schatz mit Tulpen – Schatz war immer für eine Überraschung gut. Letzte Küsse. Mit sehr, sehr, sehr vielen Blumen stieg Liebchen am Zielbahnhof aus, wo Schatz mit noch mehr Blumen stand. Es war so schwer, Abschied zu nehmen. Schatz war schweißgebadet vom Radfahren, Liebchen tränenüberströmt vor Sehnsucht. Was hatte ihr Schatz gefehlt zwischen X und X!
Liebchen weinte die ganze Beerdigung durch, ließ alle Blumen von Schatz am Grab der Tante zurück, weil sie es nicht ertrug, durch die Blumen an Schatz erinnert zu werden, der so weit entfernt war. Schatz stand beim Leichenschmaus hinter der Restaurantscheibe und schaute Liebchen an. Liebchen bekam keinen Bissen herunter.
»Ich muss heute abreisen, ich ertrage es nicht«, beschloss Liebchen und eilte zum Bahnhof, wo Schatz mit Rosen stand und fragte, ob er sie in Berlin vom Bahnhof abholen solle.
»Oh bitte, je früher das alles aufhört, umso besser!«, hauchte Liebchen und stieg in den Zug, schaute aus dem Fenster, wie Schatz auf einem Feldweg radelte, als wäre der Teufel hinter ihm her.
In X fragte Schatz, ob er Liebchen mit Blumen abholen solle, als Überraschung.
»Ja!«, hauchte Liebchen. »Aber überrasch mich doch mal und bringe keine mit.«
In X stand Schatz mit Blumen auf dem Bahnhof.
»Nein!«, hauchte Liebchen. »Ich will nur dich. Keine Blumen mehr.«
Schatz stand in Berlin am Bahnhof und hatte als Entschuldigung, dass er Liebchen immerzu Blumen geschenkt hatte, Blumen dabei.
Nach der Trennung
1. Tag
Ich schneide mir die Pulsadern auf, und dann schlage ich im Erste-Hilfe-Buch nach, wie ein Druckverband geht, und dann mache ich das Bad sauber. Ich telefoniere mit einer Freundin, die sagt, ich solle froh sein, ihn loszuwerden, er wäre ein Muttersöhnchen. Ich finde das nicht. Er ist ja schon erwachsen. Er ist ein Muttersohn.
2. Tag
Ich habe mich getrennt. Von meinen Haaren. Ich denke über ihn, dass er mein Müll ist. Ich trenne ihn. Er ist aber auch mein Tee, ich lasse ihn ziehen. Er ist einfach ein Pups, ich lasse ihn fahren. Ich bin ich und lasse mich gehen. Ich schminke mich nicht mehr. Das heult sich sowieso ständig weg.
3. Tag
Ich will was unglaublich Dummes machen. Ich sehe fern. Wieder ein Tag weggelitten.
4. Tag
Ich schneide mir die Pulsadern auf und weiß ja inzwischen, wie ein Druckverband geht. Diesmal habe ich es in der Küche gemacht, weil ich die eh mal putzen musste. Nächstes Mal mache ich es in der Stube.
5. Tag
Mein Herz tut weh. Ich esse Bratwurst mit Auakraut. Ich spreche auf meinen AB, dass ich nicht ansprechbar bin und nicht zurückrufe, aber es ruft sowieso keiner an. Das finde ich schlimm. Ich gehe zu einer Telefonzelle und rufe mich an. Ich bin nicht zu Hause. Mein AB sagt, ich bin nicht ansprechbar. Ich lege deshalb auf. Zu Hause habe ich ein Tuten auf dem AB. Das macht mich irre. Wer hat mich nur angerufen? Hat er angerufen? Ich rufe ihn an und frage, ob er mich angerufen hat. Er sagt nein. Ich sage tschüss und lege auf. Ich bin mächtig stolz auf mich.
6. Tag
Ich mache mir vorher einen Druckverband und schneide mir dann erst die Pulsadern auf. Das find ich clever. Dann habe ich keinen Grund, meine Stube zu putzen, und darum mache ich es nicht.
7. Tag
Eine Woche schon. Andere Frauen mussten jahrelang auf ihre Männer warten, wenn die im Krieg waren. Aber die wurden wenigstens geliebt. Ich möchte lieber, dass mein Mann im Krieg ist und mir liebe Briefe schreibt. Ich ohrfeige mich für diese Gedanken, bis ich knallrote Wangen habe. Ich treffe mich mit einer Freundin, die sagt, ich sähe gut aus, weil ich nicht so blass bin wie sonst.
8. Tag
Meine Mutter sagt, er war sowieso nicht ihr Traumschwiegersohn. Ich weiß nicht, ob ich das wichtig finde. Ich habe wieder das dringende Bedürfnis, was Dummes zu machen. Ich schneide mir einen Arm ab. In der Stube. Als ich mir einen Druckverband machen will, merke ich, wie schwer das mit einer Hand ist. Fast wäre ich verblutet. Außerdem habe ich noch meine Tage. Die Stube putze ich mit links. Abends spiele ich einarmiger Bandit und klaue Rosen aus dem Stadtpark. An den Dornen pieke ich mich. So ist die Liebe, jaja.
9. Tag
Ich kann Smileys weinen. Wenn ich im Bett auf dem Bauch liege und heule, entstehen zwei nasse Flecken, und weil ich sabber, entsteht unter den runden Flecken noch ein länglicher Fleck. Der grinst mich an. Jetzt liege ich nicht mehr allein im Bett. Mein neuer Freund trocknet ständig weg, und ich muss ihn erneuern. Dazu denke ich mir Geschichten aus, warum ich traurig bin. Ich denke, dass ich wieder mit dem Mann zusammenkomme und er dann qualvoll stirbt. Davon muss ich nicht heulen. Davon bekomme ich richtig gute Laune.
10. Tag
Ich höre mit dem Rauchen auf und fange wieder an, höre wieder auf und fange wieder an. Dann schneide ich mir die Pulsadern auf, aber nur an dem abgetrennten Arm. Das tut nicht weh und blutet auch nicht.
11. Tag
Ich kann sein Profil aufs Kissen heulen. Na gut, ich habe vorher Zwiebeln geschnitten, weil ich gar nicht heulen musste, aber ich fand die Idee so toll. Dann habe ich es fotografiert und ihm geschickt. Dann habe ich ein brennendes Streichholz in den Briefkasten geworfen.
12. Tag
Ich schneide mir ein Bein ab, aber nur auf einem Foto. Da brauche ich keinen Druckverband machen. Ich hüpfe in der Stube herum, um es authentischer zu machen. Es ist aber autistisch. Nach einer Stunde habe ich keine Lust mehr. Nach Heulen ist mir auch nicht. Was mach ich bloß?
13. Tag
Kann wieder heulen. Kneife mich dafür in den Oberschenkel. Kann aus blauen Flecken sein Profil machen. Es ist gerade ein Straßenfest in der Nähe, und ich stelle mich mit einem Stand neben die Zuckerwatte und biete Kneiftattoos an. Ich kann Katzen und Käfer. Die Kinder verstehen mich. Sie weinen auch.
14. Tag
Ich gehe nur noch da essen, wo es ungesalzenes Bioessen gibt. Drauf geheult ist halb gewürzt. Außerdem mag ich nicht noch einmal den Spruch hören, dass der Koch verliebt ist, wenn das Essen zu salzig schmeckt.
15. Tag
Ich will was verbrennen von ihm. Da er mir keine Briefe geschrieben hat, angel ich die Briefe der Nachbarn aus den Briefkästen und verbrenne die. Dann gehe ich zur Post und lege da Feuer. Ich werde verhaftet, und endlich kann ich mich mal richtig ausquatschen. Die Polizisten hören mir stundenlang zu, sie schreiben sogar mit. Ich habe doch gewusst, dass das keine Null-achtfuffzehn-Trennung ist, sondern eine ganz besonders schlimme. Sie machen betretene Gesichter und finden, dass ich ganz schön verwirrt bin. Wieder zu Hause, fällt mir ein, dass er mir zehn Euro geborgt hat. Ich verbrenne einen Zehn-Euro-Schein. Da ich nicht weiß, ob es genau der Schein war, gehe ich zur Bank und hebe immer wieder zehn Euro ab, bis das Konto leer ist. Danach mache ich ein Feuerchen zu Hause.
16. Tag
Ich will Fotos von ihm bemalen, mit Schnurrbart und Zahnlücke. Er hat aber schon beides in echt. Richtig schön ist er ja nicht. Ich kaufe fleischfarbenes Tippex und übermale seinen Schnurrbart. Sieht auch nicht besser aus.
17. Tag
In meinem Horoskop steht, dass es mir gut geht. Okay!
Ich und Outdoor
Sobald ich meine Wohnung verlasse, bin ich theoretisch outdoor, aber so leicht ist das nicht, denn es ist ja nicht gleich jeder outdoor, der mal eben schnell zum Bäcker geht. Für outdoor braucht man Equipment.
Letzten Sommer plante ich eine längere Wanderung und stellte mir alles ganz schön vor. Mir war schon klar, dass einfach loslaufen nicht geht, aber wie sehr einfach loslaufen nicht geht, stand überall im Internet. Das ging nämlich gar nicht. Einfach loslaufen konnten nur noch Flüchtlinge, die über die Grenze wollten. Wer in seiner Freizeit loslaufen wollte, um an seine eigenen Grenzen zu kommen, der machte sich in den Augen der Profis ohne atmungsaktives Pipapo zum Hannes des Waldes. Allerdings stellte ich später fest, dass man sich in den Augen der normalen Landbevölkerung mit buntem atmungsaktiven Pipapo sowieso zum Hannes des Waldes macht. Es blieb mir also nur die Wahl, zu wessen Hannes des Waldes ich mich machte, zum Profi-Hannes-des-Waldes oder zum Amateur-Hannes-des-Waldes. Aber all das war mir noch nicht bewusst, als ich in der Vorbereitungsphase war.