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Originalausgabe
2. Auflage 2019
© 2018 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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D-80636 München
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Redaktion: Matthias Michel
Korrektorat: Hella Neukötter
Umschlaggestaltung: Laura Osswald, Isabella Dorsch
Umschlagabbildung: GettyImages/UniversalImagesGroup
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-95972-127-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-226-1
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-227-8
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Widmung 1
Widmung 2
Eine Lanze für den Liberalismus!
1. Kein Ende der Geschichte
2. Von der Stammesgesellschaft zur organisierten Gesellschaft
Von der Familie zum Stamm
Früher Ausbruch aus der Stammesordnung
Der Weg zum modernen Konstruktivismus
Scheitern der Zentralplanung im Sozialismus
3. Die liberale Gesellschaft und ihre Wirtschaftsordnung
Von der Erkenntnistheorie zur Gesellschaftstheorie
Die Gesellschaftsordnung der Freiheit
Die Rolle des Privateigentums
Liberale Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung
Die Rolle des gegenseitigen Vertrauens
4. Das gebrochene Verhältnis der Deutschen zum Liberalismus
Einigkeit vor Freiheit
Zuckerbrot und Peitsche
Aufstieg der Sozialdemokratie
Die Ära Erhard
Die Jugendrevolte
Gegen jede Regel der Gesellschaft
Von Marx zu Keynes
Wiederkehr liberaler Wirtschaftspolitik
5. Niedergang des Liberalismus durch den Dritten Weg
Geld als Instrument der Wirtschaftslenkung
Die Boom-Bust-Politik der Zentralbanken
Blasenökonomie und »Finanzialisierung«
Wider den »Neoliberalismus«
6. Der Traum vom behütenden Wohlfahrtsstaat
Wenn das Herz den Kopf regiert
Die allumfassende Vormundschaftsgewalt
Der ökologische Arm des behütenden Wohlfahrtsstaats
Das Luftschloss der sozialen Gerechtigkeit
Der behütende Wohlfahrtsstaat und die Demokratie
7. Aufstand der verlassenen Mündel
Schreckgespenst Globalisierung
Entkopplung von Freiheit und Verantwortung
Bedrohung durch Migration
Wütende Klienten und verlassene Mündel
Voller Angst und ohne Vertrauen
Der Fall Zentral- und Osteuropa
Der Fall Westeuropa und USA
Der Fall Südeuropa
8. Die Antwort aus China
9. Ein Programm zur liberalen Erneuerung
Stärkung von Eigentumsrechten
Rückkehr zu individueller Selbstbestimmung
Wiederherstellung von Vertrauen
Regierung unter dem Recht
10. Fazit
Literatur
Danksagung
Über den Autor
Für Dr. Heinz Mayer
»Den Sozialisten in allen Parteien«1
1 Widmung Friedrich von Hayeks in Der Weg zur Knechtschaft. Olzog (München) 2003.
»Wer mit 17 Jahren kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer mit 30 Jahren noch immer Sozialist ist, hat keinen Verstand«, sagte mir mein Vater, als ich 17 Jahre alt war. Natürlich fand ich das herabwürdigend. Zu dieser Zeit schwärmte ich für Rudi Dutschke, Fritz Teufel und Rainer Langhans. Am besten gefiel mir aber Uschi Obermaier.
Mein Vater war Mitglied der FDP, die damals mit der SPD regierte. Das fand ich grenzwertig. Obwohl er mit dem Autofahren immer ein wenig auf dem Kriegsfuß stand, nahm er regelmäßig eine Fahrt von über einer Stunde in Kauf, um nach Wernau am Neckar zu reisen. Dort trafen sich einige FDP-Mitglieder zu einem Gesprächskreis, an dem auch der stellvertretende FDP-Vorsitzende von Baden-Württemberg, Martin Bangemann, öfters teilnahm. Mein Vater stritt sich regelmäßig mit Herrn Bangemann. Er verstand sich als klassischer Württemberger Liberaler und konnte der »sozial-liberalen« Politik, die Herr Bangemann vertrat, nichts abgewinnen. Schließlich trat mein Vater aus der FDP aus. Das empfand ich nun nicht mehr nur grenzwertig, sondern als direkten Verrat an der sozialistischen Sache – und als Kampfansage.
Heute verstehe ich meinen Vater und bin auf seiner Seite. Je älter ich werde, desto mehr treibt mich die Sorge um, dass wir die Grundlagen zerstören, auf denen unsere freie Gesellschaft und unser Wohlstand errichtet wurden. Die Idee des Liberalismus, der wir Freiheit und Wohlstand verdanken, kommt unter die Räder. Sie wird von der politischen Linken und Rechten bekämpft und von der politischen Mitte weichgekocht. Dabei ist die Mitte der gefährlichste Gegner, nicht nur, weil sie zahlenmäßig am größten ist, sondern auch, weil sie sich um die liberale Idee einfach nicht schert. Mit Gegnern kann man diskutieren, bei Ignoranten läuft man ins Leere.
Mit Ludwig Erhard möchte ich rufen: »Kümmere du, Staat, dich nicht um meine Angelegenheiten, sondern gib mir so viel Freiheit und lass mir von dem Ertrag meiner Arbeit so viel, dass ich meine Existenz, mein Schicksal und dasjenige meiner Familie selbst zu gestalten in der Lage bin.«2 Doch zunehmend ist Erhards Ruf ein einsamer Ruf in der Wüste. Vielleicht ist es schon zu spät, aber ich versuche dennoch, in ihn einzustimmen. Das ist der Zweck dieser Schrift.
Thomas Mayer im April 2018
2 Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle. Econ Verlag (Düsseldorf) 1957, S. 251–252.
Nach dem Scheitern des »real existierenden Sozialismus« Ende der 1980er Jahre schien der Sieg der liberalen Wirtschaftsordnung und der sie begründenden liberalen Gesellschaftsordnung gesichert. Daher rief im Jahr 1989 der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte aus:
»What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of post-war history, but the end of history as such: that is, the end point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government.«3
Was auf den ersten Blick skurril erscheint – kann es denn ein Ende der Geschichte in der Zeit geben? –, war aus der Sicht eines Politikwissenschaftlers nach dem Fall der Sowjetunion durchaus konsequent. Sozialismus und Kommunismus waren im 19. Jahrhundert der Gegenentwurf zu Kapitalismus und liberaler Wirtschaft. Karl Marx hatte prophezeit, dass eine internationale Revolution das kapitalistische System beseitigen und dem Sozialismus den Weg bahnen würde. Daraus würde sich der Kommunismus entwickeln – das Ende der Geschichte.4
Marx’ Theorie wurde im größten Experiment der Geschichte getestet und mit schrecklichen Folgen für alle Teilnehmer an diesem Experiment widerlegt. Die liberale Wirtschaftsordnung siegte. Besiegelte dieser Ausgang also das Ende der Geschichte des Titanenkampfes der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme und Wirtschaftsordnungen? So schien es. 1989 war Marx erledigt. Oder etwa nicht?
Heute kann von einem Ende der Geschichte im Sinne Fukuyamas keine Rede mehr sein. Anderthalb Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebte die »freie Welt« ihre größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er Jahre. Kredite fielen aus, Banken wankten und zogen die Wirtschaft in die Rezession. Die Schuld schob man dem »Neoliberalismus« in die Schuhe. Die liberale Wirtschaftsordnung ist seither schwer angeschlagen. Hatte man nicht den Teufel (Kommunismus) mit dem Beelzebub (Liberalismus) ausgetrieben? Zwar schafften es die politischen und wirtschaftlichen Eliten nach der Großen Finanzkrise von 2007/2008 und der sich daran anschließenden Großen Rezession von 2008/2009 noch einmal, das Heft in der Hand zu behalten. Um nicht in die politische Wüste geschickt zu werden, versprachen sie ihren Wählern eine sanfte wirtschaftliche Landung, die Bestrafung der angeblich für die Finanzkrise verantwortlichen Banker und Spekulanten und eine strengere staatliche Hand zur Disziplinierung der angeblich unmenschlichen Marktkräfte. Barack Obama in den USA, Angela Merkel in Deutschland, François Hollande in Frankreich und David Cameron in Großbritannien schienen eine Zeit lang als die besten Garanten für die erfolgreiche Fortführung der Geschichte.
Doch die Landung der Wirtschaft war weniger sanft als von vielen erwartet. Die Banker und Spekulanten machten weiterhin Geschäfte und die angekündigte Disziplinierung führte nur zu einem undurchdringlichen und teilweise in sich widersprüchlichen Dickicht von Regulierungen. Schließlich entzauberte die Völkerwanderung von 2015 die politischen Schutzpatrone. Die von den staatlichen Eliten anscheinend nicht zu kontrollierende Zuwanderung aus ärmeren und von Kriegen gebeutelten Regionen in die komfortablen Sozialsysteme der westlichen Welt brachte das durch Globalisierung und Finanzkrise ohnehin randvolle Fass der Unzufriedenheit einer kritischen Masse in den Bevölkerungen zum Überlaufen. Die Briten stimmten für Brexit, die Amerikaner wählten Donald Trump, die Franzosen stärkten Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon den Rücken und die Italiener gaben 70 Prozent ihrer Wählerstimmen den Populisten Luigi Di Maio, Matteo Salvini und Silvio Berlusconi. Die Osteuropäer verfielen einem längst überwunden geglaubten Nationalismus und befehdeten die Europäische Union. In Deutschland stimmten rund 22 Prozent der Wähler bei der Bundestagswahl 2017 für rechts- oder linkspopulistische Parteien und Angela Merkel erlebt ihre Kanzlerdämmerung.
Die Protestwähler werfen dem Wohlfahrtsstaat, von dem sie Schutz erwarten, den Flirt mit der liberalen Wirtschaftsordnung vor. Dieser Flirt begann nach dem Scheitern des Sozialismus in den 1990er Jahren, als sozialdemokratische Politiker und ihre Berater einen »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus suchten. Dies konnte nicht gut gehen. Aber statt das Scheitern des Sozialismus zu akzeptieren und einzusehen, dass er auch mit Beimischung einiger liberaler Elemente nicht zu retten ist, sehen die enttäuschten Anhänger des Wohlfahrtsstaats nun den Liberalismus als ihren Feind.
Sie attackieren ihn von zwei Seiten her. Auf der politischen Linken wird die liberale Wirtschaftsordnung für die Finanzkrise, eine angeblich »ungerechte« Verteilung von Einkommen und Vermögen und den Raubbau an der »Umwelt« verantwortlich gemacht. Auf der politischen Rechten wird die liberale Wirtschaftsordnung als Bedrohung für nationale Identität und Wohlstand durch fremde Mächte gesehen. Gemäß der alten Regel, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist, schaffen die Angriffe gegen den Liberalismus gelegentlich bizarre Koalitionen zwischen der politischen Linken und Rechten.
Angesichts der enormen Leistungen der liberalen Wirtschaftsordnung wirken die gegen sie gerichteten Anfeindungen auf den ersten Blick befremdlich. Warum halten viele Menschen an Prinzipien der Gesellschaftsordnung fest, die auf beispiellose Weise historisch getestet und widerlegt wurden? Warum bekämpfen sie dagegen eine Ordnung, die ihnen ein Leben in Freiheit und Wohlstand ermöglicht? Dafür gibt es einen Grund: das emotionale Verlangen nach Geborgenheit und menschlicher Nähe, das die liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht befriedigen kann. Dieses Verlangen schuf nach dem Zusammenbruch des Sozialismus den Wohlfahrtsstaat, der die Menschen und die Natur behüten und lenken will. Doch der hat seine Mündel enttäuscht. Nun sinnen sie auf Rache.
Zweck dieser Streitschrift ist es, eine Lanze für den Liberalismus zu brechen. Manch einer wird da gleich abwinken. Oft höre ich, man habe genug von Diskussionen über die verschiedenen »Ismen«. Das seien doch Fragen von gestern, die längst nicht mehr gestellt zu werden brauchen. Leute, die so reden, loben dann im nächsten Satz meist den »Pragmatismus«. Was aber soll nun dieser »Ismus« sein? Kurz, man kommt um eine Ortsbestimmung nicht herum. Diese soll hier erfolgen, indem die Ordnung der Stammesgesellschaft und ihrer Nachfolger derjenigen der liberalen Gesellschaft entgegengestellt wird.
Den Prinzipien des Liberalismus verdanken wir, was wir erreicht haben und was wir sind. Doch die Prinzipien der liberalen Gesellschaftsordnung werden kaum noch verstanden. Dies gibt konstruktivistischen und opportunistischen Politikern, die an menschliche Instinkte statt an den Intellekt appellieren, die Gelegenheit, sie auszuhebeln oder mindestens zu verwässern. Die Erosion des Liberalismus ist keine folgenlose Episode in der Ideengeschichte. Sie kostet uns Freiheit und wirtschaftlichen Wohlstand. Wenn wir das nicht verstehen, werden wir alle verlieren.
Im anschließenden Kapitel beschreibe ich den Weg, auf dem wir von der Familie über die Stammesgesellschaft zur organisierten Gesellschaft gekommen sind. Dieser Weg erwies sich zwar als Holzweg, weil die Organisationsprinzipien der Familie und der Stammesgesellschaft sich nicht auf die große Gesellschaft übertragen lassen, in der die Beziehungen der Mitglieder untereinander anonym sind. Doch steckt in uns die Sehnsucht nach der Geborgenheit der Familie und des Stamms, so dass uns die organisierte Gesellschaft als Paradies auf Erden erscheinen kann. Das Herz siegt oft über den Verstand, auch wenn die Architekten der organisierten Gesellschaft meist die Hölle statt des Paradieses auf Erden schufen.
Das dritte Kapitel widmet sich der Antwort des Liberalismus auf das Problem, anonyme Beziehungen in der großen Gesellschaft zum Nutzen aller zu organisieren. Am Anfang steht die Überzeugung, dass der Mensch nicht anderer Menschen Untertan zu sein hat. Für die Entstehung der Überzeugung von der Freiheit des Menschen spielte sicherlich die christliche Lehre eine Rolle, nach der jeder Mensch das Geschöpf eines Gottes ist, der über dieser Welt angesiedelt ist. Daher kann kein Mensch beanspruchen, auf einer höheren Stufe des Seins als ein anderer Mensch zu stehen, und jeder Mensch ist frei, über seine Handlungen selbst zu entscheiden, ohne von einem anderen gezwungen zu werden. Damit dies für jeden Menschen möglich ist, muss jedoch die Freiheit des einen dort enden, wo die Freiheit des anderen beginnt. Über die Zeit hat die menschliche Gesellschaft sich Regeln geschaffen, welche die zur größtmöglichen Freiheit aller notwendigen Grenzen der Freiheit Einzelner ziehen. Dadurch, dass sie den Freiheitsraum des Einzelnen maximiert, hat die liberale Gesellschaft ihren Mitgliedern einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand gebracht.
Kapitel 4 befasst sich mit der Geschichte des Liberalismus in Deutschland. Zwar gehören deutsche Philosophen zu den Wegbereitern des Liberalismus, doch hatte es der Liberalismus schwer, in Deutschland Fuß zu fassen. Ein Grund waren die Geburtswehen bei der Schaffung des deutschen Nationalstaats, ein anderer Grund die frühe Entwicklung des Sozialstaats in Reaktion auf die Entwicklung der Sozialdemokratie. Trotz des Scheiterns der sozialistischen Staatsform auf deutschem Boden ist der Sozialstaat die bevorzugte Staatsform geblieben, weil er die Geborgenheit vermittelt, welche die eigenverantwortliche Gesellschaftsordnung des Liberalismus nicht liefern kann.
Kapitel 5 zeichnet den Niedergang des Liberalismus durch den »Dritten Weg« zwischen Sozialismus und Liberalismus nach. Auf den ersten Blick erscheint es bestechend, mikroökonomische Flexibilität mit makroökonomischer Stabilität zu verbinden und den Strukturwandel abzufedern. Und eigentlich sollte niemand etwas dagegen haben können, wenn die Steuerungsfunktion des Marktes nicht behindert, sondern ergänzt und verbessert wird. Leider ist dies aber zu schön, um wahr zu sein. Denn die Steuerungsfunktion des Marktes lässt sich durch politische Planung nicht ergänzen und verbessern, sondern nur aushebeln.
Kapitel 6 befasst sich mit dem Traum vom behütenden Wohlfahrtsstaat und seinen Ausprägungen in der Wirklichkeit. Der behütende Wohlfahrtsstaat will die Schöpfung erhalten und für soziale Gerechtigkeit sorgen. Dabei unterminiert er das wirtschaftliche Wachstum und pervertiert die liberale Demokratie, indem er Interessengruppen Tür und Tor für die Steuerung der Politik in ihrem Sinne öffnet. Beim Umweltschutz geht es längst nicht mehr um die Frage, welche Eingriffe in die Eigentumsrechte der Bürger auf der Grundlage unseres begrenzten Wissens über naturwissenschaftliche Zusammenhänge gerechtfertigt werden können, sondern um einen erbitterten Kampf zwischen »Umweltschützern« und »Umweltzerstörern«, der an die Religionskriege erinnert. Unter »sozialer Gerechtigkeit« wird nicht Hilfe für unverschuldet in Not geratene Mitbürger, sondern die Umgestaltung der Gesellschaft nach den Vorstellungen von selbst ernannten Sozialplanern verstanden.
Da der behütende Wohlfahrtsstaat nicht liefern kann, was er versprochen hat, werden seine Bewohner unzufrieden. Es kommt zum Aufstand der verlassenen Mündel, der in Kapitel 7 beschrieben wird. Der Zorn der Enttäuschten richtet sich gegen die Globalisierung, gegen die Nutznießer einer Marktwirtschaft ohne Verantwortung und Haftung und gegen die von den Eliten des Wohlfahrtsstaats zur Bestätigung ihrer moralischen Überlegenheit tolerierten Zuwanderung der Mühseligen und Beladenen dieser Welt. Die Folgen davon sind Ressentiments und der Verlust von Vertrauen der Gesellschaftsmitglieder untereinander und in die Eliten. Dies nagt an den politischen und wirtschaftlichen Grundlagen des Wohlstands in Europa und den USA.
Kapitel 8 nimmt die Reaktion in China auf die Krise des liberalen Westens unter die Lupe. Dort gewinnt zunehmend die Einschätzung an Gewicht, dass die westliche liberale Demokratie und mit ihr die liberale Wirtschaftsordnung auf dem Totenbett liegen. Die chinesische Führung ist dabei, ihre eigene Antwort darauf zu geben. Angesichts des von ihr diagnostizierten Niedergangs des Westens fällt diese dezidiert antiliberal aus. Sie will die Gesellschaft auf von ihr definierte strategische Ziele verpflichten und die dafür erforderliche gesellschaftliche Zusammenarbeit mit Hilfe neuer Technologien erzwingen. Über alldem wacht ein auf Lebenszeit ernannter »oberster Führer«.
In Kapitel 9 versuche ich, die Antwort auf die chinesische Herausforderung zu geben. Notwendig ist die Rückkehr zur klassisch-liberalen Ordnung. Die liberale Erneuerung sollte vier Leitlinien folgen: (1) der Stärkung von Eigentumsrechten, (2) der Stärkung von individueller Selbstbestimmung, (3) der Wiederherstellung von Vertrauen und (4) der Rückbesinnung auf die Regierung unter dem Recht. Dies wird jedoch kaum in einem großen Sprung möglich sein. Möglich sind aber viele kleine Schritte, im Sinne der »Stückwerk-Technik« Karl Poppers.
Kapitel 10 zieht ein vorläufiges Fazit aus den Überlegungen dieser Schrift. Der Westen hat zwei Möglichkeiten, auf die chinesische Herausforderung zu reagieren. Er kann erstens versuchen, das chinesische Modell nachzuahmen. Der Preis für diese Strategie wäre aber der endgültige Verzicht auf individuelle Freiheit in der liberalen Gesellschaftsordnung. Allenfalls bliebe dem Einzelnen noch begrenzte Freiheit bei wirtschaftlichen Handlungen, die allerdings in einem vom Staat gesetzten und streng kontrollierten Rahmen zu erfolgen hätten. Zweitens kann er sich auf seine liberalen Werte besinnen, die liberale Gesellschaftsordnung erneut stärken und weiterhin die Avantgarde einer Weltgeschichte sein, deren Ende nicht abzusehen ist.
3 Francis Fukuyama, »The End of History?«. The National Interest 1989 (16), S. 3–18.
4 Fukuyama und Marx haben zumindest eines gemeinsam: Sie folgen der Tradition des teleologischen Geschichtsbildes, das seit Jahrtausenden das Denken von Philosophen und Theologen bestimmt hat. Dagegen ist für Vertreter liberaler Philosophie der Verlauf der Geschichte offen.