Julia Ebner
Radikalisierungsmaschinen
Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren
Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann
Suhrkamp
Für meine Eltern
Im März 2016 fingen Drucker überall in den USA plötzlich an, Neonazi-Flyer auszudrucken. Bei den Bundestagswahlen im September 2017 verdankte sich der Kampagnenerfolg der AfD zu großen Teilen den Aktivitäten der Troll-Armee Reconquista Germanica. Ein Jahr später launchte die Hamas eine gefakte Dating-App und attackierte Hunderte Soldaten der israelischen Armee mit einer Schadsoftware, die sich hinter den gestohlenen Profilen junger Frauen verbarg. Das gesamte Jahr 2018 über bekam das Lager der Brexit-Hardliner massive Unterstützung vom internationalen verschwörungstheoretischen Netzwerk QAnon. Kurz vor Weihnachten 2018 stellten rechte Hacker die privaten Daten von Hunderten deutscher Politikerinnen und Politiker ins Netz. Im März 2019 ging der Live-Stream des antimuslimischen Terroranschlags in Neuseeland mit 1,5 Millionen geteilten Videos viral.
Neue Technologien haben Extremisten neue Plattformen zur Anwerbung sowie neue Handlungsfelder beschert. Sie haben gleichzeitig auch bewirkt, dass Extremisten heute stärker miteinander vernetzt sind als jemals zuvor. Nationalistische Bewegungen sind transnational geworden. Sie haben globale Armeen aus digitalen Soldaten aufgebaut. Man geht davon aus, dass die sozialen Medien in 90 Prozent aller Radikalisierungen eine virulente Rolle spielen und für einen signifikanten Anteil terroristischer Aktionen Unterstützung generieren.
Das Wechselspiel von Technologie und Gesellschaft ist schon seit langem ein zentraler Faktor bei radikalen Umbrüchen. 1936 schrieb Walter Benjamin, der Aufstieg des Faschismus sei von Erfindungen wie dem Siebdruck und der frühen Fotokopiertechnik befördert worden, weil diese die öffentliche Wahrnehmung von Medien, Kunst und Politik verändert hätten. Das Aufkommen technologisch progressiver, sozial jedoch regressiver Bewegungen war formgebend für die Machtdynamiken im Europa des 20. Jahrhunderts.
In diesem Buch stelle ich die These auf, dass wir momentan erneut Zeugen einer toxischen Paarung aus ideologischer Vergangenheitssehnsucht und technologischem Futurismus werden, die möglicherweise der Politik des 21. Jahrhunderts die Richtung weist. Die Radikalisierungsmaschinen, die die heutigen Extremisten zusammenbauen, sind technisch auf dem neuesten Stand: Sie sind künstlich intelligent, emotional manipulativ und wirken mit Macht in die Gesellschaften hinein. In ihnen verschränken sich Hightech und Hypersozialität, mit dem Ziel, Gegenkulturen hervorzubringen, die die Jungen, Wütenden und Technologieaffinen ansprechen. Sollten diese Maschinen Wirkung zeigen, könnten sie potenziell zu einer gefährlichen Triebkraft der Veränderung werden. Sie würden dann nicht nur die Erscheinungsformen von Extremismus und Terrorismus verändern, sondern auch unsere Informationssysteme und demokratischen Prozesse neu definieren und in der Folge unsere größten bürgerrechtlichen Errungenschaften rückgängig machen.
Als ich sieben war, wollte ich Tornados erforschen. Meine Standardantwort für alle Erwachsenen, die eine Erstklässlerin unbedingt fragen mussten, was sie denn später mal werden wolle, lautete: »Sturmjägerin!« Ich hatte den Film Twister im Kino gesehen und war fasziniert von der Geschwindigkeit, Gewalt und Unvorhersagbarkeit von Wirbelstürmen. Meine Twister-Helden kamen zu dem Schluss: Um einen Tornado vollständig begreifen und dann angemessene Warnsysteme entwickeln zu können, muss man sich in sein Zentrum begeben.
Heute verfolge ich beruflich keine Stürme, sondern Extremisten. Was in vielerlei Hinsicht gar kein so großer Unterschied ist. Genau wie Stürme bewegen sich auch Extremisten schnell, haben ein hohes zerstörerisches Potenzial und können ständig die Richtung wechseln. Bei meiner Arbeit im Londoner Institute for Strategic Dialogue (ISD) beobachte ich extreme Bewegungen in Europa und Nordamerika, berate Regierungen, Sicherheitsdienste und Tech-Unternehmen. Trotzdem bleiben meine Einblicke einseitig: Sie liefern mir nur die Katzenperspektive auf dieses Katz-und-Maus-Spiel zwischen denjenigen, die unsere Demokratien stören und ins Wanken bringen wollen, und denjenigen, die sie zu beschützen suchen. Im Laufe der letzten Jahre wurde mir klar: Um zu verstehen, was dieses ganze Chaos um uns herum anrichtet, muss man ins Innere vordringen, in die Maschinenräume, dorthin, wo die Motoren extremistischer Bewegungen laufen, wo sie aber eben auch beobachtet und erforscht werden können. Wie mobilisieren die extremen Ränder ihre Unterstützer, wie ziehen sie anfällige Individuen hinein in ihre Netzwerke? Welche Vorstellungen von der Zukunft haben sie und wie wollen sie diese umsetzen? Wie sieht die soziale Dynamik aus, die Mitglieder bei einer Gruppe bleiben lässt, und wie entwickelt sie sich weiter?
Um hierauf Antworten zu bekommen, war ich zwei Jahre undercover unterwegs: Ich habe mir fünf unterschiedliche Identitäten zugelegt und bin einem Dutzend technikaffiner extremistischer Gruppen einmal quer durchs ideologische Spektrum beigetreten – Dschihadisten, christlichen Fundamentalisten, weißen Nationalisten, Verschwörungstheoretikern, radikalen Frauenfeinden und Hackern. Bei der Arbeit war ich die Katze, in meiner Freizeit jedoch lief ich zu den Mäusen über. Meine Recherchen haben mich an einige sehr seltsame und manchmal auch gefährliche Orte gebracht, sowohl on- als auch offline. Ich habe beobachtet, wie Extremisten Terroranschläge planen, Desinformationskampagnen starten und Einschüchterungsfeldzüge koordinieren.
Die Masse von widerwärtigem Content, auf den ich im Laufe dieser Zeit gestoßen bin, war ernüchternd, die Zahl der daran beteiligten jungen Menschen bedrückend. Oberflächlich betrachtet haben die Gruppierungen, denen ich mich angeschlossen habe, nur wenig gemeinsam. Aber ihre interne Funktionsweise ist doch sehr ähnlich: Ihre Anführer generieren geschützte soziale Blasen, in denen sie zu antisozialem Verhalten im Rest der Welt aufrufen. Und ihre Mitglieder verbreiten rund um den Globus antiglobalistische Ideologien und nutzen hochmoderne Technik, um ihre antimodernen Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.
Dieses Buch beleuchtet unterschiedliche Aspekte des Lebens in extremistischen Gruppierungen. Die einzelnen Kapitel behandeln verschiedene Stadien im Radikalisierungsprozess: von der Rekrutierung und der Sozialisierung über die Kommunikation, Vernetzung und Mobilisierung bis hin zur geheimen Planung von Angriffen. Am Ende ziehe ich Bilanz und denke über Ausmaß und Art der an uns gestellten Herausforderung nach. Dabei stelle ich eine Reihe innovativer und mutiger Initiativen vor, die das Potenzial haben, für eine kommende Generation, die global etwas verändern will, Vorbild und Ideengeber zu sein.
Das Internet und die neuen Technologien haben die Rekrutierung von neuen Leuten deutlich einfacher gemacht, sowohl für Top-Arbeitgeber als auch für radikale Gruppierungen. Die Reichweite eines Gesuchs kann nach Belieben vergrößert werden, der Auftritt der eigenen Marke beständig an die Zielgruppe angepasst und die Sicherheitsüberprüfung möglicher Kandidatinnen und Kandidaten spielerisch gestaltet werden. Um labile, empfängliche junge Menschen in ihre Netze zu locken, nutzen Extremisten das gesamte technologische Spektrum: von aggressiven Anwerbekampagnen in den sozialen Medien bis hin zu intensiven Überprüfungsphasen mit verschlüsselten Apps. Spektakuläre Aktionen, die man in der realen Welt durchführt, streamt man live und lässt sie so auf Facebook und Twitter trenden, um auch über sein bereits angestammtes Publikum hinaus Aufmerksamkeit zu bekommen. Bestimmte Communitys im Netz versucht man entweder mit direkten Referenzen auf die aktuelle Jugendkultur oder mit Gamer-Wortschatz zu kriegen, und Neumitglieder fordert man auf, Ergebnisse von Gentests online zu stellen und sich auf Live-Voice-Interviews einzulassen. Das folgende Kapitel taucht ein ins Rekrutierungsprozedere einer US-amerikanischen Neonazigruppe und der rechtsextremen Identitären Bewegung in Europa.
»Wo bin ich denn hier gelandet?«, will Bryan wissen.
»In einer rechtsnationalen Diskussionsgruppe, die sich vor allem mit Rassefragen, Volkstum, Spiritualität, Philosophie, Ästhetik und Literatur beschäftigt«, antwortet ihm der Administrator. Er heißt Aldritch. Aldritch ϟ, um genau zu sein.
»Um Zugang zu erhalten zu den nur für Mitglieder offenen Kanälen, schick ein Foto von deiner Hand oder deinem Handgelenk, zusammen mit einem Stück Papier, auf dem steht: MAtR– dein Benutzername – Zeitstempel«, weist er alle Neulinge an.
»Dann beantworte folgenden Fragebogen:
Q1. Wie sieht deine Abstammungslinie aus (so vollständig, wie du sie kennst)?
Q2. Wie alt bist du?
Q3. Wie würdest du deine politische Haltung beschreiben?
Q4. Welche religiösen bzw. spirituellen Einstellungen hast du?
Q5. Bist du homosexuell oder anderweitig sexuell anormal?«
Kurze Zeit später erscheint ein Foto von Bryans Hand im Chatroom, begleitet von einer Entschuldigung für den knallblauen Widerschein von seinem Laptop.
»Kein Problem«, schreibt Aldritch ϟ. Bryans Hand ist weiß genug, um ihn in die Gruppe zu lassen. Bryan behauptet, finnischer Abstammung zu sein, mit ein paar europäischen und indianischen Einflüssen.
Er ist 17 Jahre alt und beschreibt sich als Nationalanarchisten und finnischen Neuheiden, einen so genannten Suomenusko. »Aber leider muss ich sagen, dass ich mal schwul war, was an meiner Degeneriertheit lag«, schreibt er. »Aber mehr als hin und wieder so ein Gedanke war es eigentlich nicht, und ich bin dabei, meinen Kopf von solchen Gedanken frei zu kriegen.«
Ein paar Tage später ist Bryan nicht mehr da. Statt seiner taucht Jason auf im Anwerbe-Hub des rechtsradikalen Online-Kanals.
»Ich stehe jetzt schon auf massenhaft Watchlists«, schreibt er, »und ich bin erst 14.«
»Aber weiß bist du schon? ;)«, fragt Aldritch ϟ, selbst Anglo-Bulgare mit deutschen, schottischen und kroatischen Wurzeln auf der mütterlichen Seite. Niemanden in der Gruppe scheint es zu stören, dass Jason noch minderjährig ist.
»2 % Nigger – und ab in die Mülltonne mit dem 23andMe-Test«, kommt Jasons Antwort prompt zurück. Der Junge stellt eine Kopie seines Gentests in die Gruppe, um sein Weiß-Sein zu belegen. »War nurn Scherz, ich bin zu drei Vierteln Deutscher und zu einem Viertel Este.«
Deus Vult, ein zweiter Administrator, betritt den Chatroom und schickt ihm darauf gleich ein Grinsegesicht-Emoji. »Wusstest du, dass Alfred Rosenberg, der Führer der NSDAP während Hitlers Zeit im Gefängnis, zu einem Viertel Este war?«
Mir läuft es bei dieser Unterhaltung kalt den Rücken hinunter, und ich trinke mein Glas Wein in einem Zug aus, um es etwas erträglicher zu machen.
»Hallo, bist du eine Frau?«, wendet sich Deus Vult via Direktnachricht an mich, als hätte er über den Bildschirm die Qual in meinem Gesicht gesehen.
Ich zögere. Tagelang habe ich mich bedeckt gehalten und bin nur so im Eingangsbereich der Neonazi-Chatgruppe herumgeschlichen.
Mein Username Jen Malo klingt aber auch verdächtig unschuldig. Als ich mich umsehe, entdecke ich kaum einen Namen ohne Bezug auf entweder die NS- oder die Alt-Right-Symbolik. Deus Vult, der Schlachtruf der Kreuzritter – lateinisch für »Gott will es« –, ist da eher noch von der harmloseren Sorte. In vielen Namen kommen die Buchstabenkombinationen ›WP‹ (für ›White Power‹) oder ›W. O. T. A. N.‹ (für ›Will of the Aryan Nation‹) vor. Andere beinhalten die Zahlen 4/20, die auf Hitlers Geburtstag verweisen, oder die ›14‹, die sich auf die ›Fourteen Words‹ bezieht (»We must secure the existence of our people and a future for White children«), oder auch gleich die ›88‹ als Bezugnahme auf die Initialen ›HH‹ (›Heil Hitler‹). Aldritch ϟ ist mit seiner Kombination aus SS-Rune und dem recht willkürlich wirkenden Ausdruck der Bewunderung für Aldrich Ames, einen Doppelagenten im Kalten Krieg, ein klarer Außenseiter.
»Ja, ich bin eine Frau«, antworte ich schließlich. Habe ich zu lang gewartet?
»Keine Sorge, wir nehmen auch Frauen«, schreibt Deus Vult. »Hast du ein paar Minuten für einen Voice-Chat?«
Dass es früher oder später dazu kommen würde, war mir klar, sinnlos also, das Ganze zu vertagen.
»Bereit?« Ich versuche, mir ein Gesicht hinter dieser Stimme vorzustellen. Ist er jung oder alt? Schwer zu sagen, es gibt heutzutage keine prototypischen Neonazis mehr.
»Klar.« So bereit man eben sein kann für ein Gespräch mit einem Nazi.
Meine Hände auf der Tastatur zittern, aber ich bemühe mich, meiner Stimme einen festen Klang zu geben. Die Buchstaben ›MAtR‹ stehen groß auf meinem Handgelenk. Sie sind die Abkürzung für Men Among the Ruins, dem einflussreichsten Buch des italienischen Philosophen Julius Evola. Evola, ein früher völkischer Vordenker eines spirituellen Rassismus, war Ideengeber für Benito Mussolinis faschistisches Regime. Er arbeitete auch für die SS, deren Führer Heinrich Himmler er bewunderte. Er wies es weit von sich, ein Faschist zu sein, und bevorzugte stattdessen die Bezeichnung ›Superfaschist‹. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb sein Entwurf einer gesellschaftlich-politischen Ordnung, die auf strengen Hierarchien, charakterlichen Eigenschaften, Rasse, Mythen, Religion und Ritualen beruht, für rechtsextreme Terroristen und Neofaschisten in Italien eine wichtige Inspirationsquelle. Heutzutage lassen sich Evolas Bücher gut an die Alt-Right-Bewegung verkaufen. Sogar Stephen Bannon, Präsident Trumps vormaliger politischer Berater, zitiert aus seinen Schriften. Laut Gianfranco De Turris, in Rom lebender Evola-Biograf und Vorstand der Evola-Stiftung, ist es »das erste Mal, dass ein Berater des amerikanischen Präsidenten Evola kennt oder vielleicht sogar eine traditionalistische Vorbildung hat.«
»Dein Sicherheitscheck ist erfolgreich abgeschlossen«, schreibt Deus Vult nach einem kurzen Voice-Chat, in dem ich ihm sage, was er hören will: »Ich bin Weiße, von der Nationalität her Österreicherin und habe ausschließlich europäische Vorfahren. Ich glaube, dass unser genetisches und kulturelles Erbe durch die Masseneinwanderung aus dem Ausland bedroht ist, und sorge mich um die Zukunft meiner Kinder, die in einem multikulturellen Europa aufwachsen müssen.« Warum ich Mitglied der Gruppe werden will? »Um ehrlich zu sein, weiß ich noch nicht so ganz, was mich erwartet, aber ich weiß sicher, dass ich Kontakt haben will mit Gleichgesinnten und dass ich erfahren möchte, wenn Aktionen geplant sind für die patriotische Revolution in den USA und in Europa.«
»Willkommen bei MAtR.«
Ich betrete den Hauptraum der Chatgruppe und sehe mich um. Dort treffe ich auch Jason wieder, der seinen Namen mittlerweile in ›General Jason‹ abgeändert hat. Der Titel will mir passend scheinen, ist doch der gesamte Kanal streng hierarchisch und nach militärischen Rängen organisiert. Der Server hat ein paar Dutzend Mitglieder von überall auf der Welt. Auf den ersten Blick sichte ich Leute, die sich als Amerikaner, Kanadier, Südafrikaner, Europäer und Australier zu erkennen geben. Da ist ein christlich aufgewachsener Kanadier Anfang 20, der behauptet, an »esoterischem Hitlerismus« interessiert zu sein, ein 16-Jähriger, der sich als »Nationalsozialist aus Litauen« bezeichnet und sich an die Traditionen der Romuva-Religion hält, sowie eine »komplett areligiöse, agnostische« 17-Jährige aus Neuseeland, die erst seit kurzem in den USA lebt. Die Unterhaltungen sind so unterschiedlich wie die an diesem Austausch Beteiligten. Mal geht es darum, ob Jesus Jude war oder nicht, dann wieder darum, ob Trump und Kim wohl miteinander klarkommen werden. Aber Genetik und Biologie scheinen bei allen Lieblingsthemen zu sein.
»Also, was weißt du über Gentests?«, wird Jason von einem gewissen Mr White gefragt.
Mr White ist 32 und seit seinem 15. Geburtstag »Teil der Bewegung«, wie er schreibt. Wenn Neonazis von ›der Bewegung‹ sprechen, meinen sie üblicherweise nationalsozialistische Netzwerke, was aber heutzutage alles sein kann von einer konkreten Gruppenmitgliedschaft bis hin zu einem losen Online-Zusammenschluss von Menschen, die sich noch nie getroffen haben und die im echten Leben vielleicht auch nie aufeinandertreffen werden.
»Um ehrlich zu sein: nicht viel. Aber ich möchte gern mehr darüber erfahren.«
»Verständlich«, antwortet Mr White. »Ich habe mich tiefergehend damit beschäftigt, weil es doch extrem schwierig geworden wäre, an meinen rassischen Überzeugungen festzuhalten, wenn meine Abstammung damit über Kreuz gelegen hätte. Aber auch ich habe im besten Fall nur ein oberflächliches Verständnis von Genetik«, räumt er ein.
Mr White ist nicht der einzige Verfechter der Überlegenheit der weißen Rasse, der über jedes einzelne Prozent seiner Abstammung Bescheid wissen will. Viele Rechtsextreme haben geradezu eine Besessenheit in Sachen Genetik entwickelt. Von den Dutzenden geschlossener Chatgruppen, die ich im Laufe der Jahre 2017 und 2018 beobachtet habe, verlangte mindestens die Hälfte von ihren Mitgliedern eine detaillierte Offenlegung ihrer genetischen Abstammung. Manche wollten als Teil des Bewerbungsverfahrens sogar die Ergebnisse eines Gentests sehen.
Vor diesem Hintergrund bin ich nicht überrascht zu lesen, dass 23andMe, Ancestry, MyHeritage und andere Gentestanbieter seit dem Sommer 2016 einen noch nie da gewesenen Anstieg ihrer Verkaufszahlen verzeichnen. 2017 ließen mehr Menschen ihre DNA analysieren als in sämtlichen Jahren zuvor zusammengenommen. Aber die Testergebnisse ihrer genetischen Abstammung passen bei Rechtsextremen und weißen Nationalisten nicht immer zu ihrem Reinheitsanspruch, was schwere Identitätskrisen bei ihnen auslösen kann. Wenn deine vorrangigen Sündenböcke Juden und Muslime sind und du Schwarze und Araber für biologisch minderwertig hältst, kann die Erkenntnis, dass du selbst zu einem Viertel jüdisch und zu einem Achtel Marokkaner bist, doch ein kleines Bisschen unangenehm sein.
Auch wenn neue Technologien Radikalisierungsdynamiken tendenziell verstärken, können sie im Fall von Gentests tatsächlich auch den gegenteiligen Effekt haben: Die kognitive Dissonanz, die sich auftut, wenn die monoethnischen Ideale einer imaginären Zukunft auf die multiethnische Realität der eigenen Vergangenheit treffen, kann eine tiefgreifende Einstellungs- und Verhaltensänderung bewirken.
Aaron Panofsky, Soziologe an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, und Joan Donovan vom Data & Society Research Institute haben in Foren der Neonazi-Plattform Stormfront Diskussionen rund um das Thema der genetischen Abstammung analysiert. Dabei haben sie herausgefunden, dass viele, die ein unerwünschtes Testergebnis bekommen, trotzdem versuchen, ihre politischen Ansichten mit ihrer multiethnischen Abstammung in Übereinstimmung zu bringen, und sich dabei einer verqueren Logik bedienen.
»Man würde denken, dass Mitglieder des Forums in einem solchen Fall sagen: ›Raus mit dir! Wir wollen dich hier nicht!‹«, schreibt Panofsky. »Stattdessen aber finden sie Mittel und Wege, die Mitglieder ihrer Community zu unterstützen und sie in der Gruppe zu halten.«
Manchmal führen jedoch Verdrängungsmechanismen auch zur Verstärkung der rassistischen Überzeugungen. Im schlimmsten Fall kann es zu einer Eskalation und immer absurderen Verschwörungstheorien kommen, die es den Betroffenen dann gestatten, die Gültigkeit ihrer Testergebnisse komplett in Frage zu stellen. Laut Mr White zum Beispiel werden die Gentests vom so genannten ›ZOG‹, dem ›Zionist Occupied Government‹, absichtlich verfälscht, auch das ein Teil des geheimen Plans zur Auslöschung der weißen Rasse. Er schreibt: »Um ehrlich zu sein: Seit dem Artikel letztens, darüber, dass 23andMe manipuliert wird, damit den Kunden in ihren Gutachten mehr aschkenasische und subsahara-afrikanische Anteile angezeigt werden, fällt es mir schwer, überhaupt noch in irgendetwas zu vertrauen.« Die Überzeugung, dass ihr Leben in jeglicher Hinsicht von den Juden, den ›globalen Eliten‹ oder den ›Kulturmarxisten‹ beherrscht wird, sitzt so tief, dass sich kaum etwas finden lässt, was für ihre Augen nicht manipuliert aussieht. Und auch die Gentest-Anbieter 23andMe und Ancestry sind von diesem umfassenden Misstrauen nicht ausgenommen.
Misstrauen ist eine der Konstanten, die Menschen in rechtsextreme Kanäle im Internet treibt. Dass sie dann dort bleiben, hat andere Gründe: Spaß, Freundschaft und Sinnstiftung. »Es war mir ein Vergnügen«, schreibt Mr White. »Ich bin regelrecht schockiert darüber, wie viele intelligente Menschen hier unterwegs sind. Ich bin's eher gewohnt, mit Babyboomern über die guten alten Zeiten zu quatschen.« Andere drücken ihre Zustimmung aus: »Lol. Ja, mir macht es hier in diesem Chatroom auch immer viel Spaß«, schreibt einer.
Worte wie ›Spaß‹ und ›Vergnügen‹ wollen in einen Chatroom, der mit »Juden ins Gas! Rassenkrieg jetzt!« aufmacht, nicht so recht hineinpassen. Aber die Allianz von Spaß und Hass ist – genau wie die Schnittmenge von menschlichem und unmenschlichem Verhalten – weder überraschend noch neu. Über hundert der von dem SS-Offizier Karl-Friedrich Höcker während der Nazizeit gesammelten Fotografien zeigen Angehörige des Personals von Konzentrationslagern, die sich auf dem Höhepunkt der Massenvernichtung durchaus gut amüsieren. Während im Sommer 1944 Hunderttausende ungarischer Juden gefoltert und ermordet werden, sieht man das SS-Personal von Ausschwitz 30 Kilometer südlich des Konzentrationslagers im Erholungsheim Solahütte beim Trinken, Singen und Feiern. Das Höcker-Album ist eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass sogar Menschen, die unvorstellbare Grausamkeiten begehen, in vielerlei Hinsicht menschlich bleiben: Man genießt gemeinsame Mahlzeiten mit der Familie, ausgelassene Trinkabende mit den Freunden und gelegentlich einen Flirt mit der Kollegin, auf die man ein Auge geworfen hat.
Der Spaßfaktor ist auch heute noch der Dreh- und Angelpunkt, wenn man vorhat, rechtsextreme Ideologien und Verschwörungstheorien gesellschaftlich hoffähig zu machen. Im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl 2016 haben Ironie und grenzüberschreitender Humor den Akteuren am äußeren rechten Rand stark dabei geholfen, für junge Leute attraktiv zu werden. Nachdem ich ein paar Wochen im MAtR-Chatroom verbracht, die nächtlichen Diskussionen verfolgt und bei Voice-Chats mitgehört habe, beginne ich zu begreifen, dass der Spaß am Tabubruch ein Mittel gegen Langeweile und virtuelles Zugehörigkeitsgefühl ein Gegengift gegen Einsamkeit sein kann. Die Mitglieder teilen hier ihre intimsten Erfahrungen, Ängste und Wünsche miteinander und entwickeln eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Symbolik und sogar Insiderwitze. Schritt für Schritt werden die namen- und gesichtslosen Fremden auf der Plattform zu einem Ersatz für Familie und Freunde.
Hat man das erst mal begriffen, versteht man vielleicht etwas besser, warum MAtR-Mitglieder sich an mehreren Tagen pro Woche in diese kleine Echokammer begeben. Wie aber kommt ein Online-Kanal wie dieser überhaupt zustande? Sagt da jemand: ›Hey, lasst uns doch mal einen Neonazi-Chat für Gamer aufmachen!‹? Wird diskutiert, ob man als Logo lieber das Hakenkreuz oder die Wolfsangel nimmt, gibt es eine Auseinandersetzung darüber, ob Neulinge mit dem Runenalphabet oder doch besser mit kryptischen Emojis begrüßt werden?
Fast. Den Server MAtR hat im Sommer 2017 jemand mit dem Alias ›Comrade Rhodes‹ aufgesetzt. Während seine Freunde draußen grillten und schwimmen gingen, saß er vor seinem Computer und dachte darüber nach, wie er seine nationalsozialistische Ideologie am besten ins Herz der Gesellschaft befördern könnte. »Okay, unser erstes Ziel ist es, hierfür ca. 300 Mitglieder zu gewinnen«, schrieb Aldritch ϟ am Tag 1 von MAtR.
»Aber wo kriegen wir die Leute her?«, wollte ein gewisser Comrade Rhodes wissen.
»Ich richte einen Check-Channel ein und bearbeite den, wenn ich am PC sitze. Gegen elf heute Abend fange ich an, Einladungen rauszuschicken.«
Die ersten Wochen waren für die Initiatoren ein leichtes Spiel. Niemand hatte sie auf dem Schirm, niemand beobachtete sie, weder Sicherheitskräfte noch Tech-Firmen schenkten den Kampagnen, die sie sowohl on- als auch offline anschoben, irgendwie Beachtung. MAtR war einfach einer von Dutzenden ähnlich gesinnter Kanäle auf der verschlüsselten Gaming-App Discord und einer von Hunderten im Internet. Aber mit dem 12. August 2017 veränderte sich die Atmosphäre, in der Aldritch ϟ und Comrade Rhodes ihrer Tätigkeit nachgehen konnten.
Nachdem in Charlottesville die Aufmärsche von Neonazis und weißen Nationalisten mit dem Tod der Bürgerrechtsaktivistin Heather Heyer zu Ende gegangen waren, fingen sowohl die offenen wie auch die verschlüsselten Messaging-Plattformen an, rechtsextreme Kanäle zu schließen. Die MAtR-Administratoren waren zwar nicht in die Planung der Aufmärsche involviert gewesen – ja, sie verurteilten die Organisatoren sogar für ihre unausgereifte Medienstrategie und ihr vorschnelles Bemühen um eine Einigung der Rechten. Für sie war Charlottesville ein laienhafter, egoman motivierter Versuch, maximale mediale Aufmerksamkeit zu generieren, ein Versuch, dem eine ordentlich durchdachte ideologisch-strategische Basis fehlte. Obwohl die MAtR-Administratoren also auf Abstand gingen zu den Organisationsteams von Charlottesville, wurden sie aus Angst vor Enttarnung doch immer paranoider. Wie andere Online-Gruppen auch fingen sie an, strengere Aufnahmehürden einzurichten, Hintergrundchecks ihrer Mitglieder durchzuführen und Codewörter zu entwickeln.
Viele Rechtsextreme verlegten sich auf die Taktik, ihre Chatgruppen als sichere Häfen für die freie Meinungsäußerung zu verkaufen, und behaupteten, Mitglieder jeglicher politischer Couleur seien herzlich willkommen. So wird die Verschwörungstheorie über die schleichende muslimische Machtübernahme in Europa als faktengestütztes Diskussionsexperiment präsentiert und ein Thread zum Thema ›Warum der Holocaust nicht stattgefunden hat‹ als Versuch, die Grenzen der Meinungsfreiheit auszutesten, geframt. Wer allerdings anderer Meinung ist, wird in den Online-Foren schnell zum Schweigen gebracht, der Lächerlichkeit preisgegeben und bezichtigt, »Teil des Zensur-Problems unseres Landes zu sein«.
Andere Gruppen verwenden humoristische oder satirische Illustrationen, um ihre extremistischen Standpunkte zu vertuschen. Ein Witz darüber, dass Juden hinter der globalen Finanzkrise stecken? Nur Satire. Ein herabwürdigendes Bild von einem homosexuellen Paar? Eine harmlose Grenzüberschreitung, die die »scheinheilige Linke« ein bisschen »triggern« soll. Dann heißt es gern mal: »Wer das nicht kapiert, ist entweder unterbelichtet oder politisch überkorrekt oder beides.«
Die Vision der Köpfe hinter MAtR ist die Errichtung eines weißen Ethnostaats, einer arischen Nation in Nordamerika, »was ja keine neue Idee ist«, wie Mr White betont. »Den Plan dafür gibt es schon seit den 90er Jahren.« Er teilt einen Link zur Ethnostaat-Verfassung:
Artikel IV. Wohn- und Bürgerrechte in der Northwest Republic sollen uneingeschränkt und für alle Zeit nur solchen Personen zustehen, die eine unvermischte kaukasische Abstammung haben, also historisch zu einer der Familien der europäischen Nationen gehören, die keine bekannten oder feststellbaren nichtweißen Vorfahren haben und keinerlei sichtbare nichtweiße Anteile in ihrem Erbgut.
Artikel V. Die gemeinhin als Juden bezeichnete Rasse ist kulturell und historisch gesehen ein asiatisches Volk und soll nicht als weiß gelten und vor dem Gesetz nicht den weißen Rassestatus zuerkannt bekommen. Unter keinen Umständen soll es einem Juden erlaubt werden, die Northwest American Republic zu betreten oder sich hier niederzulassen.
Harold Covington, der Mann, der diesen Verfassungsentwurf geschrieben hat, war Ideenlieferant für viele rechtsextreme Aktivisten. Er gründete die Northwest Front, eine »politische Organisation arischer Männer und Frauen, die erkannt haben, dass eine unabhängige und souveräne Weiße Nation im amerikanischen Nordwesten die einzige Möglichkeit für das Überleben der Weißen Rasse auf diesem Kontinent ist«. Sein Geld verdiente Covington mit dem Verkauf von Science-Fiction-Romanen und von T-Shirts mit aufgedruckten Kalaschnikows. Seine Northwest-Romane seien jedoch »keine reine Unterhaltung«, heißt es auf der Internetseite der Organisation. »Sie sind gedacht als selbsterfüllende Prophezeiungen.«
Prophezeiungen mit konkreten Konsequenzen allerdings. Der 21-jährige Dylann Roof zitierte die Northwest Front in seinem Manifest, bevor er am 17. Juni 2015 in einer Kirche in Charleston neun Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner erschoss. Roof hielt es allerdings für unzureichend, alle Nichtweißen nur aus dem Nordwesten Amerikas zu vertreiben, denn ihm gefiel die Vorstellung nicht, dorthin umzusiedeln: »Warum sollte etwa ich die Schönheit und Geschichte meines Bundesstaates aufgeben und in den Nordwesten gehen?«, schrieb er.
Mr White bekennt, Roofs Punkt nachempfinden zu können: »Während der vergangenen 70 Jahre hat die so genannte Elite ewig nur Probleme benannt, nie aber Lösungen präsentiert. Ein solches Vorgehen bringt eben Jungs wie Dylann Roof hervor. Sie hören immer nur von Problemen, für die es keine Lösungen gibt. Also finden sie selbst eine.« Wie Roof denkt auch er, dass die Idee der Northwest Front nicht weit genug gehe. Derartige ideologische Meinungsverschiedenheiten sind eher kosmetisch, denn letzten Endes sind sie sich alle darin einig, dass Rassismus »die reinste Form von Patriotismus« sei. »Das müssen die Leute erst mal begreifen«, schreibt ein Mitglied namens Pretentieux. Zum Gewehr greifen wie Roof würde er allerdings nicht: »Ich denke, es ist sehr viel wertvoller, den Versuch zu unternehmen, das Wissen unter die Leute zu bringen, sie sozusagen zu redpillen. Das allein ist schon eine Menge Arbeit und braucht viel Fingerspitzengefühl.«
Der Ausdruck ›Redpilling‹ – jemandem die rote Kapsel geben – bezieht sich auf den Film Matrix. »Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus«, sagt dort Morpheus zu dem Helden Neo. »Du wachst in deinem Bett auf und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland, und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus.« Neo entscheidet sich für die rote Kapsel und stellt fest, dass er in einer von Robotern mit künstlicher Intelligenz erschaffenen Computersimulation lebt, die darauf ausgelegt ist, die Menschheit zu versklaven und ihre Körper zur Energiegewinnung zu nutzen. Diese längst Kult gewordene Szene ist für die internationale Neue Rechte zu einer Quelle der Inspiration, Hoffnung und Selbstkasteiung geworden. Anwerber benutzen die Metapher des Films, um interessierte Sympathisanten davon zu überzeugen, dass sie gefangen sind in einer vom ›globalen Establishment‹ erschaffenen Scheinwelt. In ihrer Besessenheit, ›die Wahrheit ans Licht zu bringen‹, verbringen manche ihre Feierabende bis tief in die Nacht hinein damit, ›rote Kapseln‹ zu sammeln und in großen Datenbanken abzulegen. ›Redpills‹ wären zum Beispiel (verzerrte) Statistiken zu von Migration verübter Gewalt oder zum demografischen Wandel. Wenn man ›Redpilling‹, also das Sammeln und Weiterreichen vermeintlicher Wahrheitskapseln, als einen Euphemismus für Radikalisierung betrachtet, dann sind große Teile des Internets inzwischen zu Redpilling-Fabriken geworden. Die Überzeugung, dass der Holocaust nicht stattgefunden hat, ist im Übrigen die ultimative rote Kapsel für Rechtsextremisten. Der Film Matrix gehört zu einem großen Arsenal netzkultureller Referenzen – von japanischen Animes bis hin zu Popstar Taylor Swift –, die die Neue Rechte für ihre Zwecke benutzt und zur Waffe macht.
Pretentieux ist einer dieser Menschen, die in den 2000er Jahren Teenager waren und heute auch als ›Millennials‹ bezeichnet werden. Er ist jetzt 31 Jahre alt. Redpilling hat ihn nicht interessiert, bis vor fünf Jahren seine Nichte geboren wurde: »Meine Schwester sitzt im Gefängnis, und ich helfe meinen Eltern, sie großzuziehen. Ich habe also zwangsläufig angefangen, auf Dinge zu achten wie: Wie wird sie wohl später mal behandelt werden, mit wem oder was wird sie es zu tun bekommen, während sie aufwächst?« »Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen«, meint Mr White und fährt fort: »Bald fliegt alles in die Luft, so kurz davor standen wir noch nie.« Wie viele andere Mitglieder der Gruppe glaubt er, wir stünden kurz vor einem Rassenkrieg und dem Zusammenbruch des demokratischen Systems. »Erst seit ungefähr vier Jahren begegnen mir Leute unter 40, die bereits ethnisch wach sind.« Mr White ist zum ersten Mal auf dem Discord-Server unterwegs. Pretentieux bekennt, der Server sei für ihn »zu einer Sucht geworden«, und erklärt, hier finde man einfach so leicht »vernünftige, ehrliche Menschen« und könne sich mit ihnen unterhalten. Nach einer kurzen Pause gesteht er: »Ob ich selbst vernünftig bin, kann ich eigentlich gar nicht so genau sagen. Aber ehrlich, das bin ich … Eigentlich sogar ziemlich geraderaus.« Dann wendet er sich an Mr White: »Man muss nur ein bisschen suchen, dann findet man mit der Zeit doch eine ganze Menge Discord-Server mit Gleichgesinnten. Und jeder davon hat sein eigenes Flair.«
Genau davor hatte Kevin Thomson, Experte für Cyber-Sicherheit, zu Beginn der Massenkommerzialisierung des Internets gewarnt. In seiner 2001 durchgeführten Studie zu den Gesprächen auf der Neonazi-Plattform Stormfront kam er zu dem Schluss, dass die computermoderierte Kommunikation es sozial stigmatisierten, machtlosen Individuen ermögliche, alternative Handlungsorte auszubilden und so traditionelle nachbarschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen zu ersetzen. Dass der Cyberspace von Extremisten in Stellung gebracht werden kann, um andere zu radikalisieren sowie Kampagnen und Gewaltanwendung zu koordinieren, wurde schon in der Steinzeit des Internets klar, den späten 1990er Jahren: Bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 in Frankreich planten deutsche Neonazis und Hooligans über ihre Handys und unter Einsatz des Internets rassistisch und ideologisch motivierte Angriffe. Bei einem Match zwischen Deutschland und Jugoslawien im nordfranzösischen Lens wurden 96 Menschen verhaftet, Hitlergrüße beobachtet und ein Polizist schwer verletzt.
Aber die Rechtsextremen haben unterschiedliche Ansichten darüber, wie man das Internet am besten nutzt. Pretentieux spricht sich dafür aus, es vor allem einzusetzen, um Köpfe und Herzen der jungen Leute zu erreichen. Die Demokratisierung der publizistischen Mittel und die Verbreitungsmöglichkeiten von (Des)Information wertet er dafür als zentral. Die Northwest Front nennt die Veröffentlichung via Print-per-Order als Beispiel dafür, wie »die großen jüdischen Monopole in Kunst und Unterhaltung zerschlagen wurden«. User wie LifeOfWat hingegen sind überzeugt davon, dass es nicht ausreiche, einen Bogen zu machen um die etablierten Medien: »Der Krieg ist der einzige Weg. Freiheit durch das Schwert.«
Quer durch das ideologische Spektrum sind aber alle rechtsextremen Akteure vereint in dem festen Glauben, dass die neuen Technologien ausschlaggebend dafür sind, zu wachsen und das eigene politische Gewicht zu festigen. Ein MAtR-Mitglied resümiert: »Zuerst kommt das virtuelle Schlachtfeld.«
Die mittlerweile ganz Europa umfassende Bewegung, der ich mich im nächsten Kapitel anschließe, begrüßt den Einsatz von Gewalt nicht ganz so offen wie MAtR. Anders als US-amerikanische Extremisten tragen ihre Mitglieder auch keine Waffen, da schlichtweg der Zugang dazu fehlt. Aber wie geschickt sie die neuen Kommunikationstechnologien und die dadurch entstehenden sozialen Räume nutzen, hat dazu geführt, dass eine ganze Reihe nationaler Geheimdienste dieser Gruppierung oberste Beobachtungspriorität geben. Ihren Anwerbern ist es gelungen, für eine breite Öffentlichkeit junger, technikaffiner Menschen aus Europa interessant zu sein. Diese Gruppierung setzt neue Maßstäbe bei der Entwicklung subtilerer, innovativerer Formen von Branding und beim systematischen Ausbau der eigenen Reichweite.