Deutsche Erstausgabe

ISBN 9 783739 282466

© 2015 bei Jörg Olbrich

Cover: Chris Schlicht

Lektorat: Christine Rix

Druck: Books on demand GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wieder gegeben werden.

www.joerg-olbrich.de

Inhaltsverzeichnis

1

»Das war eine erstaunliche Leistung«, sagte Henni und klopfte Knut anerkennend auf die Schulter. »Wir sind dir wirklich sehr dankbar, dass du uns geholfen hast, den Fluss zu überqueren.«

»Genau genommen haben wir ihn unterquert«, berichtigte Hörg seinen Bruder und fing sich dafür einen säuerlichen Blick ein.

»Ich habe das gerne gemacht«, sagte der Maulwurf bescheiden. »Außerdem wollte ich selbst auf die andere Seite des Flusses.«

»Ich hoffe, dass du es jetzt schaffst, deine Familie wiederzufinden.«

»Ich auch Henni«, antwortete Knut. »Auch ich muss euch danken. Wenn ich euch nicht getroffen hätte, wäre ich wohl nie aus meinem Loch herausgekommen. Euer Zuspruch hat mich wachgerüttelt.«

»Manchmal braucht es eben einen kleinen Anstoß«, sagte Hörg und reichte dem Maulwurf zum Abschied die Pfote. »Ich wünsche dir für die Zukunft alles Gute.«

»Danke. Ich euch auch.«

Henni und Hörg hatten den Maulwurf auf ihrem Weg in die Stadt Alpha kennengelernt, als sie sich auf der Flucht vor einer Schneeeule in Knuts Bau gerettet hatten. Ohne ihn wäre es für die Brüder deutlich schwieriger geworden, einen Weg auf die andere Seite des Flusses zu finden, der den nördlichen Teil des Lemmingreiches von den anderen Städten trennte.

»Ich hoffe, dass er seine Familie auch wirklich findet«, sagte Henni, nachdem der Maulwurf sich wieder in den Boden eingegraben hatte.

»Es wäre ihm zu wünschen« stimmte Hörg zu. »Lasst uns gehen. Der Weg bis zur Stadt ist noch weit.«

Die königlichen Berater, Henni und Hörg, waren in den Norden gezogen, um auch in Delta von den neuen Lehren ihres Volkes zu berichten. Kein Lemming sollte sich mehr nach Vollendung des 15. Lebensmonats in den Tod stürzen müssen. Nachdem ihr Freund Hilmer in der Hauptstadt Omega zum neuen König gekrönt worden war, hatten sie diese Nachricht bereits in die Städte Alpha, Beta und Gamma gebracht. Jetzt waren sie auf dem Weg zum letzten Ziel ihrer Mission.

»Irgendwie hatte ich mir den Norden anders vorgestellt«, sagte Norbert.

Der Lemming aus Alpha hatte sich den Brüdern als Helfer regelrecht aufgedrängt und ihnen schon einigen Ärger bereitet. Bisher war es den Missionaren nicht gelungen, ihn wieder loszuwerden. Aber der Norden war groß und beide waren sich sicher, dass sich noch eine Gelegenheit finden würde, sich von Norbert zu trennen.

»Wir sind gerade einmal fünf Minuten gelaufen und können immer noch zur anderen Flussseite schauen«, erwiderte Henni. »Was hast du erwartet?«

»Ich meine ja nur …«

»Pass lieber auf, dass du nicht von den gemeinen Norddämonen gefressen wirst.« Hörg sah Norbert ernst an und musste sich das Lachen verkneifen, als sich dessen Gesichtszüge vor Angst verzerrten.

»Ich habe Geschichten aus diesem Teil unseres Reiches gehört, die einem das Fell vom Körper abstehen lassen«, berichtete Henni. »Hoffentlich bereust du deine Entscheidung, uns hierher zu folgen nicht.«

»Ihr wollt mir ja nur Angst machen.«

»Nichts läge uns ferner.« Hörg wechselte einen kurzen Blick mit seinem Bruder, konnte sich dann nicht mehr beherrschen und prustete los.

Die königlichen Berater lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Norbert sah die beiden beleidigt an und verbrachte die nächste Stunde schmollend.

Die Reisenden entfernten sich nun immer weiter vom Fluss. In der Ferne sahen sie zwei Berge, die nebeneinander in die Höhe ragten. Wie sie aus den alten Schriften wussten, lag dort Delta. Sie hofften, dass sie die Stadt noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen würden.

Zu ihrem Ärger schätzten die königlichen Berater die Entfernung zum Gebirge aber völlig falsch ein. Als es begann, dunkel zu werden, hatten sie gerade einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt. So blieb den Lemmingen nichts anderes übrig, als im Schutz eines Wäldchens die Nacht zu verbringen.

2

Am nächsten Morgen taten den drei Lemmingen alle Knochen weh. Sie waren es nicht mehr gewohnt, im Freien zu schlafen. Dementsprechend schlecht gelaunt machten sie sich wieder auf den Weg nach Delta.

Norbert war intelligent genug, die beiden königlichen Berater nicht weiter zu reizen. Er ging schweigend hinter den Brüdern her.

Nach etwa zwei Stunden legten die Wanderer eine Rast ein. Plötzlich sahen sie, wie dort, wo sie die Stadt vermuteten, an vier verschiedenen Stellen Rauchschwaden in den Himmel stiegen.

»Was ist denn dort los?«, fragte Norbert neugierig.

»Es brennt«, gab Henni mürrisch zurück.

»Das sehe ich auch. Aber warum?«

»Woher sollen wir das wissen? Wir sind genauso weit von Delta entfernt wie du.« Hennis Laune war in den letzten Stunden nicht besser geworden. Seitdem sie auf ihr Daxi verzichten mussten, war die Reise deutlich anstrengender geworden.

»Interessiert es euch denn gar nicht, was da los ist?«

»Doch, Norbert«, antwortete Hörg. »Aber wir werden es erfahren, wenn wir dort sind.« Tatsächlich war er durch den Rauch wesentlich beunruhigter, als er ihrem Helfer gegenüber zugeben wollte, und er vermutete, dass es seinem Bruder genauso ging.

Besorgniserregend war vor allem, dass es an verschiedenen Stellen gleichzeitig brannte. Das konnte unmöglich ein Zufall sein.

»Lasst uns weitergehen«, schlug Hörg vor und stand auf. »Weit ist es ja nicht mehr.«

Hennis Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er lieber noch eine Weile ausgeruht hätte. Dennoch folgte er dem Vorschlag seines Bruders wortlos.

Norbert lief auf dem weiteren Weg ein Stück vor den königlichen Beratern. Es fiel ihm offensichtlich schwer, seine Neugierde im Zaum zu halten.

Hörg wollte aber auf keinen Fall völlig erschöpft in Delta ankommen und beschleunigte das Tempo daher nicht.

Als die ersten Ausläufer der Stadt zu sehen waren, traten den Reisenden plötzlich zwei Lemminge in Rüstungen entgegen.

»Wohin des Weges?«, fragte einer der beiden.

»Wir sind königliche Gesandte aus der Hauptstadt unterwegs zum Regenten in Delta«, gab Hörg zurück.

»Gebt den Weg frei!«

»Das werden wir nicht. Es ist Fremden in diesen schwierigen Zeiten nicht gestattet, unsere Stadt zu betreten. Kehrt um und geht dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid.«

»Du hast mir wohl nicht richtig zugehört. Ich habe gesagt, dass wir auf Wunsch unseres Königs hier sind.

Bringt uns sofort zu eurem Regenten!«

»Nein.«

Für einen Moment glaubte Hörg, sich verhört zu haben. Dann schüttelte er ärgerlich den Kopf.

Offensichtlich waren diese Soldaten schwer von Begriff. »Ich weiß nicht, was ihr beiden Spaßvögel hier treibt. Wenn ihr euch aber weiterhin weigert, meinem Wunsch nachzukommen, werdet ihr dieses Verhalten noch bitter bereuen. Wer seid ihr überhaupt?«

»Wir sind Soldaten der Leibgarde des Königs«, sagte der Sprecher der beiden und stemmte die Pfoten in die Hüften.

»Was soll dieser Unsinn?«, brauste nun Henni auf.

»Hilmer ist König über das Reich der Lemminge. Das schließt dieses Gebiet mit ein.«

»Das war vielleicht einmal so. Jetzt hat Konan hier das Sagen. Wir nennen ihn ‚den König des Nordens‛.«

»Euch scheint die raue Luft hier oben nicht zu bekommen«, regte sich Hörg auf. »Hilmer wird nie einen zweiten Regenten neben sich akzeptieren.«

»Was will er dagegen tun?«

»Das werden wir mit diesem Konan besprechen.«

Hörg sah ein, dass es wenig Sinn machte, weiter mit den beiden Soldaten zu diskutieren. Mit den Pfoten gab er seinem Bruder ein Zeichen.

Als dieser nickte, stürmten die königlichen Berater zugleich auf die beiden Soldaten zu und stießen sie einfach um, bevor sie zu einer Gegenreaktion fähig waren.

»Komm, Norbert«, schrie Henni und die drei Lemminge stürmten an ihren Artgenossen vorbei, die hilflos auf dem Boden lagen und verzweifelt versuchten, wieder auf die Pfoten zu kommen.

Hörg hatte darauf gesetzt, dass die Soldaten durch ihre Rüstungen so stark behindert wurden, dass sie ihnen nicht folgen konnten, und behielt recht. Nach etwa hundert Metern blieb er stehen und drehte sich um. Er lachte kurz, als er sah, wie die beiden versuchten, sich gegenseitig beim Aufstehen zu helfen. Dann lief er weiter.

»Unsere Artgenossen im Norden scheinen noch verrückter zu sein, als ich vermutet habe«, sagte Henni, nachdem sie das Tempo wieder verringert hatten.

»Das fürchte ich auch«, stimmte Hörg zu. »Ich denke, wir werden hier noch einiges zu tun bekommen.«

»Helmut hat dieses Gebiet völlig vernachlässigt. Kein Wunder, dass die hier machen, was sie wollen und einen eigenen König krönen.«

»Das werden wir denen schon austreiben. Zur Not bitten wir Hilmer, uns die Ratten zu schicken.«

»Schau dir die Rauchsäulen an«, sagte Henni. »Wie es aussieht, befinden sich unsere Brüder bereits im Krieg.«

»Fragt sich nur, gegen wen.«

»Auch das werden wir herausfinden.«

»Wollt ihr euch wirklich mit einer ganzen Stadt anlegen?«, fragte Norbert ängstlich.

»Noch kannst du umkehren«, antwortete Hörg. »Wir halten dich nicht auf.«

»Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich meinen, dass ihr mich loswerden wollt.«

»Aber Norbert, wie kommst du denn darauf?«

»Hörg hat recht, wir könnten nie auf dich verzichten.«

»Es klingt komisch, wie du das sagst.«

Henni und Hörg gingen nicht weiter auf Norberts Kommentar ein und konzentrierten sich stattdessen auf das Stadttor, dem sie sich langsam näherten. Sie hatten Delta fast erreicht. Von ihren Verfolgern war weit und breit nichts zu sehen.

»Halt!«, befahl einer der beiden Wächter, als sie schließlich am Tor ankamen. »Wer seid ihr und was wollt ihr hier?«

»Wir sind den weiten Weg aus Omega angereist, um dem König des Nordens unsere Aufwartung zu machen«, antwortete Henni.

»Wir haben strikte Anweisung, niemanden in die Stadt zu lassen.«

»Das haben uns eure Kameraden auch schon gesagt.

Wir konnten sie aber davon überzeugen, dass wir in guter Absicht kommen und sie haben uns weitergeschickt.«

»Wenn das so ist, dann dürft ihr passieren. Wir leben in gefährlichen Zeiten. In der Stadt seid ihr sicher.«

»Wollt ihr Konan jetzt doch als König anerkennen?«, fragte Norbert, als sie das Tor durchschritten hatten.

»Nein. Das hat mein Bruder nur gesagt, damit die Wachen uns durchlassen.«

»Das war ein cleverer Schachzug.«

»Ja, Norbert. Das war es.« Hörg rollte genervt die Augen. Auch wenn ihr Helfer durchaus seine guten Seiten hatte, war es manchmal sehr anstrengend mit ihm. »Jetzt werden wir uns erst einmal diesen Konan ansehen. Sei du einfach still und überlass das Reden Henni und mir.«

3

Den Palast hatten die drei Lemminge schnell gefunden. Er lag in der Stadtmitte und sie erreichten ihn über einen großen Marktplatz, auf dem allerdings wenig los war. Von den Bränden sahen sie nichts. Die Rauchsäulen schienen außerhalb der Stadtmauer aufzusteigen. Hörg kam die Ruhe in Delta trügerisch vor. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

An der Eingangstür zum Palast stand nur ein Wächter.

Auch er trug die unbequeme Rüstung, die sie schon bei den anderen Soldaten gesehen hatten.

»Ihr könnt hier nicht einfach hereinmarschieren.«

»Doch das können wir«, sagte Hörg und gab dem Wächter einen Stoß. Der fiel rücklings um und rollte die vier Treppenstufen vor dem Palast hinunter. Damit war der Weg frei.

Ohne weiter aufgehalten zu werden, gelangten die drei Lemminge in den Audienzsaal des Möchtegernkönigs.

Konan, der durch die Krone auf seinem Kopf unschwer zu erkennen war, saß mit fünf seiner Gefolgsleute an einer Tafel. Als die drei den Raum betraten, sprangen alle von ihren Stühlen auf.

»Wer hat euch erlaubt, hier einzudringen?«

»Wir brauchen keine Erlaubnis, Konan«, gab Henni zurück.

»Es heißt ‚Euer Gnaden‛«, blaffte einer der Gefolgsleute. »Kniet nieder und erweist dem König den nötigen Respekt.«

»Das werden wir nicht tun«, erklärte Hörg bestimmt.

»Ich weiß nicht, was das alberne Theater hier soll, aber wir sind aus Omega und Mitglieder des neuen Rates. Offensichtlich wurde es Zeit, dass wir hier einmal nach dem Rechten sehen.«

»Ihr habt hier gar nichts zu melden«, sagte Konan.

»Der Norden hat sich vom restlichen Reich der Lemminge abgekoppelt. Wir brauchen euren Helmut nicht mehr.«

»Helmut ist tot.« Hörg flüsterte die nächsten Worte zu seinem Bruder, sodass nur er sie hören konnte. »Die scheinen hier noch verrückter zu sein, als wir angenommen haben.«

»Dann ist er nicht mehr König?«

»Das hast du gut erkannt«, bestätigte Henni. »Unser Reich wird jetzt von Hilmer regiert, der vom Rat der vier Weisen unterstützt wird. Die Lehren des furchtlosen Wonibalt sind außer Kraft gesetzt und kein Lemming muss sich mehr nach dem 15. Lebensmonat selbst töten.«

»Und den Unsinn sollen wir euch glauben?« Konan sah die beiden Missionare irritiert an. Dann begann er laut zu lachen und sprach zu seinem Beraterstab.

»Ergreift diese Lügner und werft sie in den Kerker!«

»Das würde ich nicht tun«, sagte Hörg laut.

Tatsächlich hielten die Nordlemminge in ihrer Bewegung inne.

»Und warum nicht?«

»Wenn der rechtmäßige König nicht innerhalb der nächsten drei Tage eine Nachricht von uns bekommt, wird er sein Heer in Bewegung setzen. Wenn die Ratten über Delta herfallen, wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Das kann ich euch versprechen.«

»Ratten?«

»Ja, Konan«, bestätigte Henni die Worte seines Bruders. »Wie Hörg bereits ausführte, hat sich in Omega einiges geändert, seitdem Helmut als Lügner entlarvt wurde. Wir haben ein Bündnis mit unseren Freunden im Schicksalsberg geschlossen.«

In knappen Worten berichtete Hörg dann, was sich in Omega zugetragen hatte, nachdem sich Hilmer als Erster geweigert hatte, vom Schicksalsberg in den Tod zu springen. Die Mienen von Konan und seinen Untertanen wechselten zwischen Schrecken und Erstaunen. Keiner wagte es aber, die Rede des Missionars aus dem Süden zu unterbrechen.

Als Hörg seinen Bericht beendet hatte, schaute der selbsternannte König des Nordens zwischen ihm und seinen Beratern hin und her. Schließlich nickte er.

»Ihr könnt nicht erwarten, dass wir euch ohne Weiteres glauben und unser Reich mit Freuden in eure Hände legen. Verlasst den Raum und wartet vor der Tür. Ich muss mich mit meinen Heerführern beraten. Wir lassen euch rufen, wenn wir zu einer Entscheidung gekommen sind.«

»Einverstanden«, stimmte Hörg zu. »Eine Frage habe ich aber noch. Was ist hier los? Mit wem befindet ihr euch im Krieg?«

»Das geht euch nichts an.«

»Da bin ich anderer Meinung. Aber das können wir später klären.«

Gemeinsam mit Norbert verließen Henni und Hörg den Raum. Die drei Lemminge waren davon überzeugt, dass Konan letztlich einlenken würde. Ihm blieb im Grunde nichts anderes übrig. Delta war zu klein, um Krieg an zwei Fronten zu führen.

4

»Ich denke, Konan hat größere Probleme, als er uns gegenüber zugeben wollte«, sagte Hörg, sobald er mit Henni und Norbert allein war.

»Wie meinst du das?«, wollte sein Bruder wissen.

»Ist dir nicht aufgefallen, wie leer die Straßen der Stadt waren? Gegen wen auch immer die Lemminge hier Krieg führen, sie scheinen nicht gerade siegreich zu sein.«

»Das könnte stimmen. Vielleicht müssen wir die Ratten herholen, um Delta zu helfen.«

»Das ist möglich.«

»Es hat mich gewundert, wie Konan und seine Männer auf die Aufhebung der Massenselbstmorde reagiert haben«, sagte Henni.

»Es schien sie nicht sonderlich zu interessieren.«

»Eben. Wenn ich an die Heulerei in den anderen Städten denke, wundert mich das schon.«

Hörg sah die Sache ähnlich wie sein Bruder. Keiner der beiden hätte vorher sagen können, was sie sich von ihrer Reise in den Norden erwarteten. Dafür waren in den letzten Monaten und Jahren einfach zu wenige Nachrichten nach Omega durchgedrungen. Die jetzige Situation übertraf allerdings ihre kühnsten Vermutungen.

»Was dauert da nur so lange?«, fragte Norbert nach einer Weile.

»Das wüsste ich auch gerne«, sagte Henni. »Wenn sich in zehn Minuten nichts getan hat, gehen wir einfach rein.«

Die drei Lemminge konnten nicht ein Wort von dem verstehen, was im Audienzsaal gesprochen wurde.

Entweder redeten die Männchen dort sehr leise oder die Türen im Palast waren so dick, dass sie jeden Laut schluckten.

Hörg wurde immer unruhiger. Auch Henni und Norbert traten ungeduldig von einer Pfote auf die andere. Das Verhalten von Konan und seinen Beratern war nicht nur ungewöhnlich, sondern auch äußerst unhöflich.

Endlich wurde die Tür zum Audienzsaal geöffnet und man bat die Reisenden einzutreten. Dieses Mal bot man ihnen sogar einen Platz zum Sitzen und einen Becher Wein an.

Nachdem sich alle gesetzt hatten, übernahm Konan das Wort.

»Ich gebe zu, dass uns euer Besuch sehr überrascht hat. Seit vielen Generationen kümmern sich die Lemminge auf der anderen Seite des Flusses nicht mehr darum, was im Norden passiert. Wir waren lange auf uns allein gestellt und sind es nicht gewohnt, bevormundet zu werden.«

»Es geht nicht darum, euch zu bevormunden«, warf Henni ein, wurde aber durch eine unwirsche Handbewegung des vermeintlichen Königs wieder zum Schweigen gebracht.

»Ich habe mich lange mit meinen Vertrauten beraten.

Wir haben beschlossen, uns dem neuen König zu unterwerfen, wenn er dafür unser Volk unterstützt.

Allein die Tatsache, dass ihr nun hier seid, zeigt, dass ihm der Norden nicht so egal ist wie seinen Vorgängern.«

Hörg atmete erleichtert auf. Er hatte schon befürchtet, dass sie das neue Recht mit Gewalt nach Delta bringen müssten. Wenn Konan aber jetzt dazu bereit war, auf seine unrechtmäßige Krone zu verzichten, waren sie einen großen Schritt weiter.

»Es freut uns zu hören, dass du offensichtlich zu Recht als Regent der Stadt tätig bist. Diesen Titel werden dir weder Hilmer noch wir aberkennen. Wenn du ihm die Treue schwörst, kannst du dir des Schutzes durch unseren König gewiss sein.«

»Darf ich meine Krone behalten?«

»Nein.« Henni schüttelte entschieden den Kopf.

»Zumindest darfst du sie nicht mehr tragen. Ich fürchte, dass dies Hilmer nicht gefallen würde.

Nachdem das nun aber geklärt ist, bitten wir euch, uns zu sagen, was hier in der Stadt vor sich geht. Mit wem befindet ihr euch im Krieg?«

»Die Stadt wird von den Feldmäusen belagert«, erklärte Konan. »Heidi hat ihr Heer vor unseren Schutzwall zwischen den beiden Bergen geführt und damit den Weg in den Norden versperrt.«

»Wer?«, fragte Henni verwirrt.

»Die Feldherrin unserer Angreifer.«

»Ihr werdet von einem Weibchen belagert?«

»Das ist nichts Ungewöhnliches«, erklärte Konan. »Die meisten Krieger der Feldmäuse sind Frauen. Man nennt sie auch die Amazonen aus dem Norden. Heidi ist die Grausamste von allen.«

»Na, die muss ich mir unbedingt ansehen.« Henni warf seinem Bruder einen skeptischen Blick zu. Die Überraschungen nahmen kein Ende, seitdem sie einen Tag zuvor den Fluss überquert hatten.

»Wie lange dauert dieser Zustand schon an?«, fragte nun Hörg.

»Das geht bereits einige Monate so. Die Feldmäuse versuchen immer wieder, den Wall zu überwinden.

Bisher konnten wir sie allerdings abwehren.«

»Ihr müsst diese Heidi ganz schön geärgert haben, wenn sie derart hartnäckig ist«, stellte Henni fest.

»Wir sind uns keiner Schuld bewusst.«

»Das glaube ich dir. Dennoch muss es einen Grund geben, warum die Feldmäuse die Belagerung nicht aufheben.« Henni sah den Regenten von Delta herausfordernd an.

»Eine Sache gibt es da schon«, gab Konan zu.

»Und die wäre?«

»Heidi beschuldigt uns, die Statue der heiligen Rudolfa geraubt zu haben. Die Amazonen beten sie an, weil sie ihr Volk vor vielen Generationen in diese Gegend geführt hat, nachdem es seine Heimat verlassen musste. Die Feldmäuse werden nicht eher Ruhe geben, bis sie ihr Heiligtum zurückbekommen.«

»Habt ihr diese Statue denn?«, fragte Hörg.

»Nicht so direkt.«

»Was soll das nun wieder heißen? Müssen wir dir denn wirklich jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen? Wo ist diese Rudolfa?«

»Das wissen wir leider nicht. Die Statue wurde von unserem Historiker Sören geraubt.«

»Dann zwing den Kerl, Heidi diese Figur wieder zurückzugeben«, schimpfte Henni. »Das kann ja nicht so schwer sein.«

»Er ist tot. Leider hat er das Abbild der Rudolfa versteckt und wir haben nicht die geringste Ahnung, wo.«

»Was ist passiert?«, fragte Hörg und verdrehte genervt die Augen.

»Das wissen wir nicht. Wir haben seine Leiche am Ufer der Roga gefunden.«

»Habt ihr die Räume dieses Sörens nach Hinweisen durchsucht?«

»Natürlich, Hörg. Leider haben wir dort nichts Brauchbares gefunden.«

»Das ist in der Tat ein Problem«, sagte Henni.

»Könnt ihr uns helfen?«

»Wir müssen uns zunächst ein Bild von der Lage machen«, entschied Hörg. »Führe uns zum Befestigungswall.«

»Seid ihr sicher? Es ist sehr gefährlich dort.«

»Wir wollen da ja kein Picknick machen.« Hörg sah den Regenten ärgerlich an. Konan gehörte auf keinen Fall zu den intelligentesten Vertretern ihrer Art. Es war ein Wunder, dass er und seine Berater, die sich aus der kompletten Unterhaltung herausgehalten hatten, die Stadt hatten so lange verteidigen können.

Plötzlich stürmte einer der Soldaten in den Audienzsaal und baute sich aufgeregt vor Konan auf.

»Euer Gnaden, ihr müsst sofort kommen. Die Feldmäuse greifen den Wall an!«

Sofort breitete sich Panik unter Konans Beratern aus.

Alle sprangen auf und riefen wild durcheinander.

Henni konnte nicht fassen, dass sich die Hoffnung der Stadt auf diesen Haufen Irrer stützte. »Seid endlich ruhig!«, schrie er die Nordlemminge an. »Das wird ja wohl nicht das erste Mal sein, dass Heidi angreift.

Nehmt eure Waffen und macht, dass ihr nach draußen kommt. Ihr solltet bei euren Soldaten sein, anstatt wie kleine Welpen hier herumzuspringen.«

»Auf den Wall!«, befahl Konan, zog sein Schwert und stürmte nach draußen.

Tatsächlich befolgten die anderen Lemminge im Raum die Anweisung ihres Regenten und schlossen sich ihm an. Auch Henni, Hörg und Norbert machten sich auf den Weg. Sie wollten unbedingt sehen, wie groß die Armee war, die Heidi vor der Stadt in Stellung gebracht hatte.

5

Als die Missionare aus dem Süden gemeinsam mit Konan den Wall erreichten, herrschte dort helle Aufregung. Die Soldaten, die zur Verteidigung der Stadt eingesetzt waren, liefen herum wie ein wild gewordener Haufen Ameisen. Bogenschützen rannten sich gegenseitig um und stritten sich um die besten Plätze. Einige Schwertkämpfer standen hilflos da und schienen nicht zu wissen, was sie als Nächstes tun sollten.

»Habt ihr keine Hauptleute, die eure Männchen befehligen?«, wollte Henni von Konan wissen.

»Natürlich haben wir die. Meine Offiziere gehören zum Beraterstab, mit dem ich zusammensaß, als ihr in der Stadt eingetroffen seid.«

»Dann wird es Zeit, dass die Herren hier auftauchen und für Ordnung sorgen. Sie haben den Audienzsaal mit uns verlassen. Wo sind sie hin?«

»Vermutlich holen sie ihre Waffen.«

Tatsächlich kamen Konans Offiziere in diesem Moment auf den Verteidigungswall und brüllten ihren Soldaten Befehle zu. Henni hatte aber nicht den Eindruck, dass sich das Durcheinander unter den Lemmingen auflöste. Gemeinsam mit seinem Bruder trat der königliche Berater nach vorn, um sich einen besseren Überblick über die Lage zu verschaffen.

Der Wall war zwischen zwei Bergen errichtet worden und grenzte Delta so von den weiter nördlich gelegenen Gebieten ab. Die fugenlos aufeinandergesetzten Steinblöcke machten es unmöglich, die baumhohe Mauer zu überwinden. Auch über die Berge, deren steile Felswände Delta schützten, würde es eine angreifende Armee niemals schaffen können, die Stadt einzunehmen. Der Weg der Feldmäuse musste über den Wall führen.

Henni sah auf das Heer der Feldmäuse. Ihr Lager hatte Heidi in sicherer Entfernung von den Katapulten aufschlagen lassen. Von dort aus wurden vier hölzerne Belagerungstürme in Richtung Stadtbefestigung geschoben. Jeweils eine Hundertschaft Kriegerinnen liefen in ihrem Schutz auf Delta zu.

»Wenn sie es schaffen, diese Türme an den Wall zu bringen, wird die Stadt fallen«, flüsterte Hörg seinem Bruder zu.

»Das fürchte ich auch. Leider habe ich nicht den Eindruck, dass Konan imstande ist, etwas dagegen zu unternehmen.«

Die Lage für die Soldaten auf dem Wall sah in der Tat alles andere als rosig aus. Wie Henni aber erleichtert feststellte, schienen die Verteidiger zumindest eine gewisse Grundordnung in ihre Reihen bekommen zu haben. Zweifelhaft war, ob das gegen die offensichtlich wesentlich disziplinierteren Feldmäuse reichen würde. Henni befürchtete, dass es auf dem Wall zu wenige Soldaten gab, alle vier Belagerungstürme gleichzeitig abzuwehren, sollte es den Angreifern tatsächlich gelingen, sie in Stellung zu bringen.

Zu Hennis Überraschung waren die Nordlemminge aber durchaus in der Lage, etwas gegen die drohende Gefahr zu unternehmen.

»WONIBALT!«

Der Schrei kam von der linken Seite. Gleichzeitig drehten sich Norbert und die königlichen Berater um und sahen einen Feuerball auf einen der Belagerungstürme zufliegen. Das Geschoss traf und Henni hätte schwören können, dass es sich am Holz der Kriegsmaschine festhielt, bis dieses Feuer gefangen hatte. Was natürlich völlig absurd war.

Auch auf der rechten Seite wurde ein Katapult abgefeuert. Leider erhielt diesmal kein Turm einen Treffer, lediglich ein paar Feldmäuse dahinter fielen den Flammen zum Opfer. Es dauerte aber nur wenige Augenblicke, bis ein weiterer Feuerschweif gegen feindliches Gerät unterwegs war. Diesmal hatten die Lemminge auf dem Wall besser gezielt und konnten den zweiten der vier Belagerungstürme ausschalten.

»Hast du das gesehen?«, schrie Hörg und schaute seinen Bruder entsetzt an.

»Natürlich. Unsere Freunde haben einen ersten Sieg errungen. Warum schaust du so?«

»Weil sie mit unseren Artgenossen schießen.«

»Was?«

»Die Katapulte haben brennende Lemminge abgeschossen.«

Henni spürte, wie sich sein Hals langsam zuzog.

Konnte sein Bruder mit dieser furchtbaren Vermutung recht haben? »Wir müssen sofort mit Konan sprechen.«

»Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?«, schrie Hörg den Regenten von Delta an. »Wer hat befohlen, dass unsere eigenen Männchen auf die Katapulte gelegt und angezündet werden?«

»Es waren auch Weibchen dabei.«

»Das macht die Sache nicht besser.« Hörgs Gesicht lief purpurrot an. »Hatten wir dir nicht ausdrücklich erklärt, dass die Selbstmorde unserer Artgenossen ein Ende haben müssen.«

Henni befürchtete, dass sein Bruder vor Zorn platzen würde, wenn ihm Konan noch eine ähnlich dumme Antwort gab. »Es handelt sich sicher um kranke oder schwer verletzte Lemminge.«

»Nein, Henni. Seit der Krieg begonnen hat, springen wir nicht mehr vom Todesfelsen, um in das gelobte Land einzuziehen. Es ist eine Ehre für jeden von uns, sein Leben für die Verteidigung der Stadt zu lassen.«

»Ihr opfert eure Soldaten und werdet dadurch immer schwächer!«, schrie nun auch Henni den Regenten an.

»Das könnt ihr doch nicht machen!«

»Natürlich können wir das. Wir übergießen unsere Todgeweihten mit Pech, stecken sie an und schleudern sie den Feldmäusen entgegen.«

»Warum nehmt ihr kein Holz?« Hörg fiel es nun sichtlich schwer, sich weiterhin zu beherrschen und nicht persönlich dafür zu sorgen, dass Konan als Nächster über den Wall flog.

»Weil es sich schlecht auf dem Fell verreiben lässt.«

»Was?« Hörg sah den Regenten einen Moment lang irritiert an und explodierte. »Ich meinte, dass ihr das Holz mit Pech übergießen und dann anzünden könntet, du hirnverbrannter Idiot.«

»Das könnten wir natürlich machen«, gab Konan zu.

»Ab sofort werden keine Lemminge mehr auf diese Art in den Tod geschickt«, sagte Henni entschlossen.

»Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben!«

»Hört sofort auf, ihr Verrückten!«, schrie Hörg und rannte auf eines der Katapulte zu.

Zwei Soldaten waren kurz davor, einen ihrer Kameraden mit Pech zu übergießen. Die Lemminge sahen den Besucher aus dem Süden sichtlich verwirrt an, setzten ihr Vorhaben aber nicht weiter fort.

»Ab sofort wird kein lebender Lemming mehr als Munition für die Katapulte benutzt«, sagte Hörg energisch und zog den Todgeweihten von dem Katapult weg. Der wehrte sich und trat mit allen vier Pfoten nach dem Missionar, ohne ihn dadurch aufhalten zu können.

»Sofort aufhören!«, befahl Konan mit energischer Stimme, der mit Henni und Norbert ebenfalls zum Katapult gelaufen war. »Hörg hat recht. Wir brauchen hier oben jedes Männchen und können uns nicht leisten, unsere Soldaten in das gelobte Land zu schicken.«

Henni atmete erleichtert auf. Zum ersten Mal verhielt sich Konan so, wie man es vom Regenten der Stadt erwarten konnte. Die Soldaten würden diese taktische Erklärung im Moment schneller akzeptieren als die Tatsache, dass es kein gelobtes Land gab.

»Legt Holzklötze auf die Katapulte, übergießt sie mit Pech und zündet sie an«, befahl Konan. »Dann schießt Heidis Kriegsmaschinen in Stücke.«

Einer der Offiziere übermittelte den Befehl an die Besatzungen der anderen Katapulte und die Soldaten auf dem Wall beschossen die verbliebenen Belagerungstürme mit brennenden Holzklötzen. Die Bogenschützen zielten auf die Feldmäuse, die sich vor den einschlagenden Geschossen in Sicherheit bringen wollten.

Hennis Hoffnung wuchs, dass sie den Angriff abwehren konnten, als eine der beiden Kriegsmaschinen in Flammen aufging. Die Zweite war allerdings bereits so nahe an den Wall herangebracht worden, dass die Katapulte über sie hinwegschossen.