LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Didier van Cauwelaert

Un aller simple

Von Bernd Krauss

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe in der Originalsprache: Didier van Cauwelaert: Un aller simple. Hrsg. von Peter Müller und Helga Zoch. Stuttgart: Reclam, 2003 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 9109.)

Alle Rechte vorbehalten
© 2010, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene
Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960075-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015424-3

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Struktur und Erzähltechnik

5. Interpretation

6. Autor und Werk

7. Rezeption

8. Dossier pédagogique

9. Lektüretipps/Medienempfehlungen

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

»J’écris des romans. Un aller simple n’est pas une analyse politique sur le thème de l’immigration«, betont Didier van Cauwelaert immer wieder. In der Tat handelt es sich hier nicht um eine politische Analyse, Frankreichs Ausländerpolitik ist dennoch ein zentrales Thema des Romans, der das Gebaren des französischen Staates seinen maghrebinischen Einwanderern gegenüber satirisch aufs Korn nimmt.

Nun muss man einräumen, dass in Frankreich die einschlägigen Gesetze im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ großzügig sind. Die maximal zehnjährige Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung wird in der Regel verlängert. Bei der Zuwanderung von Familienangehörigen gibt es kaum Beschränkungen. Auch ist es recht einfach, die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Jedes Kind, das in Frankreich geboren wird, ist mit Erreichen der Volljährigkeit automatisch Franzose.1 Die französische Staatsangehörigkeit kann man auch durch Heirat mit einem französischen Staatsbürger bekommen. Schließlich kann sich jeder volljährige Ausländer mit ausreichenden Kenntnissen in Sprache und Kultur des Landes nach fünf Jahren Aufenthalt im Land einbürgern lassen. Einen Einbürgerungstest wie in Deutschland gibt es nicht.

Nach dem Ölschock von 19732 und der dadurch entstehenden Rezession versuchte man, die Arbeitskräftewanderung zu regeln. 1974 verhängte die Regierung einen Anwerbestopp, der allerdings eine Zunahme der illegalen Einwanderung zur Folge hatte. Seit Ende der 1970er Jahre war das Ziel Frankreichs, die Anzahl der Ausländer, vor allem derer aus dem Maghreb, zu reduzieren. Man wollte dadurch die Arbeitslosigkeit bekämpfen und gleichzeitig die rassistische Front National (FN) schwächen, die in Marseille eine ihrer Hochburgen hat; ein Ziel, das Aziz mit einer naiv-ironischen Bemerkung kommentiert: Als ihm Pignol, sein ehemaliger Schulfreund erklärt »que pour lutter contre le racisme, il fallait renvoyer les immigrés chez eux«, stellt er fest »ça me paraissait bizarre de lutter contre une idée en la mettant en pratique« (43,23–44,2).

Eine Rückführung in Begleitung eines Integrationshelfers mit fast unbegrenztem Budget, wie sie im Roman geschildert wird, hat es zwar nie gegeben. Allerdings versuchte Frankreich tatsächlich, seine Ausländer auf eine möglichst humane Weise loszuwerden. Durch eine in Aussicht gestellte Prämie von 10 000 Francs wollte man sie zu einer freiwilligen Rückkehr bewegen. Die Maßnahme war jedoch wenig erfolgreich, weil die wenigen, die das Angebot annahmen, Spanier und Portugiesen waren, die ohnehin in ihre Heimat zurück wollten.

1994 – es war das Jahr, in dem auch Un aller simple veröffentlicht wurde – wurden die sogenannten »lois Pasqua«3 verabschiedet, restriktive Gesetze, die die schnellere oder sogar sofortige Abschiebung unerwünschter Ausländer ermöglichten. Gegenüber den sogenannten »sans papiers« wurde eine härtere Gangart eingeschlagen und die Aufenthaltserlaubnis wurde bei Verstoß gegen die öffentliche Ordnung, oft aus geringfügigem Anlass, entzogen. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Erklärungen des Integrationsbeauftragten im Roman als zynisch und verlogen: »La position de la France est de préserver les droits des travailleurs immigrés, dans la mesure bien sûr où ils ont un emploi et une situation régulière, mais pour les autres, comme vous, il n’est plus question d’employer des moyens d’exclusion ou de refoulement pur et simple indigne d’une démocratie« (54,6–11). Aziz’ Abschiebung nennt er »une procédure qui non seulement s’inscrit dans un cadre de dignité, mais aspire à être efficace au plan du résultat, car le but en soi n’est pas de vous faire quitter un territoire où nous vous avons fait venir lorsque nous avions besoin de vous, c’est de vous montrer, avec toute l’aide nécessaire que c’est votre pays maintenant qui a besoin de vous« (54,16–22).

Aziz wächst in einer Zigeunerfamilie auf und gehört damit einer unterprivilegierten ethnischen Minderheit an, der man in Frankreich, wie in allen europäischen Ländern, nur wenig Toleranz entgegenbringt. Während des Zweiten Weltkriegs wurden sie noch vor Einmarsch der Deutschen in Lager interniert. Auch nach der Libération4 wurde ihnen das Recht, sich frei zu bewegen, verweigert. Bis zum heutigen Tage misstraut die sesshafte Bevölkerung dem fahrenden Volk wegen seines anderen Lebensstils; immer noch wird es oft von lokalen Behörden schikaniert. Zwar gibt es seit 1990 die »Loi Besson«, die Gemeinden von mehr als 5000 Einwohnern verpflichtet, ein ausreichend großes Terrain zur Verfügung zu stellen, wo die »manouches« ihre Wohnwagen und Wohnmobile abstellen können. Viele Bürgermeister und Gemeinderäte halten sich aber nicht an dieses Gesetz. Versuche der französischen Regierung, die Zigeuner in die französische Gesellschaft zu integrieren, scheitern immer wieder daran, dass Integration mit Sesshaftigkeit gleichgesetzt wird. Ein solcher Versuch wird im Roman geschildert: Eine Kommission reist aus Paris an, um die Situation der Zigeuner an Ort und Stelle zu erkunden. Sie kommt zu der Erkenntnis, »que les ›Bohémiens‹ se sentaient mal intégrés dans leurs roulottes, et que toutes les difficultés venaient de là« (21,20–22,2). Also werden Häuser gebaut. Noch vor der offiziellen Schlüsselübergabe entfernen und verkaufen die Anwohner Türen, Fenster, Spülbecken, alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Das angereiste Festkomitee inklusive Präfekt und Fernsehreportern zieht frustriert wieder ab.5

Was Aziz vor allem prägt, ist Marseille, die Stadt, in der er aufwächst und die er bis zu seiner Ausweisung niemals verlässt. Mit knapp einer Million Einwohner ist sie die drittgrößte Stadt Frankreichs. Dank ihrer geographischen Lage am Mittelmeer war die südfranzösische Metropole, das »Tor zum Orient«, schon immer ein Ort, wo sich Menschen verschiedenster Herkunft niederließen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts kamen viele Einwanderer aus Nordafrika nach Marseille: Araber auf der Suche nach Arbeit und Weiße, die sogenannten »pieds noirs«, die nach dem Ende des Algerienkrieges ihre Heimat verlassen mussten.

Im Unterschied zu anderen französischen Großstädten hat Marseille seine Unterschichten nicht in die banlieues6 verbannt. Dennoch gibt es auch hier eine räumliche Trennung der sozialen Schichten: Im Süden lebt die weiße gutsituierte Bevölkerung, in den nördlichen Arrondissements wohnen ärmere Schichten, mehrheitlich aus dem Maghreb und anderen ehemaligen französischen Kolonien.

In diesen Problemzonen (La Castellane, St. Jérôme, La Bricarde, Les Rosiers) bleiben die verschiedenen Ethnien im Wesentlichen unter sich. Im Roman leben Aziz und die Seinen in der »Cité Vallon-Fleuri«, die beurs im Araberviertel »Rocher-Mirabeau«. Die Jugendlichen spielen gegeneinander Fußball, aber auch Schlägereien sind offenbar an der Tagesordnung.

In die bürgerlichen Viertel, »Marseille côté français« (17,1), begibt sich Aziz nur selten, und zwar, um sich über die neuesten Autoradiomodelle zu informieren. Dort gibt es »des collèges normaux sans tags et sans drogue et sans viols et sans casse« (14,22–24), zu denen ein Junge aus dem Norden jedoch keinen Zugang hat.

Die Arbeitslosigkeit in Marseille Nord ist überdurchschnittlich hoch, zumal der Hafen immer weniger Arbeitsplätze bietet, weil im Containerschiffsverkehr menschliche Arbeitskraft kaum noch benötigt wird. Hinzu kommt, dass die ansässige Nahrungsmittelindustrie ihre Produktion zunehmend in andere Gegenden verlagert.

Obwohl von 4000 Dockarbeitern in den 1960er Jahren nur noch etwa 700 übrig geblieben sind, stellen sie immer noch eine Kraft dar – fast alle sind gewerkschaftlich organisiert –, die in der Lage ist, die öffentliche Ordnung empfindlich zu stören.7 Im Roman besetzen die Arbeiter für eine gewisse Zeit den Flughafen und verhindern so indirekt das Medienspektakel, zu dem Aziz’ Abflug in die Heimat gemacht werden sollte.

Arbeitslosigkeit und Armut sind Ursachen steigender Kriminalität. Die hoffnungslos unterbesetzte Polizei – die im Roman genannte Relation von 30 zu 100 000 entspricht durchaus der Realität – meidet die »zones sensibles«, Kontrollen gibt es nur selten, sodass hier rechtsfreie Räume entstanden sind, die die Behörden stillschweigend dulden, solange nur kleinere Eigentumsdelikte begangen werden. »La vie est calme, à Vallon-Fleuri« (19,3), erzählt Aziz, und er meint damit, dass es keine Razzien gibt und dass man sich mit der Polizei arrangiert hat, sodass niemand dem anderen in die Quere kommt.

Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Intoleranz, Gettoisierung – van Cauwelaert schildert die Lebensbedingungen in Marseille-Nord sehr wirklichkeitsnah. Dennoch hat er keinen sozialkritischen Roman geschrieben. Er hebt nicht den moralischen Zeigefinger, klagt nirgends direkt an, wie das die Autoren der sogenannten »littérature beure«8 tun. Er kritisiert Missstände durch Humor, Ironie, satirische Überzeichnung. An den wenigen Stellen, wo direkt Kritik geübt wird, tut das der Erzähler nicht selbst, sondern lässt andere sprechen: den Lehrer Giraudy, der den verwahrlosten Zustand seines collège beklagt, oder den ehemaligen Schulkameraden und Polizisten Pignol, der sich über die verlogene Show aufregt, die mit seinem Kumpel Aziz veranstaltet wird, und nicht versteht, warum dieser sich nicht wehrt (58,21–59,23).

Die politisch-sozialen Verhältnisse bilden den Hintergrund für die Geschichte von Aziz, dem Mann ohne Eigenschaften, auf der Suche nach der eigenen Identität: Woher komme ich, was sind meine Wurzeln, wer bin ich? Dies sind zentrale Fragen in einer globalisierten Welt, in der die gängigen Identitätsmuster – Nationalität, Religion, Kultur etc. – verloren gegangen sind.

Un aller simple ist einerseits ein trauriges Buch. Jean-Pierre stirbt, als er das ersehnte Ziel erreicht zu haben glaubt. Es ist auch ein optimistisches Buch über Empathie, Solidarität und Freundschaft. Und es ist ein Buch über die Macht der Phantasie, über die Macht des Erzählens, wodurch die Wirklichkeit verändert werden kann.

Gebaren: hier: les pratiques

jdn./etw. aufs Korn nehmen: prendre qn/qc pour cible (f.)

einschlägig: s’y rapportant

Arbeitsgenehmigung: l’autorisation (f.) de travail

Zuwanderung: l’immigration (f.)

jdn. einbürgern: naturaliser qn

Anwerbestopp: l’arrêt (m.) de recrutement (m.)

jdn./etw. schwächen: affaiblir qn/qc

Hochburg: le fief

Rückführung: le rapatriement

unbegrenzt: illimité(e)

jdn./etw. loswerden: se débarrasser de qn/qc

jdm. etw. in Aussicht stellen: ouvrir à qn la perspective de qc

Prämie: la prime

freiwillig: volontaire

jdn. zu etw. bewegen: convaincre qn à faire qc

unerwünscht: indésirable

härtere Gangart einschlagen: prendre des mesures (f.) plus sévères

Verstoß: la violation

geringfügig: insignifiant(e)

zynisch: cynique

verlogen: hypocrite

jdm. etw. entgegenbringen: faire preuve de qc envers qn

jdm. misstrauen: se méfier de qn

sesshaft: sédentaire

fahrendes Volk: les gens (m.) du voyage

jdn. schikanieren: brimer qn

sich halten an etw.: respecter qc

Sesshaftigkeit: la sédentarité

alles, was nicht niet- und nagelfest ist: tout ce qui est bon à prendre

jdn. prägen: marquer qn

räumlich: spatial(e)

gutsituiert: aisé(e)

mehrheitlich (adv.): majoritairement

Zugang: l’accès (m.)

zumal: d’autant plus que

Containerschiffsverkehr: le trafic de porte-conteneurs (m.)

ansässig: hier: local(e)

Nahrungsmittelindustrie: l’industrie (f.) agroalimentaire

Medienspektakel: spéctacle médiatique

unterbesetzt: en sous-effectif

rechtsfreier Raum: zone (f.) de non-droit

stillschweigend (adv.): tacitement

Eigentumsdelikt: le délit contre les biens (m.)

jdm. in die Quere kommen: marcher sur les pieds (m.) de qn

Missstand: le dysfonctionnement

verwahrlost: négligé(e)

: