www.campus.de

Adloff, Frank

Zivilgesellschaft

Theorie und politische Praxis

 

 

 

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2005. Campus Verlag GmbH

E-Book ISBN: 978-3-593-40077-8

|7|Einleitung

Vor etwa 15 Jahren wurde das Konzept der »Zivilgesellschaft« wiederbelebt und erfreut sich nun allgemeiner Beliebtheit. Von vielen politisch oder sozial Engagierten wird die Stärkung der Zivilgesellschaft als Allheilmittel gegen die Verwerfungen in der sozialen Welt angesehen, während einige Wissenschaftler zunehmend skeptischer werden, ob der Begriff überhaupt noch irgendetwas exakt zu bezeichnen vermag. In politischen Theorien und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wird er analytisch und normativ verwendet: Man untersucht zum Beispiel, inwiefern eine lebendige Zivilgesellschaft für das Funktionieren von Demokratien notwendig ist; oder man fragt nach der Rolle, die Zivilgesellschaften im Übergang von autoritären Regimes zu demokratischen Regierungen gespielt haben. Politiker und Bürgerbewegungen jeglicher politischer Richtung nutzen »Zivilgesellschaft« momentan als politischen Signalbegriff. Gilt er den einen als ein radikales Reformkonzept, das demokratische Selbstregierung stärken und sowohl Übergriffe des Staates als auch der Marktwirtschaft bändigen soll, verbinden andere mit ihm die Vorstellung, dass die Bürger sich nicht länger auf den Sozialstaat verlassen, sondern die Dinge eigenverantwortlich selbst regeln sollten. In jedem Fall möchten diejenigen, die den Begriff der Zivilgesellschaft für politische Zwecke nutzen, damit eine »gute« Form der gesellschaftlichen Organisation bezeichnen, die von einer »schlechten« abgegrenzt werden soll. Die Frage, was die Merkmale einer »schlechten« Gesellschaft seien, wird wiederum vielfältig beantwortet: pur egoistische Interessenverfolgung auf kapitalistischen Märkten, Obrigkeitsstaatlichkeit, politische Apathie, Sozialstaatsabhängigkeit oder Ähnliches.

Es zeigt sich hier, dass in dem Begriff Zivilgesellschaft Zustandsbeschreibungen, normative Wertungen und Zukunftsentwürfe verschmelzen|8|. Diese Ambiguität macht den Begriff so schwer in der Handhabung und übt zugleich eine starke Faszination aus. Wissenschaftlichkeit und politische Ideale scheinen sich in ihm zu verbinden. Dieses Einführungsbuch will die Ambiguität des Begriffs verständlich machen, zum Teil auch auflösen und vor allem die von ihm aufgerufenen sozialen und politischen Phänomene darstellen und analysieren, die von großer Bedeutung für das Funktionieren von Demokratien und das solidarische Zusammenleben zu sein scheinen. Dies gelingt allerdings nur, wenn man sich der wechselhaften Geschichte des Begriffs vergewissert – eine Geschichte, die schon vor 2500 Jahren mit Aristoteles begann – und sich in einem zweiten Schritt genauer fragt, was in einem empirisch-konkreten Sinne unter Zivilgesellschaft verstanden werden kann. Denn nur über eine solche semantische Schärfung vermeidet man den Gebrauch von »Zivilgesellschaft« als einen catch all-Begriff, der für jeden politischen wie wissenschaftlichen Zweck eingesetzt werden kann.

Unter civil society, also Zivil- oder Bürgergesellschaft, wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen. Vereine, Verbände und soziale Bewegungen sind dabei typische Organisationsformen. Diese Vereinigungen sind unabhängig von einem staatlichen Apparat und in der Regel auch unabhängig von wirtschaftlichen Profitinteressen, das heißt, idealtypisch bilden sie eine Sphäre aus, die nicht staatlich ist und nicht auf reinen Marktprinzipien beruht. Die meisten Autoren, die sich mit Zivilgesellschaft beschäftigen, grenzen diesen Raum darüber hinaus von der Privatsphäre, zum Beispiel von der Familie, ab und betonen, dass zur Zivilgesellschaft Öffentlichkeit gehört. Die Zivilgesellschaft ist auf die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten angewiesen, also auf einen staatlichen Schutz der Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit. In der Regel zählen außerdem bestimmte zivile Verhaltensstandards wie Toleranz, Verständigung, Gewaltfreiheit, aber auch Gemeinsinn zur Zivilgesellschaft. Schließlich beinhaltet das Zivilgesellschaftskonzept auch ein utopisches Moment: das selbst regierte demokratische Zusammenleben. Summa summarum umfasst der Begriff Zivilgesellschaft also dreierlei: |9|einen gesellschaftlichen Bereich von Organisationen und Institutionen, zivile Umgangsformen und ein utopisches Projekt. Zivilgesellschaft vermittelt zwischen Staat und Gesellschaft, ist also ein Konzept, das den Politikbegriff weit fasst und nicht nur auf staatliches Handeln festlegt, gleichzeitig aber durch ein schärferes und konturiertes Verständnis von Gesellschaft gekennzeichnet ist. Denn während üblicherweise unter Gesellschaft im Grunde alles verstanden wird, was sich innerhalb von Nationalstaaten abspielt: Familien, Wirtschaft, Recht, Politik, Öffentlichkeit, Wissenschaft usw., meint Zivilgesellschaft allein die freiwilligen und öffentlichen Vereinigungen von Bürgern und Bürgerinnen.

Schon Aristoteles spricht von der Zivilgesellschaft und bezeichnet damit in einem umfassenden Sinn das politische Gemeinwesen. Diese Begriffsbestimmung hält sich lange Zeit, und erst zwischen 1750 und 1850 setzt sich eine moderne alternative Lesart durch, die sich mit Autoren wie Locke, Montesquieu, Ferguson, Hegel und Tocqueville verbindet. Diese grenzt die Zivilgesellschaft deutlich vom Staat, aber noch nicht besonders scharf von der entstehenden Marktwirtschaft ab. Zivilgesellschaft stand zu dieser Zeit für einen Entwurf des friedlichen, zivilisierten Zusammenlebens freier Bürger, unter der Herrschaft des Rechts, aber ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung (Kocka 2003, S. 30). Nachdem Marx den Begriff der Zivilgesellschaft auf die bürgerliche Gesellschaft der Warenproduktion reduzierte und damit deformierte, wurde es still um das Konzept. Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte es einen nochmaligen Aufschwung in der marxistischen Interpretation Antonio Gramscis und der pragmatistischen Theorie John Deweys. Bei ihnen deutet sich bereits eine weitere Abgrenzung an, nämlich gegenüber der Wirtschaft. Freie nicht-staatliche und nicht-kapitalistische Assoziationen rückten in den Fokus der Aufmerksamkeit. In einem völlig anderen Kontext tauchte der Begriff der civil society in den späten 1970er Jahren wieder auf, und zwar in den Debatten von Dissidenten in Ostmitteleuropa. Von dort aus erreichte er den Westen und erlebte sein Comeback. Ein Rückgriff auf den älteren Begriff der bürgerlichen Gesellschaft war in Deutschland unmöglich, da Marx die bürgerliche Gesellschaft als Ort der individualistisch-kapitalistischen Interessenverfolgung definiert hatte, sodass civil society fortan mit Zivilgesellschaft |10|oder Bürgergesellschaft übersetzt wurde. Im Folgenden werde ich den Begriff »Zivilgesellschaft« gebrauchen, weil er einen stärkeren Anschluss an die internationalen Debatten hält und sich – verglichen mit »Bürgergesellschaft« – zudem stärker in Deutschland etabliert hat.

Nachdem der Begriff also für lange Zeit vergessen war, waren es vor allem politische Akteure und weniger die Wissenschaft, die ihn wiederbelebten. So spielte der Begriff unter polnischen, ungarischen und tschechoslowakischen Dissidenten und Bürgerrechtlern in ihrem anti-totalitären Kampf gegen kommunistische Regimes eine große Rolle. Nach dem Scheitern von Reformversuchen in Ungarn und Polen 1956 und dem Prager Frühling in der Tschechoslowakei 1968 setzten die ostmitteleuropäischen Dissidenten ab den 1970er Jahren verstärkt auf eine Reform von unten (Klein 2001, S. 36). Über den schrittweisen Ausbau kultureller Freiheiten und selbst organisierter Öffentlichkeiten strebten sie eine wachsende Autonomie gesellschaftlicher Handlungsräume an. Es ging nicht länger um eine Eroberung der politischen Macht, sondern um eine Begrenzung derselben von innen heraus. Eine Zivilgesellschaft in Form von freien Assoziationen der Bürger und autonomer Öffentlichkeiten sollte dem totalitären Staat gegenübergestellt werden. Diese versuchte man schrittweise über einen »neuen Evolutionismus« (so die Kennzeichnung Adam Michniks) zu erreichen: Indem Familien- oder Freundesnetzwerke zu größeren Assoziationen ausgebaut wurden, strebte man eine »zweite Gesellschaft« oder »parallele Polis« an. Autonome Kultur- und Bildungseinrichtungen, unabhängige Kommunikationsnetzwerke wurden geschaffen, Literatur verbreitet und diskutiert (Samisdat) sowie unabhängige Gewerkschaften gegründet. Diesen Strategien lag eine spezifische Diagnose des Totalitarismus zugrunde (ebd., S. 37): Die Dissidenten sahen das Zusammenspiel von politischem Macht- und ideologischem Wahrheitsmonopol als Grundlage totalitärer Herrschaft und versuchten, den ideologischen Wahrheitsanspruch der kommunistischen Parteien von unten durch zivilgesellschaftliche Räume und Öffentlichkeiten zu delegitimieren. Um dies zu erreichen, versuchten sie moralische Autonomie und rechtlich geschützte Freiheitsräume auf der Basis der Menschen- und Bürgerrechte durchzusetzen. Dabei bezogen sie sich |11|auf die Vereinbarungen der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975, in denen die Souveränität und die Grenzen der osteuropäischen Staaten anerkannt wurden, wofür sich diese aber zugleich auf die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte verpflichten mussten. In Polen gründete sich daraufhin 1976 »KOR«, das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, und bereits im Danziger Abkommen von 1980 wurde die Gewerkschaft Solidarność zugelassen, was das Ende der Parteikontrolle über die Öffentlichkeit bedeutete. Auch das sich anschließende Kriegsrecht konnte die Gewerkschaft nicht zerschlagen. In der Tschechoslowakei wurde die »Charta 77« gegründet, die sich ebenfalls auf die Schlussakte von Helsinki berief. Václav Havel prägte den Diskurs der tschechischen Dissidenten durch die Formel »Leben in der Wahrheit«, womit ein autonomes, moralisches und authentisches Leben jenseits des Staates und seiner Ideologie ermöglicht werden sollte. Auch im wirtschaftlich liberalisierten Ungarn entstand eine zweite, unabhängige Öffentlichkeit, die maßgeblich von György Konrads Formel einer »Antipolitik« geprägt wurde (Luks 1987, S. 585). Festzuhalten ist, dass es in allen drei Ländern zivilgesellschaftliche Bestrebungen gab, die auf den Aufbau staatsunabhängiger Vereinigungen und die Einforderung grundlegender Bürger- und Menschenrechte zielten.

Aus den Debatten zivilgesellschaftlicher Akteure Ostmitteleuropas, aber auch Lateinamerikas, wanderte der Begriff in den 1980er Jahren in die politikwissenschaftliche Transformationsforschung. Dort wurde ein Konzept entwickelt, das der Zivilgesellschaft in den drei Phasen des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie – Liberalisierung, Demokratisierung und Konsolidierung – verschiedene Rollen zuweist (vgl. Lauth 2003). Doch auch in den etablierten Demokratien wurde der Begriff der Zivilgesellschaft schon vor 1989 diskutiert, etwa in den post-marxistischen Debatten in Frankreich, die sich mit den Namen Claude Lefort, Alain Touraine und Pierre Rosanvallon verbinden, oder im angelsächsischen Raum maßgeblich befördert von Jean Cohen, Andrew Arato und John Keane. Dort wie auch in der Bundesrepublik, wo man die Arbeiten dieser Autoren rezipierte, waren es die neuen sozialen Bewegungen, die mit dem Begriff der Zivilgesellschaft als ein Modell radikaldemokratischer Reformpolitik in Verbindung gebracht wurden (Klein 2001, S. 33). In den westlich-demokratischen |12|Ländern ging es in den 1980er Jahren um eine Alternative zum Staatsinterventionismus einerseits und zur reinen Marktwirtschaft andererseits. Darüber hinaus verband man mit den sozialen Bewegungen und dem Konzept der Zivilgesellschaft die Hoffnung auf eine Selbststeuerung der Gesellschaft. Während es im Osten und im Süden um die Überwindung totalitärer und autoritärer Regime ging, verknüpfte sich im Westen in jenen Jahren mit der Zivilgesellschaft das Projekt, die Demokratien demokratisieren zu wollen. Nichtsdestotrotz machen Jean Cohen und Andrew Arato (1992, S. 70f.) einige Gemeinsamkeiten zwischen diesen unterschiedlichen Diskussionskontexten aus: Die in den 1980er Jahren in verschiedenen Ländern geführten Debatten hatten einen post-marxistischen Charakter; es ging zum einen um eine Kritik des Staates, zum anderen um eine Alternative zu Reform und Revolution, die in ein Projekt der Transformation bestehender Zivilgesellschaften münden sollte. Bedeutsam war in diesem Zusammenhang auch, dass Marx’ pejorativer und verkürzter Begriff von Zivilbeziehungsweise bürgerlicher Gesellschaft kritisiert und überwunden wurde. Zivilgesellschaft konnte dadurch als Begriff, der etwas Wünschenswertes ausdrückt, wiederentdeckt werden. Nach dieser Wiederentdeckung und Rückverwandlung von Zivilgesellschaft in ein positives Zukunftsprojekt dauerte es nicht mehr lange, bis seine Erfolgsgeschichte dem Höhepunkt zustrebte.

In den USA wurde der Begriff zu Beginn der 1990er Jahre in breiteren Kreisen diskutiert, als nach den exzessiven Jahren von Individualismus und Reaganomics die Sorge um den Zusammenhalt der Gesellschaft wuchs. Die so genannten Kommunitarier, die sich seit Mitte der 1980er Jahre für stärkere Gemeinschaftsbindungen in der amerikanischen Gesellschaft einsetzen, griffen ihn auf und setzten ihn teilweise mit dem Begriff der Community gleich. Ab Mitte der 1990er Jahre ist die Verwendungsweise des Begriffs kaum noch überschaubar. Immer mehr Wissenschaftler, Aktivisten und Politiker weltweit bezogen sich auf ihn und gaben ihm immer wieder neue Wendungen. Ein paar wenige Stichworte müssen genügen, um dies zu umreißen: Momentan wird die Debatte um wirtschaftliche Globalisierung von der Frage begleitet, inwieweit eine neue Form von Global Governance, an der die transnationale Zivilgesellschaft beteiligt werden soll (z.B. |13|Edwards 2000), dem global ungebändigten Kapitalismus Fesseln anlegen kann. In der Bundesrepublik stellte im Jahr 2002 die Enquete-Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« ihren Abschlussbericht vor. Das freiwillige Engagement in der Zivilgesellschaft wird als Bedingung für eine lebendige Demokratie genannt und als zentral für die Zukunft der Arbeit und des Wohlfahrtsstaates bezeichnet (Enquete 2002). Freiwilliges Engagement – das Spenden von Zeit und Geld – gilt mittlerweile als Kennzeichen einer lebendigen Zivilgesellschaft und als Garant dafür, dass in einer Gesellschaft genügend »Sozialkapital« vorhanden ist, um sie vor dem Auseinanderdriften zu bewahren. Bürger- beziehungsweise Gemeinsinn wird als eine Ressource betrachtet, die für das Funktionieren von demokratischen Gesellschaften bedeutsam ist und nicht versiegen darf. Manche identifizieren den so genannten Nonprofit- oder Dritten Sektor mit der Zivilgesellschaft, andere weisen in den Debatten um den Umbau des Sozialstaates regelmäßig auf die Eigenverantwortung des Bürgers und das bürgerschaftliche Engagement hin. Denn die Zivil- beziehungsweise Bürgergesellschaft wird sogar als »Heilmittel gegen die krankhafte Ausdehnung staatlichen Handelns« gesehen (Adenauer Stift. 2003, S. 6).

Die Zivilgesellschaft wird also nicht nur für verschiedene politische Projekte bemüht, der Begriff meint auch jeweils sehr Unterschiedliches. Dabei bleiben viele Fragen offen. So ist zum Beispiel unklar, ob die Wirtschaft beziehungsweise wirtschaftliche Organisationen in das Konzept der Zivilgesellschaft aufgenommen werden sollten. Wirtschaftsliberale und Konservative tendieren dazu, wirtschaftliche Eigenverantwortlichkeit in das Konzept zu integrieren, während Linksliberale zumeist eine klare Trennlinie zwischen Ökonomie und Zivilgesellschaft ziehen. Sodann stellt sich die Frage des Verhältnisses der Zivilgesellschaft zum Staat. Liberale und Konservative erkennen an, dass die Zivilgesellschaft den demokratischen Prozess belebt, plädieren aber für eine klare Trennung von Staat und Gesellschaft. Der Staat habe sich aus der gesellschaftlichen Sphäre herauszuhalten. Damit ist die Zivilgesellschaft aus dieser Sicht eher ein unpolitischer Schutzraum gegenüber dem Staat – als intellektuelle Gewährsperson wäre hier John Locke anzuführen. Vom Republikanismus oder Postmarxismus |14|inspirierte Theoretiker und Praktiker der Zivilgesellschaft sehen sie als Vermittlungsinstanz zwischen Staat und Gesellschaft, betonen ihren genuin politischen Charakter und streben Formen zivilgesellschaftlicher Selbstregierung an – Bezüge zu Tocqueville oder Dewey lassen sich hier finden. Schließlich spielt in aktuellen Debatten die Frage nach dem sozialen oder politischen Zusammenhalt moderner Gesellschaften eine große Rolle. Kommunitarier betonen, dass es starker gemeinschaftlicher Bindungen bedarf, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten; andere sehen darin eher Gefahren für eine liberale Gesellschaft und betonen die Wichtigkeit einer wechselseitigen Anerkennung als Staatsbürger – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Analog zu den unterschiedlichen Bestimmungen dessen, was man sich unter Zivilgesellschaft vorstellt und was an ihr wünschenswert ist, gibt es zu ihr auch unterschiedliche Gegenbegriffe. Diese weisen darauf hin, wogegen sich der Zivilgesellschaftsbegriff in verschiedenen historischen Konstellationen richtet und können auch jetzt helfen, Klarheit in den verwirrenden Debatten zu gewinnen. Der Politikwissenschaftler Volker Heins (2002, S. 11) nennt drei solcher Gegenbegriffe: 1. das Fanatische und Barbarische, 2. das Staatlich-Militärische, 3. den Produzenten. Bevor der Begriff der Zivilgesellschaft sich gegen einen übermächtigen, absolutistischen Staat wandte, richtete er sich gegen die Abwesenheit staatlicher Ordnung. So beschreibt Heins etwa Jean Calvin als Pionier der Kritik des Barbarischen und Fanatischen: Er setzte sich für einen modernen Staat und ein ziviles Miteinander ein (ebd., S. 25). Auch viel später noch – z.B. bei Hannah Arendt – findet sich das Bild von Barbarei und einem wütenden Mob als Gegenbild zur Zivilgesellschaft, und noch die heutigen Debatten um ziviles Handeln sind davon bestimmt. Der zweite, spätere Gegenbegriff bezieht sich auf die Furcht vor einer umfassenden und unterdrückenden Ordnung, einer überbordenden Bürokratie, die Max Weber als ein »stahlhartes Gehäuse« bezeichnete, oder man denke an George Orwells Kontrollstaat in 1984, der je nach politischer Einstellung mit den »spätkapitalistischen« oder den totalitären Staaten des »Ostblocks« identifiziert wurde. Im Unterschied dazu ist der »Produzent« beziehungsweise der kapitalistische Bourgeois kein so eindeutiger Gegenbegriff zur Zivilgesellschaft: Wird er in liberalen Konzeptionen der Zivilgesellschaft |15|zugeschlagen, bildet er in anderen – wie der Gramscis – einen Gegenbegriff zu ihr. Allen Abgrenzungen ist jedoch gemein, dass zum Kern der Zivilgesellschaft die Sozialfigur des zivilisierten Citoyen als ihr Träger gezählt wird.

Der gesellschaftliche Diskurs um Zivilgesellschaft beinhaltet also immer Ein- und Ausgrenzungen, kultursoziologisch gesprochen: Der Zivilgesellschaftsbegriff verfügt über Kategorien des »Reinen« und »Unreinen«, das heißt es wird implizit ausgehandelt, was und wer aus dem Bereich des gesellschaftlich Akzeptablen ausgeschlossen wird beziehungsweise mit wem man solidarisch ist (ebd., S. 82). Solidarität in realen Zivilgesellschaften bildet sich mithin durch Grenzziehung gegenüber einem »Anderen« der Zivilgesellschaft, sei es gegenüber dem Barbaren, dem Staat oder dem rein eigennützigen Wirtschaftssubjekt. Zivilgesellschaft ist demnach sowohl ein normativ aufgeladener Begriff als auch einer, der reale Phänomene kennzeichnen will. Das heißt: Zivilgesellschaft bezeichnet zugleich ein Ideal und eine spezifische Verfasstheit von Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Staat. Die Fruchtbarkeit des Konzeptes muss sich darin beweisen, dass diese Ambiguität sinnvoll und produktiv nutzbar gemacht wird – für politische wie vor allem auch für wissenschaftliche Zwecke.

Bisher klafft noch eine Lücke zwischen theoriegeschichtlichen Arbeiten zum Zivilgesellschaftsbegriff und empirischen Untersuchungen zu Nonprofit-Organisationen, Sozialkapital und freiwilligem Engagement. Diese Lücke soll hier geschlossen werden, indem beide Dimensionen Berücksichtigung finden. Das erste Kapitel geht der Ideengeschichte des Begriffs Zivilgesellschaft nach – von der Antike bis hin zu aktuellsten Verwendungsweisen. Hier werden wir es hauptsächlich mit Theorien aus der politischen Philosophie zu tun haben, aber auch Soziologen haben im 20. Jahrhundert zur Weiterentwicklung von Theorien zur Zivilgesellschaft beigetragen. Das zweite Kaptitel richtet den Blick auf den historischen Prozess der Staatsbildung, da diese für die Herausbildung europäischer Zivilgesellschaften und ziviler Umgangsformen zentral war. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der »unzivilen Zivilgesellschaft« Deutschlands im Kaiserreich und der Weimarer Republik, das vierte mit den Organisationen des so genannten Nonprofit-Sektors, die viele als zivilgesellschaftliche Akteure ansehen. |16|Im fünften Kapitel wird es um das freiwillige Engagement von Bürgern und Bürgerinnen gehen, welches häufig unter dem Stichwort »Sozialkapital« verhandelt wird. Soziale Bewegungen werden im sechsten Kapitel als typische Akteure moderner Zivilgesellschaften vorgestellt. Anschließend wird geprüft, ob es mittlerweile transnationale Zivilgesellschaften gibt, auf europäischer oder globaler Ebene. Im letzten Kapitel werden einige noch offene Problemkreise angeschnitten. Ergänzt werden die Kapitel durch die Beschreibung einiger praktischer Initiativen zivilgesellschaftlichen Engagements. Danken möchte ich Jens Ehrhardt und Sabine Boshamer, der ich dieses Buch auch widme, für ihre konstruktive Kritik und wertvollen Hilfestellungen.

|17|1. Theorien der Zivilgesellschaft

Von der Antike zur Neuzeit

Aristoteles’ Bürgergemeinde – Tugend und politisches Handeln – Ciceros societas civilis Civitas und ecclesia bei Augustin und Thomas von Aquin

Zivilgesellschaft oder bürgerliche Gesellschaft ist ein klassischer Begriff der europäischen politischen Philosophie, der auf Aristoteles’ (384/3 bis 322/1) Begriff der politike koinonia (lat. societas civilis) zurückgeht und wörtlich übersetzt soviel wie Bürgervereinigung oder Bürgergemeinde bedeutet (Riedel 1975, S. 720). Die Zivilgesellschaft ist hier synonym mit dem Herrschaftsverband der athenischen Bürgergemeinde (Polis). Der Begriff der Zivilgesellschaft beziehungsweise Bürgergemeinde in der wörtlichen Übersetzung illustriert, was die Polis ihrem Wesen nach ist: eine Gemeinschaft von Bürgern, die sich zum Zwecke des »guten«, das heißt des tugendhaften und glücklichen Lebens zusammenschließen. In seinem Buch Politik (1989) führt Aristoteles aus, dass Menschen in verschiedenen gemeinschaftlichen Sphären leben: Zum einen setzt sich der Staat (die Polis) aus Familien und Häusern beziehungsweise Dörfern zusammen; zum anderen werden die Polisbewohner nach freien Bürgern und Unfreien (Nicht-Bürger, Knechte, Sklaven) klassifiziert. Nur die Freien partizipieren an der Sphäre des Politischen, während die Unfreien an den privaten Haushalt beziehungsweise die Sphäre des Ökonomischen (den oikos) gebunden bleiben (Riedel 1975, S. 723). Die politische Herrschaft in Athen ist eine Herrschaft von Freien über Freie auf der Grundlage des Rechts, während die gleichsam private, ökonomische Herrschaft über Unfreie |18|(Sklaven) und Freie minderen Rechts (Frauen) ausgeübt wird. Aristoteles’ Verständnis der Polis beziehungsweise der Zivilgesellschaft beruht also auf einem aristokratischen Republikanismus, der auf tugendhafte, männliche und freie Bürger setzt, die über genügend Eigentum und freie Zeit verfügen, um sich um die politischen, also öffentlichen Belange zu kümmern. Dieses Demokratieideal hallt in der Geschichte des politischen Denkens bis heute nach. Reinhart Koselleck (1991) hat darauf hingewiesen, dass trotz der enormen Bedeutungsverschiebungen der Begriff Zivilgesellschaft nie die inhaltliche Bestimmung verloren hat, dass die Bürger sich selbst bestimmen, dass sie sich frei und politisch selbst organisieren sollen.

Im griechischen politischen Diskurs diente die Selbstbeschreibung als Polis auch dazu, eine scharfe Trennungslinie nach außen gegenüber denen zu ziehen, die nicht zivilgesellschaftlich in einer Polis vergesellschaftet waren, nämlich die so genannten Barbaren. Nach innen wurde das private, individuelle Interesse abgewertet: Ihr »natürliches« Potential können Menschen nur als tugendhafte Bürger durch politisches Handeln entfalten. Dies ist auch ein Grund dafür, dass Aristoteles ökonomische Tätigkeiten nicht deutlich von anderen Tätigkeiten innerhalb des privaten Haushalts (oikos) unterschied. Solange das ökonomische Handeln solchermaßen eingebettet blieb, war es kein Gegenstand der politischen Philosophie. Eine Trennung von Staat und Gesellschaft – wie sie für uns selbstverständlich ist – wird im antiken politischen Denken nicht vorgenommen.

In der römischen Philosophie wird zwar auch stellenweise von der Zivilgesellschaft gesprochen – Cicero (106–42) gibt den griechischen Begriff mit societas civilis wieder –, doch hat er längst nicht den systematischen Stellenwert wie in der griechischen Antike. Eine Erweiterung erfährt der Begriff der Zivilgesellschaft allerdings darüber, dass seit dem ersten Jahrhundert vor Christus das römische Stadtbürgerrecht ausgeweitet wurde, bis es 212 n.Chr. schließlich allen freien Bewohnern des Imperiums zukam. Seitdem kann sich der Begriff Bürgerschaft sowohl auf die Heimatgemeinde als auch auf den politischen Großverband beziehen (Koselleck 1991, S. 120).

Der Zusammenbruch des römischen Imperiums markiert das Ende der klassischen Konzeption von Zivilgesellschaft als einer politisch |19|organisierten Bürgerschaft. Mit der Ausbreitung des Christentums treten sich Polis beziehungsweise civitas und Kirche beziehungsweise ecclesia gegenüber. So wertet Augustinus (354–430) die Zivilgesellschaft aufgrund seiner Interpretation der Erbsünde ab: Civitas terrena – das weltliche Reich – beruht auf Konflikt, Kampf und Krieg. Der Staat ist daher ein notwendiges Übel zur Eindämmung dieser gewalttätigen Tendenzen; Gutes kann dagegen nur aus Gottes Gnade herrühren, nicht aus dem politischen Miteinanderhandeln (Ehrenberg 1999, S. 30ff.). Die civitas dei (der Gottesstaat), Glaube und Gnade sind nun wichtiger als Vernunft und politisches Handeln. Damit wurde ein entscheidender Bedeutungswandel eingeleitet, denn der Gottesstaat vermochte jeden zu umfassen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Alter usw. »Die Teilhabe am Gottesstaat verlieh einem Christen spirituelle Bürgerqualitäten ohne Rücksicht auf seine weltliche Lage«, betont Koselleck (1991, S. 120).

Mit der Übersetzung der Schriften Aristoteles’ ins Lateinische während des 13. und 14. Jahrhunderts nimmt die Interpretation des Begriffs Zivilgesellschaft einen neuen Aufschwung. Bei Thomas von Aquin (1225–1274) kreist die politische Philosophie um die beiden Pole Zivilgesellschaft (communitas civilis) und die überweltliche Gemeinschaft in Gott (communitas divina). Zivilgesellschaft steht im stufenförmigen Aufbau der Gesellschaftsformen (Riedel 1975, S. 728) in der Mitte zwischen der häuslichen Gemeinschaft (Aristoteles’ oikos) und der göttlichen Gemeinschaft (Augustinus’ civitas dei). Der Begriff erfährt eine bedeutsame Aufwertung, da der Staat als notwendiges Mittel zur Eindämmung der Sünde begriffen wird. Zivilgesellschaft und Staat werden bei Thomas weiterhin synonym gebraucht (societas civilis sive res publica) und bezeichnen die Vielzahl politischer Herrschaftsverbände – Herrscher und Vasallen, Dörfer, Städte, Stände usw. Jeder Hausherr, der über Haus und Hof, Frau, Kinder und Gesinde verfügen konnte, war im Mittelalter der politischen Herrschaft fähig: partizipierend an der Rechtsprechung oder Verwaltung einer Gemeinde, »als Mitglied oder Repräsentant von Ständen, schließlich und vor allem als fürstlicher Herr über ein Territorium. Im Sinne dieser überkommenen, der ständischen Erfahrung angepaßten Theorie«, resümiert Koselleck (1991, S. 120) »waren freie Bauern, Stadtbürger oder Mitglieder |20|des niederen oder hohen Adels immer cives der societas civilis«. Die Vielfältigkeit der Herrschaftsverbände im Mittelalter unterscheidet sich mithin deutlich von der griechischen Polis, sodass man sagen kann, dass der Begriff der Zivilgesellschaft nun eine größere Pluralität an Vergesellschaftungs- und Herrschaftsformen bezeichnet.

Auch wenn die Reformation den scholastischen Aristotelismus kritisierte, behielt sie die Terminologie zur Beschreibung der Gesellschaftsstruktur bei. So formuliert beispielsweise auch Martin Luther eine Lehre von den zwei Reichen, dem geistlichen und dem weltlichen. Eine wesentliche Veränderung, die für das politische Denken und Handeln von Bedeutung ist, ist allerdings mit der Reformation verbunden: Individueller Glauben und Gewissen werden einerseits gegenüber dem kirchlich-hierarchischen Einfluss aufgewertet, andererseits aber auch dem Privatbereich zugeordnet und aus der öffentlichen Sphäre des Staates verdrängt (Ehrenberg 1999, S. 69). Eine Säkularisierung staatlichen und zivilgesellschaftlichen Handelns ist hier gewissermaßen schon angedeutet.