Der Skarabäus
Onkel Quentin hatte gute Laune. Das merkten die Fünf Freunde in dem Moment, in dem sie das Felsenhaus betraten.
Als Tante Fanny die Tür öffnete, schlug ihnen herrlicher Duft entgegen. Georgs Mutter hatte Apfelkuchen gebacken!
Aus Onkel Quentins Arbeitszimmer drangen lustige, leichte Violinenklänge. Georg kannte die Musik, die ihr Vater da mit seinem alten Plattenspieler abspielte: Vivaldis »Vier Jahreszeiten«.
»Papa hat wohl gute Laune, wie?«, fragte sie ihre Mutter, denn sie wusste, dass ihr Vater diese Musik niemals auswählen würde, wenn er schlechter Stimmung war. Dann nämlich bevorzugte er schwermütige Opernarien in Moll.
Tante Fanny lachte. »In der Tat. Er hat gestern gute Nachrichten erhalten. Aber das wird er euch sicher gleich selbst erzählen.« Sie griff nach der großen Teekanne und goss die Tassen voll.
Die Geschwister Julius, Richard und Anne sollten wieder einmal einige Ferientage bei ihrer Cousine Georg verbringen. Georgs Mutter, Tante Fanny, hatte die vier Kinder und den Hund Tim vom Bahnhof abgeholt. Leider hatte der Zug Verspätung gehabt, und Tante Fanny hatte einen besorgten Blick auf die Uhr geworfen, als sie endlich ins Auto einstiegen. »Ich hoffe, der Tee ist in der Zwischenzeit nicht bitter geworden. Ich habe ihn bereits aufgebrüht, bevor ich losgefahren bin. Schließlich konnte ich nicht ahnen, dass der Zug so spät kommt.«
»Mach dir keine Sorgen«, hatte Anne geantwortet. »Notfalls gießen wir ordentlich Sahne hinein.«
Sie hatten kaum an ihren Tassen genippt, als plötzlich die Tür des Arbeitszimmers aufgerissen wurde. Onkel Quentin kam.
Er klopfte den Jungen freundschaftlich auf die Schulter, wie er das immer tat. Allerdings sparte er sich dieses Mal die Bemerkung, dass die beiden schon wieder tüchtig gewachsen seien. Dafür erntete heute Anne ein Kompliment. »Nanu, du bist ja schon eine richtige junge Dame geworden, meine liebe Anne.«
Schließlich strubbelte er seiner Tochter Georgina über die kurz geschorenen dunklen Locken. Er amüsierte sich stets darüber, dass sie lieber Georg genannt werden wollte und wie ein Junge durchs Leben ging.
»Und nun erzählt, Kinder! Wie ist es euch in den letzten Wochen in der Schule ergangen?«, fragte er, als er am Teetisch Platz genommen hatte.
Das kannten die Kinder schon. Zuerst wollten die Eltern hören, was sie in der Schule erlebt hatten. Das war hier im Felsenhaus genauso wie bei Julius, Richard und Anne zu Hause.
»Wir haben einen neuen Biologielehrer«, erzählte Richard. »Er heißt eigentlich Doktor Stolz, aber er ist furchtbar langsam, fast wie eine Schildkröte. Deshalb nennen wir ihn nur Doc Turtle. In jeder Stunde kämpfen wir mit dem Schlaf!«
»Ganz im Gegensatz zu unserer Französischlehrerin, Mademoiselle Lenoir!«, rief Anne. »Sie ist eine solche Quasselstrippe, dass man ihr kaum folgen kann. Ein Wunder, dass ihre Stimme sich nicht ständig überschlägt.«
Georg, die dasselbe Internat besuchte wie ihre Cousine, verdrehte die Augen und fügte hinzu: »An Tim hat sie einen Narren gefressen. Sobald sie ihn auch nur sieht, ruft sie ihn schon mon petit chou.«
Georg durfte nämlich ihren Hund mit ins Internat nehmen – vorausgesetzt dass er sich gut benahm.
Richard musste lachen. »Mein kleiner Kohlkopf. Armer Tim!«
Georg stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Weißt du denn nicht, dass das in Frankreich ein Kosename ist?«
Richard tat entrüstet. »Na hör mal, natürlich weiß ich das! Ich finde es trotzdem albern.«
»Andererseits genießt Tim es natürlich, dass Mademoiselle Lenoir so in ihn vernarrt ist, denn sie steckt ihm immer wieder Leckerli zu«, fuhr Georg fort.
Onkel Quentin legte die Stirn in Falten. »Sagt mal, heißt euer neuer Lehrer, dieser Doktor Stolz, vielleicht mit Vornamen Peter?«, erkundigte er sich.
Richard nickte. »Ja, genauso heißt er: Doktor Peter Stolz.«
Jetzt grinste Onkel Quentin. »Mir kam er gleich so bekannt vor. Der langsame Peter! Wie klein doch die Welt ist. Ich kenne ihn aus dem Studium. Bitte grüßt ihn doch von mir. Ich bin sicher, dass er sich noch an mich erinnert.«
»Das werden wir gern tun«, antwortete Julius, der ebenfalls bei Herrn Stolz Unterricht hatte. Es war vielleicht gar nicht so schlecht, wenn der Lehrer wusste, dass Richard und Julius die Neffen seines alten Studienkameraden Quentin waren. Vielleicht hatten sie dadurch sogar bei ihm einen Stein im Brett – vorausgesetzt natürlich, er hatte den Onkel aus der Studienzeit in guter Erinnerung. Aber Julius mochte den Onkel nicht frei heraus fragen, ob er sich mit Peter Stolz während des Studiums gut verstanden hatte.
»Sag mal, Onkel Quentin, was hast du denn nun für gute Nachrichten bekommen?«, fragte Anne schließlich. »Tante Fanny hat davon gesprochen.«
Jetzt leuchteten Onkel Quentins Augen vor Begeisterung. »Ach ja, der Brief«, sagte er.
Georg schmunzelte. Ihr Vater hatte zwar gerade sehr überrascht getan, aber sie kannte ihn doch gut genug, um zu wissen, dass er die ganze Zeit darauf gewartet hatte, ihnen von den Neuigkeiten zu berichten.
»Die Sache ist die«, begann er. »Gestern erreichte mich ein Brief vom Museum für Archäologie. Sie haben einige sehr interessante Fundstücke bekommen, die genau untersucht werden müssen, bevor sie Teil einer umfangreichen Ausstellung werden. Für diese Untersuchungen wird ein Team aus Wissenschaftlern zusammengestellt, und man hat mich gefragt, ob ich in diesem Team mitarbeiten möchte.«

»Was du natürlich sehr gern tust«, folgerte Georg. Doch sie wusste, dass das noch nicht alles gewesen war, was ihr Vater an Neuigkeiten mitzuteilen hatte. Mitglied eines Expertenteams war er schließlich schon oft gewesen. Das war nichts Besonderes.
»Erzähl mal, Onkel Quentin«, bat Julius. »Um was für eine Ausstellung handelt es sich? Und was sind das für interessante Stücke, die ihr untersuchen sollt?«
Man konnte Onkel Quentin ansehen, wie sehr er sich über das Interesse der Kinder freute. Bereitwillig fuhr er mit seinem Bericht fort: »Wie ihr sicher wisst, besteht das Museum für Archäologie aus mehreren Teilmuseen. Die Exponate, die wir untersuchen wollen, sind für das ägyptische Museum. Das wohl interessanteste darunter ist eine Mumie.«
Richard hätte sich beinahe an seinem Stück Apfelkuchen verschluckt. »Eine echte Mumie? Und du darfst sie untersuchen? Ist das wirklich wahr?«
Onkel Quentin nickte zufrieden. Diese Neuigkeit hatte ihre Wirkung nicht verfehlt.
»Das ist ja großartig!«, rief Richard, der schon viel über die Kultur im alten Ägypten gelesen hatte.
»Es ist eine große Ehre für dich, Onkel Quentin, nicht wahr?«, fragte Anne.
Der Onkel nahm einen Schluck Kaffee. »In der Tat. Und ich bin selbst sehr gespannt, was diese Mumie uns über die alten Zeiten zu berichten hat.«
Anne musste lachen. Sie fand Onkel Quentins Formulierung witzig und stellte sich vor, man könnte sich mit solch einer Mumie tatsächlich unterhalten. Aber sie wusste natürlich, wie er es gemeint hatte. Als Wissenschaftler musste man die Augen offen halten und Schlussfolgerungen aus dem ziehen, was man entdeckte. Man musste versuchen, alles, was man in Erfahrung brachte, miteinander in Beziehung zu setzen. Und Onkel Quentin war ein Mann, der sehr viel wusste.
»Aber irgendwie finde ich das auch gruselig«, sagte Anne. »Ich meine, schließlich handelt es sich dabei doch um die sterblichen Überreste eines Menschen, der vor langer, langer Zeit wirklich gelebt hat.«
»Eigentlich handelt es sich nur um die Hülle des Menschen«, verbesserte Richard seine kleine Schwester. »Man hat den Toten nämlich damals die Organe entfernt, bevor man sie einbalsamiert und auf diese Weise konserviert hat.«
Anne verzog das Gesicht. »Das ist ja noch schlimmer!«
»Trotzdem hat Anne Recht«, meinte Georg. »Diese Mumie war einmal ein echter Mensch. Ich weiß nicht, ob es diesem Menschen gefallen würde, dass man an ihm wissenschaftliche Untersuchungen vornimmt.«
Onkel Quentin verstand die Bedenken der Mädchen durchaus. »Das ist der Grund, weshalb man heute sehr behutsam und respektvoll mit den Mumien umgeht. Die Zeiten der Grabfledderer sind zum Glück vorbei. Die heutigen Untersuchungsmethoden erlauben es, dass man die Mumien gänzlich in ihrem Zustand belassen kann.«
»Davon habe ich gelesen«, erklärte Julius. »Zum Beispiel kann man heute eine Mumie röntgen und so in ihr Inneres schauen.«
Onkel Quentin nickte. »Genau. Manchmal gelingt es, auf diese Weise festzustellen, woran der Einbalsamierte gestorben ist. Ansonsten reicht es, kleine Proben zu entnehmen.«
Anne verzog den Mund. »Proben? Wozu denn das?«
Onkel Quentin räusperte sich. »Nun ja, unter anderem kann die Art der Öle und Harze, die zum Einbalsamieren verwendet wurden, Aufschluss darüber geben, welche gesellschaftliche Stellung der Tote zu Lebzeiten innehatte. Auch die Grabbeigaben sagen darüber viel aus.«
Jetzt wurde Anne hellhörig. »Du meinst Schmuck und solche Sachen?«
Onkel Quentin lachte. »Ja, meine liebe Anne, auch Schmuck. Aber da die alten Ägypter glaubten, der Tote würde im Jenseits weiterleben, wurde er auch mit anderen Grabbeigaben ausgestattet.«
»Vorratsgefäße und Waffen zum Beispiel!«, wusste Richard. Er klebte förmlich an den Lippen seines Onkels, so spannend fand er das alles. »Ich beneide dich wirklich, Onkel Quentin. Ich wünschte, ich dürfte dabei sein.«
Tante Fanny schenkte Tee nach. »Na, ich glaube kaum, dass das geht, Richard.«
Onkel Quentin pflichtete ihr bei. »Ich denke auch, dass es den Herren nicht gefallen würde, wenn ich eine Horde Grünschnäbel mitbringen würde.«
Enttäuscht zog Richard die Mundwinkel nach unten. »Schade. Eine solche Gelegenheit bekommt man vielleicht nur einmal im Leben.«
Onkel Quentin legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nun mach nicht solch ein Gesicht, Richard. Ich werde euch ausführlich über die Untersuchungen berichten. Außerdem werden wir jeden einzelnen Arbeitsschritt fotografieren. Ich werde euch alle Bilder zeigen. Versprochen!«
»Pf!«, machte Georg. »Als ob wir kleine Babys wären, die sich nicht zu benehmen wissen. Du willst doch immer, dass wir uns für die Wissenschaft interessieren, Paps. Dürfen wir dich nicht doch einmal begleiten? Nur ein einziges Mal?«
Ihr Vater hob die Hände zu einer hilflosen Geste. »Ich glaube wirklich nicht, dass das gehen wird, Georgina. Tut mir leid.«
Wenn ihr Vater sie schon Georgina nannte, dann sollte sie lieber nicht weiterbohren, das wusste Georg.
Die Kinder waren enttäuscht. Nun hatte Onkel Quentin sie so begeistert und dann durften sie den Wissenschaftlern bei der Untersuchung der Mumie noch nicht einmal kurz über die Schulter schauen!
Nur Anne fand das nicht so schlimm. Ihr lief immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn sie an den ägyptischen Totenkult dachte. Schließlich hatten ihr die älteren Brüder schon so manches Schauermärchen über spukende Mumien erzählt.
Eine Weile aßen Tante Fanny, Onkel Quentin und die Kinder schweigend ihren Kuchen. Tante Fanny warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu und zuckte mit den Schultern. Onkel Quentin seufzte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Kinder ihn so gerne begleiten wollten.
»Wann soll es denn losgehen?«, fragte Julius schließlich.
»Morgen sind schon die ersten Vorbesprechungen«, antwortete Onkel Quentin. »Ich werde früh in die Stadt fahren. Die Zeit drängt ein wenig, denn die Ausstellung soll schon bald eröffnet werden.«
Viel später am Abend, als die Kinder sich zum Schlafen fertig machten, wühlte Georg mit beiden Händen in einer großen Kiste. »Was tust du denn da?«, fragte Anne, die gerade aus dem Badezimmer kam.
»Ich suche was«, antwortete Georg, ohne aufzusehen.
Anne hockte sich auf die Bettkante. »Was denn, wenn ich fragen darf?«
»Das hier!«, rief Georg, die schließlich fündig geworden war, und hielt ihr auf der flachen Hand einen kleinen türkisfarbenen Gegenstand hin.
Fasziniert blickte Anne auf das ovale Teil, das ein bisschen aussah wie ein Käfer. »Was ist das?«
»Ein Skarabäus«, erklärte Georg. »Den hat mir mein Vater mal von einer Reise in den Orient mitgebracht, als ich noch ganz klein war. Ich hatte schon fast vergessen, dass ich den noch hab.«
Anne nahm den kleinen Käfer zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete ihn von allen Seiten. Er war verziert mit winzigen Schriftzeichen. »Ich verstehe nicht ganz, was es damit auf sich hat.«
»Papa hat mir erklärt, dass diese Käfer als heilig verehrt wurden«, sagte Georg. »Sie galten als Symbol der Wiedergeburt und des Glücks. Heute werden diese Teile aus Stein als Glücksbringer verschenkt.«
Anne hielt den Steinkäfer gegen das Licht. »Aha. Schau mal, hier kann man eine Kette durchziehen und ihn sich an den Hals hängen.«
Georg zuckte die Schultern. »Du weißt doch, dass ich keinen Schmuck trage.«
Anne grinste. »Aber an einem Lederband sähe der auch gut aus.«
Georg nahm ihr den Käfer aus der Hand. »Trotzdem.«
»Na ja, ist vielleicht auch besser so«, sagte Anne und legte den Kopf schief. »Vielleicht lag dieser Skarabäus hier ja auch schon in irgendeinem Sarkophag neben einer Mumie.« Sie schüttelte sich vor Unbehagen wie ein nasser Hund.
»Er wird wohl eher von einem Händler auf einem orientalischen Bazar stammen«, sagte Georg amüsiert und ließ den Skarabäus in die Hosentasche plumpsen. »Vielleicht bringt er ja tatsächlich Glück.«
Als Anne spät am Abend noch einmal ins Badezimmer schlich, weil sie zur Toilette musste, hörte sie unten im Wohnzimmer die Stimmen von Tante Fanny und Onkel Quentin. Sie konnte nur einige Satzfetzen verstehen, aber so viel war ihr klar: Es ging darum, ob die Kinder nicht doch einmal mit ins Institut kommen durften. Doch Onkel Quentins Antwort war nicht zu verstehen gewesen.