Pat Kirwan mit David Seigerman
American Football sehen wie ein Profi
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4. Auflage 2021
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 bei Triumph Books LLC unter dem Titel Take your Eye off the Ball 2.0. © 2010, 2011, 2015 by Pat Kirwan and David Seigerman.
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Übersetzung: Ronit Jariv
Redaktion: Christoph Hellwig
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München
Umschlagabbildung: Imago Images, shutterstock/Tickstylestock
Layout: abavo GmbH, Buchloe
Satz: abavo GmbH, Buchloe
Illustrationen im Innenteil: Paul Petrowsky
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-7423-1003-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0638-5
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0639-2
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Vorwort
Vorbemerkungen
Einleitung
Die Rasenschachpartie ist eröffnet
Die 168-Stunden-Woche
Der härteste Job im Sport
Wie läuft’s denn so?
Ein guter Fang
Auf die Linie achten
Wer rastet, rostet
Warum 7 nicht gleich 7 ist
Rush Hour
Rückendeckung
Was ist das Besondere an Special Teams?
FBI: Football-Intelligenz
Organisation und Spielerakquise
Die Qual der Wahl
Mit Verletzungen umgehen
Schwierige Entscheidungen
Sagen Zahlen die Wahrheit?
Football ist eine eigene Sprache
So wirst du zum Experten
Dank
Über die Autoren
Ich hatte gerade bei den New York Jets angefangen, als ich Pat Kirwan kennenlernte. Das war um 1990 herum und er war damals noch Coach an der Hofstra University. Schon bei unserem allerersten Gespräch merkte ich, dass sein Football-Sachverstand NFL-Niveau hatte. Sein umfangreiches Fachwissen war so wertvoll, dass wir ihn sofort einstellen wollten.
Pat und ich verstanden uns von Anfang an gut. Wir unterhielten uns oft über Football-Konzepte und -Philosophien. Wir waren nicht immer einer Meinung, aber ich respektierte seine Ansichten und seine Fähigkeit, Spieler genau und fundiert zu analysieren und zu begutachten.
Als der Salary Cap eingeführt wurde, setzten Pat und ich uns zusammen, um gemeinsam die neuen Regularien durchzugehen und herauszufinden, was genau dahintersteckte. Wir wollten jedes Detail kennen, um uns gegenüber anderen Franchises einen Wettbewerbsvorsprung zu verschaffen. Pat ist ein absoluter Wettkampftyp – er ist sehr ehrgeizig und will immer gewinnen. Bei den Jets spielten wir oft Basketball zusammen. Er war der Mann in der Zone und Kippy Brown unser vielseitiger Spieler. Beide wussten, dass sie mir den Ball geben mussten (ich passe nur in der Football-saison). Man kann viel über Menschen lernen, wenn man gegen sie antritt, und es hat immer Spaß gemacht, gegen den Linkshänder Pat zu spielen, der seine spielerischen Schwächen durch Willensstärke kompensierte.
Als ich erst zu New England und später zum USC und dann zu Seattle wechselte, blieben Pat und ich in Kontakt, redeten über Football und tauschten Ideen aus. Er war schon immer eine absolute Koryphäe in Sachen NFL, jemand, dessen Wissen über Spieler, Trainer, Situationen und Trends für mich eine unschätzbare Quelle war und ist. Das gilt vor allem dann, wenn es darum geht, die wirklich wichtigen Eigenschaften eines Spielers einzuschätzen. Ich erinnere mich noch, dass Pat mich während des NFL-Drafts 1999, als ich in New England war, auf Sean Morey aufmerksam machte. Der Receiver von der Brown University hatte eine ganze Reihe von Ivy-League-Rekorden aufgestellt. Aber Pat hatte den Jungen ganz genau durchleuchtet und festgestellt, dass er auch vielseitig, zäh und ehrgeizig war. Pat ließ nicht locker – und schließlich nahmen wir Sean in der siebten Runde. Er schaffte es in den Practice Squad der Pats, wurde später Captain der Special Teams, gewann den Super Bowl mit Pittsburgh und ging 2008 als Special-Teams-Spieler zum Pro Bowl. Sean wäre wahrscheinlich nie gedraftet worden, wenn Pat sich nicht für ihn eingesetzt hätte. Pat war in der Lage, zu erkennen, was in einem Spieler steckt, und ich vertraute ihm so sehr, um den Pick schlussendlich zu machen.
Pat und ich haben das Gespräch über Football, das wir bei den Jets anfingen, eigentlich nie beendet. Wir sind Football-Seelenverwandte, Menschen, die einander blind verstehen und eine besondere Art der nonverbalen Kommunikation entwickelt haben. Dieses Buch hilft dir, ein Footballspiel durch die Augen eines wahren Experten zu sehen.
In den letzten zwölf Spielzeiten habe ich NFL-Spiele nicht mehr von der Seitenlinie, sondern von einem Fernsehstudio aus gesehen. Sobald wir nicht mehr auf Sendung sind, gehen meine Kollegen von NFL Today und ich – im Laufe der Jahre gehörten James Brown, Dan Marino, Shannon Sharpe, Boomer Esiason, Tony Gonzalez, Bart Scott und, als Fixpunkt, Pat Kirwan dazu – zum Green Room der CBS Studios in New York und schauen uns sämtliche Spiele des Nachmittags an.
Es ist toll, sich mit diesen Jungs auszutauschen und ihre Sichtweisen auf das Spielgeschehen mitzukriegen. Aber als einziger Coach unter lauter ehemaligen Spielern sehe ich die Dinge naturgemäß oft ganz anders.
Jedes Mal, wenn sie einen schlechten Spielzug sehen, schieben die Ex-Spieler dem Trainer die Schuld in die Schuhe. Ab und zu muss ich sie dann daran erinnern, dass Spieler ein Play auch richtig ausführen müssen. Sie fragen sich: Was war das denn für ein Call? und ich erkläre Ihnen, dass jedes Play potenziell gut ist.
Wir respektieren uns alle gegenseitig und verstehen uns sehr gut. Aber wie man sich vorstellen kann, geht es manchmal ziemlich kontrovers zu. Und während ich die Trainer der Liga verteidige, sitzt Pat immer neben mir, schüttelt den Kopf und lacht. Er versteht, in was für einer Zwickmühle ich mit diesen Jungs stecke.
Offiziell arbeitet Pat als »editorial contributor« (redaktioneller Mitarbeiter) bei NFL Today. Aber der Wert seines Footballwissens geht weit darüber hinaus.
Das wird niemanden überraschen, der ihn von seiner Sendung auf Sirius NFL Radio kennt oder seine Beiträge auf CBSSports.com oder die ursprüngliche Version von Take Your Eye Off the Ball gelesen hat. Pat hat einen einzigartigen Blick auf die NFL, denn er hat in der Liga als Trainer und im Management gearbeitet und kann sowohl mit Spielern als auch mit Besitzern kommunizieren. Er besitzt einen unglaublichen Einblick ins Geschehen und versteht, warum bestimmte Dinge passieren – ob auf dem Platz oder im Büro.
Viele Menschen sind Footballexperten. Es ist eine komplexe Welt und wir neigen alle dazu, sie zu überanalysieren und noch komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon ist. Aber Pat kann die Dinge so gut erklären, dass jeder Fan sie versteht.
Das macht er in seiner Sendung ständig. Leute rufen an und wollen wissen, warum ihr Team dieses oder jenes macht oder nicht, und Pat bringt sie dazu, nachzudenken. Anstatt emotionale Reaktionen zu fördern, bringt er ihnen bei, genau hinzusehen und die Zusammenhänge zu erkennen.
Pat möchte, dass Fans das Spiel, das sie lieben, besser verstehen, um die Komplexität des Spiels noch mehr würdigen zu können. Je mehr man lernt, desto mehr will man wissen.
Und die Fans können nicht genug von der NFL kriegen. Inzwischen wird rund ums Jahr berichtet. Da gibt es die eigentliche Saison, gefolgt von allem, was mit dem Aufbau der Teams in der Offseason zu tun hat. Die Fans interessieren sich für alles. Pats Einzigartigkeit besteht darin, dass er fundiert über sämtliche Aspekte der heutigen NFL informieren kann.
Ich glaube, ein Buch wie dieses kann für Fans enorm hilfreich sein, und ich fühle mich geehrt, das Vorwort für jemanden zu schreiben, den ich so sehr respektiere.
Es gibt so viele Dinge, die man beobachten kann, bevor der Ball gesnapt wird, um das Spiel besser zu verstehen … wenn man weiß, worauf man achten soll. Dieses Buch erklärt, was in der Offseason im Huddle, während eines Spielzugs und im War Room während des Drafts passiert. Es bringt Licht in all die komplexen Vorgänge, die Football zum beliebtesten Sport Amerikas machen.
Für das ungeschulte Auge ist Football das reine Chaos – eine Ansammlung gut gepolsterter Männer, die in verschiedene Richtungen rennen und überall auf dem Spielfeld gegeneinander krachen. Jeder Snap ist der Startschuss für 22 Spieler, von denen jeder einzelne eine spezifische Aufgabe hat. Das Ganze spielt sich so schnell ab, dass die meisten Fans nur dem Ball folgen – vom Center zum Quarterback, dann weiter zum Receiver oder Runningback und schließlich zum untersten Glied eines zappelnden Menschenhaufens. Sie sehen, wie eine Handvoll Spieler ihren Job machen, während alles andere wie kopfloser Wahnsinn wirkt.
Um Football von einer ganz neuen Warte aus zu sehen, fordere ich dich in diesem Buch heraus, die eiserne Regel zu brechen, die jeder Trainer einem Kind, das zum ersten Mal einen Sportplatz betritt, einbläut. Ich will, dass du dich nicht mehr auf den Ball fokussierst.
Stattdessen möchte ich, dass du siehst, wie Offensive Linemen Blocks ausführen, die ebenso komplex wie intensiv sind. Dass du bemerkst, wie sich der Safety vor dem Snap in die Box schleicht und damit den Quarterback verwirrt, der versucht herauszukriegen, von wo der Druck kommen wird. Du sollst darauf achten, welche Spieler aktiv sind, und vorhersehen, was gleich passieren wird. Sobald du nicht mehr auf den Ball fixiert bist, wirst du erstaunt feststellen, wie viel an Bewegung, Athletik und Taktik du bisher verpasst hast.
Wenn du schon jetzt die Action und Spannung liebst, die American Football bietet, wirst du noch viel begeisterter sein, sobald du das Spiel in seiner ganzen Komplexität erfasst. Dabei ist es keineswegs die Schuld der Fans, dass sie das Beste gar nicht mitkriegen, denn sie wurden darauf programmiert, das Spiel auf eine bestimmte Art zu verfolgen.
Die meisten Fans erleben Football in Form von TV-Übertragungen. Doch so unterhaltsam und technisch ausgefeilt diese heute auch sind, lässt sich das Spiel dabei nur sehr begrenzt vermitteln, denn bei einer Live-Übertragung kann man einfach nicht alles wahrnehmen, was gleichzeitig auf dem Feld abläuft.
Und die Analysten können in den Pausen nicht jeden Spielzug in seiner ganzen Komplexität erklären – in 40 Sekunden kriegt man nicht besonders viel Lehrstoff unter. Nachdem ein Spielzug zu Ende ist, Reaktionen inklusive, bleibt einem Kommentator kaum Zeit, bevor die Offense wieder an der Line of Scrimmage steht und er sein Augenmerk auf das nächste Play richten muss.
Wenn zum Beispiel Eli Manning eine Interception wirft, haben die meisten Kommentatoren keine Zeit, detailliert aufzudröseln, was er an der Coverage der Defense falsch interpretiert hat. Oft müssen sie deshalb auf eine eher nichtsagende Erklärung wie »Das ist einfach Mannings Revolverheld-Mentalität« zurückgreifen – und dem Fan entgeht die Möglichkeit, wirklich etwas über das Spiel zu lernen.
Die Wahrheit ist: Football kann man nicht bei einer Live-Übertragung verstehen lernen. Glücklicherweise haben einige Anbieter wie ESPN, das NFL-Network und der inzwischen eingestellte Sender CNN/Sports Illustrated (wo ich zuerst die Chance bekam, über Blocking und Tackling, den Aufbau von Kadern, kreative Game Plans und all die anderen in diesem Buch behandelten Aspekte zu sprechen und schreiben) Programme entwickelt, mit denen man Spielstrategien und -abläufe genauer unter die Lupe nehmen kann. Das Fernsehen bietet uns zweifellos spannende Live-Übertragungen von Footballspielen, nur die detaillierte Analyse bleibt dabei meist auf der Strecke.
An einer solchen sind aber viele Footballfans interessiert. Hatten Manning und der von ihm anvisierte Receiver die Coverage unterschiedlich interpretiert? Zwang der Druck eines Pass Rushs Manning dazu, den Ball eine Sekunde früher loszulassen als geplant, oder hielt er ihn davon ab, die optimale Wurfposition einzunehmen? Hatte er den Blick zu früh auf sein Ziel gerichtet und damit dem Safety die Möglichkeit gegeben, den Wurf zu antizipieren? Außer bei gelegentlichen nachträglichen Spielanalysen mit Markierung im TV-Standbild sehen Fans meist nur das Ergebnis eines Plays, aber selten das, was dazu führte.
Der Mangel an tiefergehendem Footballverständnis hängt auch mit dem Boom von Fantasy Football zusammen. Ohne Zweifel hat das virtuelle Spiel dem Sport neue Anhänger beschert und dazu beigetragen, dass die NFL zur größten Show im Sport-Universum wurde. Fantasy Football erlaubt Fans, sich aktiv zu beteiligen. Aber er fördert auch eine weitere oberflächliche Seite des Sports – Statistiken. Während die Fans auf die Zahlen starren, die am Bildschirmrand entlanglaufen, verpassen sie das eigentliche Spiel. Sie sehen, dass Arian Foster 1 Yard an Raum gewann; was sie aber nicht bemerkten, war, dass der Defensive End seinen Helm kurz in Richtung der Außenschulter des Offensive Tackle bewegte, wohl wissend, dass Runningbacks darauf geeicht sind, auf solche Signale zu achten, und dass Foster daraufhin wahrscheinlich nach innen rennen würde, wo ein ungeblockter Verteidiger auf ihn wartete. Solche taktischen Finessen laufen praktisch bei jedem Play ab, meist aber unbemerkt von ungeschulten Zuschauern. Fantasy-Football-Manager sind leidenschaftliche Fans; ein Spiel zu sehen, würde ihnen bestimmt noch viel mehr Spaß machen, wenn sie mehr über die inneren Gesetzmäßigkeiten von echtem Football wüssten.
Meine jahrelange Radiosendung auf Sirius NFL Radio hat mich davon überzeugt, dass die Fans mehr über das Spiel wissen wollen, das sie lieben. Ich bekomme ständig Anrufe mit klugen Fragen über bestimmte Matchups, die die jeweiligen Teams beim nächsten Gegner erwarten. Je mehr Einblick die Fans bekommen, desto mehr wollen sie erfahren, von Personalentscheidungen bis hin zur 3-Technique. Um über Football zu reden, muss man weder zu sehr vereinfachen noch in unverständlichen Trainerjargon verfallen.
Viel zu lang war das Gucken eines Footballspiels wie der Besuch in einer fremden Stadt. Wenn du zum ersten Mal mitten in New York oder Tokio stehst, erkennst du zwar ein paar bekannte Sehenswürdigkeiten, fühlst dich aber von den ganzen Sinneseindrücken, die auf dich einprasseln, schnell überfordert. Erst wenn du ein bisschen die Sprache gelernt hast und bestimmte Ecken wiedererkennst, fängst du an, dich wohlzufühlen. Erst dann geht der Spaß so richtig los.
Deshalb liest du dieses Buch. Um zu lernen, wie man ein Footballspiel anschaut und was wirklich auf dem Feld passiert. Und um mehr darüber zu erfahren, was auch außerhalb der Saison während der Free Agency, des Drafts und im Trainingscamp abläuft, wie alles ineinandergreift und aufeinander aufbaut. Mein Ziel ist es, Fans fachkundiger zu machen, damit sie Football noch mehr genießen können als bisher.
Wenn du bereit bist, dich voll auf das Spiel einzulassen, dann lehn dich einfach zurück – aber schau nicht auf den Ball.
Bevor wir näher auf Strategien und Formationen sowie Entscheidungen jenseits des Spielfelds eingehen, fangen wir am besten mit einem ganz einfachen Schritt an. Wenn du ein Footballspiel wie ein Coach verfolgen willst, solltest du lernen, dir das Wichtigste zu notieren. Dadurch trägst du dieselben Daten zusammen, die auch den Coaches als Basis für ihr Playcalling dienen. Während des Spielverlaufs kannst du auf diese Weise auch bestimmte Trends erkennen. Du schreibst für jedes Play spezifische Informationen auf: Down, Distanz, Spieler auf dem Feld und Resultat. Dadurch erkennst du leichter, wie die jeweilige Konstellation die Aktion auf dem Platz diktiert, und kannst nachvollziehen, wie Coaches bestimmte Situationen angehen. Kurz gesagt: Du entwickelst ein Spielverständnis, das zu vielen Fans bisher vorenthalten war.
Im Football dreht sich alles um Voraussicht. Coaches bauen ihre kompletten Spielpläne auf Tendenzen auf – was sagt die Leistungsbilanz des Gegners darüber aus, wie dieser in bestimmten Situationen reagieren wird?
Um Spielzüge zu antizipieren, muss man zunächst die Spieleraufstellung verstehen. Es reicht nicht aus, zu wissen, dass auf jeder Seite des Balls elf Spieler stehen. Vielmehr gibt die jeweilige Zusammenstellung dieser elf Mann Hinweise darauf, was beim nächsten Play zu erwarten ist.
In der Offense gibt es bei jedem Spielzug fünf Linemen und einen Quarterback, bleiben also fünf variable offensive Positionen. Eine Aufstellung wird pro Spielzug immer durch die Aufstellung der Runningbacks und Tight Ends definiert, und zwar in dieser Reihenfolge. Wenn ein Team zwei Runningbacks und einen Tight End rausschickt, spricht man folglich von einem »21 personnel«. Wenn es einen Back und zwei Tight Ends aufs Feld schickt, handelt es sich um ein »12 personnel«. In beiden Fällen stehen zwei Receiver auf dem Feld. Eine Defense achtet als Erstes darauf, wen die Offense rausschickt. Und genau das solltest du auch tun.
Das Spielerpersonal lässt nämlich auf die Spielstrategie schließen. Wenn zum Beispiel eine 22er-Aufstellung auf dem Feld steht – zwei Runningbacks und zwei Tight Ends – heißt das, dass es nur einen Receiver gibt. Sofort liegt also die Vermutung nahe, dass der Coach einen Laufspielzug ansagen wird. Sobald du erkannt hast, wer aufgestellt wird, kannst du diese Prognose wagen, noch vor dem Ende des Huddles.
Falls du vor Ort im Stadion bist, dann versuch, direkt nach einem Spielzug an der Seitenlinie den Offensive Coordinator auszumachen. Wahrscheinlich steht eine Gruppe von Einwechselspielern neben ihm – der zweite Tight End, der Fullback und der dritte und vierte Receiver –, die alle wissen wollen, wer beim nächsten Play eingewechselt wird. Im Fernsehen ist das natürlich schwieriger, weil die Zeit zwischen den Spielzügen meist mit Zeitlupen-Wiederholungen, Schwenks auf Fans oder Werbung gefüllt wird. Doch sobald sich die Offense aufstellt, kannst du schnell feststellen, welche Positionsgruppen auf dem Platz stehen.
Bei jedem Spiel, das ich mir ansehe – und ich sehe mir jede Woche jedes einzelne Spiel an –, habe ich immer einen Stift und Notizblock zur Hand, um bei jedem Spielzug das eingesetzte Spielerpersonal zu notieren. Ich lege eine sehr simple Tabelle für beide Teams an, in der ich jede mögliche Personalvariante aufliste – von einem leeren Backfield mit fünf Receivern (00 personnel) bis hin zu einem massiven Lineup mit zwei Runningbacks und drei Tight Ends (23 personnel) – und markiere, wie oft jedes Team den Ball geworfen oder mit ihm gelaufen ist. Tab. 1
Personnel |
Laufspiel |
Passspiel |
00 |
||
01 |
||
02 |
||
10 |
||
11 |
||
12 |
||
13 |
||
20 |
||
21 |
||
22 |
||
23 |
Schon in der Halbzeitpause kenne ich anhand der Aufstellung das Run-Pass-Verhältnis beider Teams und kann nun die Anpassungen der zweiten Halbzeit antizipieren, die die Coaches gerade – basierend auf ähnlichen Daten wie meinen – in der Kabine diskutieren.
Das Identifizieren der Spieleraufstellung ist ein guter Anfangspunkt, aber es gibt noch weitere Faktoren, auf die du achten musst. Down und Distanz (down and distance), zwei Faktoren, die immer Hand in Hand gehen, bestimmen vielleicht am stärksten, welchen Spielzug ein Coach ansagt (und welche Spieler er aufstellt). Ein Coach wird die Optionen für seinen Game Plan normalerweise nach Down und Distanz kategorisieren. So enthält sein Game Plan zum Beispiel vier oder fünf Spielzüge, die im Training gut funktioniert haben, die bei 2nd Downs zwischen 3 und 6 Yards eingesetzt werden können; vier oder fünf Plays, die für 2nd Downs zwischen 1 und 2 Yards geeignet sind, und vier oder fünf Plays für 2nd-and-7 oder länger. Und jeder Spielzug kann mit einer anderen Spieleraufstellung einhergehen.
Während du das Spiel auf diese Weise kategorisierst und dokumentierst, kristallisieren sich bestimmte Tendenzen heraus und der Game Plan erschließt sich dir allmählich. Die Rasenschachpartie ist eröffnet – und wenn du ganz oben in den Rängen schon sehen kannst, was gleich auf dem Spielfeld passiert, dann kann die Defense das erst recht. Der Offensive Coordinator weiß natürlich, dass die Defense ihre Entscheidungen anhand der offenbarten Tendenzen trifft, und muss nun seinerseits austüfteln, welches Play gegen die Defense, die er nun erwartet, am besten funktionieren wird.
Das alles kannst du mit einer einfachen Tabelle für jeden Spielzug festhalten. Es erfordert etwas mehr Arbeit als die Aufstellungstabelle, lässt dich aber tiefer ins Spielgeschehen einsteigen.
Schauen wir uns dazu einen Touchdown Drive der New England Patriots gegen die Cincinnati Bengals in Woche 5 der Saison 2014 an – der eröffnende Drive eines Spiels, das sie letztendlich gewinnen würden. Die Patriots hatten am Montagabend gegen Kansas City überraschenderweise verloren und wiesen nun eine Spielbilanz von 2–2 auf. So lief ihr erster Drive ab:
Team |
Zeit |
Down & Distance |
Field Position |
Personnel |
Play |
Patriots |
15:00 |
1st-10 |
NE 20 |
21 |
LaFell 20-yd von Brady |
1st-10 |
NE 40 |
21 |
Ridley 9-yd run |
||
2nd-1 |
NE 49 |
12 |
Ridley 7-yd run |
||
1st-10 |
CIN 44 |
12 |
Wright 30-yd von Brady |
||
1st-10 |
CIN 14 |
11 |
Brady 6-yd run |
||
2nd-4 |
CIN 8 |
12 |
Ridley 3-yd run |
||
3rd-1 |
CIN 5 |
22 |
Develin 0-yd run |
||
4th-1 |
CIN 5 |
22 |
Brady 4-yd run |
||
1st-G |
CIN 1 |
22 |
Brady 0-yd run |
||
2nd-G |
CIN 1 |
22 |
Ridley 1-yd run TD |
Die Patriots erzielten einen Touchdown, der Drive war also erfolgreich. Es gibt hier aber viel mehr Informationen zu analysieren als nur das Ergebnis.
So zeigte New England zum Beispiel vier verschiedene Aufstellungsvarianten. Sie liefen und passten mit 21er-Personnel. Sie liefen und passten mit 12er-Personnel mit unterschiedlichen Tight-End-Tandems (bei zwei Plays Rob Gronkowski und Michael Hoomanawanui, bei einem Gronkowski und Tim Wright). Tom Brady stand in Shotgun-Position mit 11er-Personnel und ergriff die Möglichkeit, selbst zu laufen. Und sobald sie an der 5-Yard-Line der Bengals waren, setzten sie Guard Jordan Devey als zweiten Tight End ein (mit Hoomanawanui) und liefen vier Mal mit 22er-Personnel. Das wird bei den Defensive Coaches der Bengals ziemliches Kopfzerbrechen ausgelöst haben.
Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Field Position. Fans sollten wissen, dass die Coaches das Spielfeld in fünf Zonen einteilen – die erste Zone läuft von der eigenen Endzone zur 10-Yard-Line; die zweite von der eigenen 11-Yard-Line zur eigenen 49-Yard-Line; die dritte vom Midfield bis zur 31-Yard-Line des Gegners; die vierte ist die Green Zone, die zwischen der 30- und der 20-Yard-Line des Gegners liegt und die letzte Gelegenheit ist, Seam Routes oder tiefe Bälle zu werfen; und die fünfte Zone ist die Red Zone, also die Zone zwischen der 20-Yard-Line und der Endzone. Coaches passen ihre Spielzüge der jeweiligen Position im Feld (field position) an.
Was natürlich auch in die Entscheidungen des Coaches einfließt, sind die verbleibende Spielzeit und der Spielstand. Doch diese zwei Faktoren bestimmen eigentlich nur, inwieweit sich das Play-Menü des Trainers reduziert. So wird ein Coach zum Beispiel auf kurze Distanz keine Plays mit 22er-Personnel ansagen, wenn er mit einem Touchdown zurückliegt und nur noch zwei Minuten auf der Uhr sind.
Ein Spiel auf diese Art aufzuzeichnen, lässt dich nicht nur aktiver daran teilhaben, sondern vermittelt dir auch, wie das Trainerteam ein Spiel sieht. Dein Bericht für jeden Spielzug erlaubt dir, einzuschätzen, was in bestimmten Szenarien funktioniert – genau derselbe Bewertungsprozess, den auch die Coaches während des gesamten Spiels abspulen. Ehrgeizige Fans müssen noch nicht mal bis zum Spieltag warten, um anzufangen, diese Informationen zu sammeln. Du kannst bei NFL.com oder auf Team-Websites das Play-by-Play, also die Beschreibung von jedem einzelnen Spielzug vergangener Spiele finden. Mit ein bisschen Arbeit weißt du damit schon im Vorfeld, was von dem Gegner, auf den dein Team am kommenden Spieltag trifft, zu erwarten ist.
Nehmen wir mal an, du bist ein Redskins-Fan und Washington trifft in Woche neun der Saison 2014 auf Minnesota. Du versuchst, ein Gefühl für die Spielweise der Vikings zu bekommen, deren offensive Identität noch in der Findungsphase steckt. Rookie Jerick McKinnon ist in Abwesenheit von Adrian Peterson der Starting Runningback und Rookie-Quarterback Teddy Bridgewater stand bisher nur vier Mal in der Startformation. Wenn du dir nun die drei Spiele der Vikings vor der Begegnung mit den Redskins genauer ansehen würdest – die, in denen Bridgewater und McKinnon in der Startformation standen –, würdest du ein Muster erkennen. In diesen drei Spielen hatte Minnesota ein nahezu ausgeglichenes Run-Pass-Verhältnis bei ihren feststehenden First Downs (also beim Beginn des Ballbesitzes): 18 Laufspiele, 19 Passspiele. Aber bei erspielten First Downs (Conversions während eines Drives) sah die Sache ganz anders aus: 16 Laufspiele, 31 Passspiele. Ein Redskins-Fan, der seine Hausaufgaben gemacht hatte, konnte also genau wissen, was von den Vikings zu erwarten war: ein ausgewogenes Spiel bei feststehenden First Downs (6 Laufspiele, 5 Passspiele), bei herausgespielten First Downs aber eine viel höhere Bereitschaft, Bridgewater einzusetzen (6 Laufspiele, 13 Passspiele).
Ein Footballspiel muss kein Mysterium sein, auf das man nur erstaunt reagieren kann. Die Informationen, die du brauchst, um es zu durchschauen, liegen direkt vor deiner Nase. Du musst nur wissen, wo du hingucken sollst.