MISSION PHOENIX
Mara Laue
Band 9: Loyalität
2.
Terra, 30.08.2546 – 39.03.351 ISA-Zeit
Die Frau, deren hellbraune, von silberfarbenen Strähnen durchzogene kurze Haare wie eine Kappe um ihren Kopf lagen, hatte sich Zivilkleidung angezogen, bevor sie ihren Arbeitsplatz verließ, um für heute Feierabend zu machen. Mit ihrem persönlichen Minishuttle flog sie zu einer Insel vor der afrikanischen Küste, die ein beliebtes Erholungsgebiet darstellte. Bevor die ihr Shuttle dort verließ, zog sie sich die Kapuze ihrer Wanderjacke über den Kopf und aktivierte eine Gesichtsmaske, die ihr ein anderes Aussehen gab.
Anschließend stieg sie in ein öffentliches Shuttle um, das sie mit der Geldkarte ihrer falschen Identität bezahlte, und ließ sich aufs europäische Festland bringen. An der Endstation stieg sie aus, nachdem sie unbemerkt ihre Jacke von innen nach außen gewendet hatte und nun eine graue Jacke trug statt einer blauen, und machte sich zu Fuß auf den Weg zu einer der wenigen öffentlichen Kommunikationsstationen, die außerhalb von Gebäuden existierten.
Normalerweise brauchte niemand mehr eine solche Station, schon gar nicht in dieser abgeschiedenen Gegend, die lediglich als Wandergebiet diente. Jeder Mensch hatte nicht nur in seiner Wohnung eine eigene Kom-Station, die interstellar senden konnte, sondern auch ein individuelles Kom-Gerät ständig bei sich. Doch die Frau musste einen Anruf tätigen, den sie auf keinen Fall von einem ihrer eigenen Geräte aus senden konnte. Zum Glück gab es an öffentlichen Kom-Stationen zwar Kameras, die jede benutzende Person aufzeichneten, aber keine Bio-Scanner. Das hätte zu tief in das Persönlichkeitsrecht der Individuen eingegriffen.
Deshalb fühlte die Frau sich sicher. Sollte sie jemals in Verdacht geraten und man ihre Wege zurückverfolgen, würde ihre Spur für die Zeit dieses Anrufes auf dem Parkplatz ihres Shuttles auf der afrikanischen Insel enden. Natürlich konnte man anhand der blauen Jacke sehen, dass sie in ein Transkontinent-Shuttle gestiegen war. Weil sie aber dafür gesorgt hatte, dass ihr getarntes Gesicht von keiner Kamera erfasst wurde, konnte man nicht herausfinden, unter welchem Namen sie die Passage gebucht hatte. Sollte man später die Aufzeichnungen durchgehen, wer das Shuttle in Europa verlassen hatte, würde man weder sie noch ihre blaue Jacke entdecken.
Natürlich blieb ein Restrisiko. Doch bevor das akut wurde, musste erst einmal jemand sie verdächtigen. Und sie hatte einen Posten inne, auf dem sie über nahezu jeden Verdacht erhaben war. Die Kom-Stationen zeichneten außerdem keine Anrufe auf; zumindest nicht den Inhalt. Das taten sie nur, wenn die automatische Überprüfung ein verdächtiges Wort registrierte, das auf dem entsprechenden Index stand. Und die Frau hatte nicht vor, ein solches zu benutzen. Außerdem verwendete sie zum Einloggen in die Station ebenfalls einen Identitätschip mit einer falschen Identität, aber einen anderen als den, mit dem sie die Passage bezahlt hatte. Man würde ihr also nie etwas beweisen können.
„Sind Sie wahnsinnig, mich auf diese Weise zu kontaktieren?“, fauchte ihr Gesprächspartner sie an, kaum dass die Verbindung zustande gekommen war. „Sie gefährden dadurch alles!“
„Unsinn. Ich habe eine Botschaft, die zu wichtig ist, als dass ich sie auf dem üblichen Weg hätte übermitteln können. Captain Melori lebt und ihr Schiff, die PHOENIX existiert noch.“
Sekundenlang schwieg ihr Gesprächspartner. „Das ist unmöglich!“, war er schließlich überzeugt.
„Nein. Die PHOENIX befindet sich auf dem Weg zum Lomokk-System und wird dort in zwei Tagen eintreffen.“
Ihr Gesprächspartner schwieg eine Weile. „Und Sie sind sich absolut sicher, dass Melori noch lebt?“
„Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel.“
Die Frau beendete die Kommunikation und machte sich auf den Rückweg. Wohl fühlte sie sich in ihrer Haut nicht. Mit dem Anruf hatte sie nicht nur Captain Melori und ihr Schiff verraten, sondern auch den Standort des geheimen Hauptforschungszentrums des IsteND, denn Lomokk war ansonsten unbewohnt. Aber was hätte sie tun sollen? Ihr Gesprächspartner hatte sie in der Hand. Vollkommen. Weil sie in der Vergangenheit einen schweren Fehler begangen hatte, einen einzigen nur, der sich nun rächte. Die einzige Alternative wäre, sich den Behörden zu stellen, alles zu gestehen und als Hochverräterin hingerichtet zu werden. Doch um das zu tun, lebte sie zu gerne.
Karstur Shorru starrte auf den erloschenen Bildschirm seines Kom-Gerätes und versuchte, der Panik Herr zu werden, die ihn gepackt hatte. Dass Captain Melori noch lebte, war eine Katastrophe. Shorru stufte die Frau zwar als ungefährlich ein, besonders nachdem man sie zur Forschungsflotte abgeschoben hatte und mit langweiligen Untersuchungen von irrelevanten Dingen beschäftigte, die außer irgendwelchen Wissenschaftsabteilungen niemanden interessierten. Aber wenn Mrreyna erfuhr, dass die Frau noch lebte, der sie die empfindliche Schlappe bei Kantaka zu verdanken hatte ... Shorru wagte nicht sich auszumalen, wie sie darauf reagieren würde. Gewalttätig, ohne jeden Zweifel. Sehr gewalttätig. Wenn er das Überbringen dieser Botschaft überleben wollte, musste er sich etwas einfallen lassen. Doch das war ein echtes Problem.
*
Lomokk 7
01.04.351 ISA-Zeit – 01.09.2546 Terrazeit
Halan Ashkonn warf Melori, die neben ihm im Kommandosessel saß, einen kurzen Seitenblick zu. Die Frelsini blickte auf den Hauptbildschirm, auf dem Lomokk 7 als steinige Wüste im Schein seiner blauen Sonne so tot wirkte, wie der Planet es laut den Messergebnissen war. Auf ihm lebte nicht einmal eine Mikrobe. Zumindest nicht in den natürlich entstanden Teilen. Und die unterirdischen Einrichtungen wurden weitestgehend steril gehalten.
„Ihnen ist bewusst, warum man uns in ein Forschungszentrum des IsteND bestallt hat, Captain?“ Was mehr eine Feststellung als eine Frage war.
Melori nickte. „Man will das Schiff auseinandernehmen. – Commander Selakem“, wandte sie sich an den Cheftechniker, der an der Technischen Station saß, „können wir uns darauf verlassen, dass Sie und Ihr Team alle unsere Geheimnisse schnüffelsicher verpackt haben?“
Robar Selakem hätte normalerweise über diese Formulierung gelacht, aber danach war in Anbetracht dessen, was ihnen allen bevorstand, niemandem zumute. „Weitestgehend, Captain.“
Melori zog die Augenbrauen hoch. „Weitestgehend? Was ist nicht zu hundert Prozent sicher?“
„Wenn man mit Tono-Scannern durchs Schiff geht, wird man feststellen, dass sich DNA-Ablagerungen von immer denselben Leuten an den Stellen befinden, wo unsere Geheimtüren in verborgene Räume führen. Ich habe die Betreffenden bereits instruiert, falls man sie darauf anspricht, als Begründung zu sagen, dass einige von uns sich dort immer treffen, um ein kleines Schwätzchen zu halten, von dem unser Captain nichts wissen muss, weil die Unterhaltungen während unseres Dienstes stattfinden und wir dort unerlaubte Pausen machen.“
Melori grinste.
„Naishashas DNA-Rückstände habe ich aus dem gesamten Schiff getilgt. Vollständig. Sollte schließlich niemand wissen, dass wir mal eine Gronthi an Bord hatten. Aber das konnte ich natürlich nicht mit unserer eigenen an den verdächtigen Stellen tun, weil das aufgefallen wäre. Wir haben es hier schließlich mit IsteND-Mitgliedern zu tun, nicht mit irgendwelchen einfachen Technikern, die das Schiff durchsuchen. Und die Aufzeichnungen der Kameras in den Gängen habe ich alle gelöscht und die Daten so manipuliert, dass es aussieht, als hätten wir nie Aufzeichnungen in den Gängen gemacht. Und ja, die Löschungen sind absolut ‚schnüffelsicher’ verschwunden.“
„Hervorragend.“
„Captain, wie sieht es mit der Gedankenkontrolle aus, die Lal uns gelehrt hat?“, wollte Selakem wissen. „Wird die auch weiterhin standhalten?“
Das interessierte auch Ashkonn brennend.
Melori kam nicht dazu zu antworten, denn in diesem Moment traf eine Nachricht vom Planeten ein, die die Kennung von Farankish trug, dem Leiter des IsteND. „PHOENIX, willkommen auf Lomokk Sieben. Landen Sie in Hangar fünf. Anschließend verlassen Sie alle ohne Ausnahme das Schiff, geben die Zugangscodes der Wartungscrew, die Sie erwartet, und begeben sich zu den Räumen, zu denen Ihre Sie ebenfalls erwartenden Kontaktpersonen Sie geleiten. Und lassen Sie mich an dieser Stelle schon sagen, dass wir froh sind, dass Sie noch existieren.“
„Verstanden, Erster Agent. Und danke für das Willkommen.“
Farankish unterbrach die Verbindung.
Nicht nur Melori war klar, dass seine Worte nichts anderes bedeuteten, als dass jedes Crewmitglied einzeln verhört werden würde. Das war kein Problem, denn die meisten waren nicht an Interaktionen mit Grontheh oder anderen beteiligt gewesen und konnten dazu nichts aussagen.
Melori schaltete die schiffsweite Durchsage ein. „Captain an alle! Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten landen wir auf Lomokk Sieben. Sie alle werden das Schiff verlassen und Ihre persönlichen Zugangscodes preisgeben, wenn man Sie danach fragt. Bis auf die, die wir auch intern geheimhalten wollen, versteht sich. Man wird uns einzeln befragen. Sagen Sie unter allen Umständen die Wahrheit, dass Sie nur meine Befehle befolgt haben. Nicht mehr, nicht weniger. Die vorübergehende Anwesenheit unseres gronthischen Gastes Naishasha verschweigen Sie selbstverständlich. Und keine Sorge: Sollte man Sie einer telepathischen Bewusstseinssondierung unterziehen, so können Sie nach wie vor dank der Gedankenkontrolltechnik, die Ihnen Lal beigebracht hat, nur das preisgeben, was Sie bewusst jemandem mitteilen wollen. Unsere Geheimnisse sind also in unseren Gehirnen sicher. Also betrachten Sie unseren Aufenthalt auf Lomokk als Landurlaub und machen Sie sich eine schöne Zeit, sobald man Sie nicht mehr mit Fragen belästigt.“
Ashkonn seufzte leise. Nur Melori war kaltblütig genug, die kommende „Inquisition“ als Landurlaub zu betrachten.
„Noch ein wichtiger Punkt“, fuhr sie fort. „Mit Sicherheit wird jedes unserer Quartiere überwacht werden. Außerdem befinden sich in jedem Gang und jedem Raum Mikrofone, die jedes Wort aufzeichnen. Ich empfehle deshalb, dass wir uns untereinander über völlig unverfängliche Dinge unterhalten.“
„Darf ich noch etwas ergänzen, Captain?“, bat Ashkonn.
Melori nickte.
„Hier spricht Erster Offizier Halan Ashkonn. Meine Damen und Herren, in Anbetracht dessen, was für uns alle – und damit meine ich nicht nur uns persönlich, sondern die gesamte ISA – auf dem Spiel steht, eine Warnung: Man wird uns auch außerhalb offizieller Befragungen auszuhorchen versuchen. Wesen, die zur Wartungscrew, zur Verwaltung und anderen Abteilungen gehören, werden uns in den Begegnungszentren oder Sporteinrichtungen scheinbar zufällig kontaktieren und scheinbar belanglos mit uns plaudern, in der Hoffnung, dass wir uns in diesen scheinbar privaten Unterhaltungen verplappern. Sie alle wurden zwar ausgebildet, um solche Manöver zu erkennen und nicht darauf reinzufallen, aber die Leute auf Lomokk üben die Geheimdiensttätigkeit schon erheblich länger aus als jeder von Ihnen. Seien Sie deshalb sehr vorsichtig mit allem, was Sie sagen.“
Er verkniff sich hinzuzufügen, dass die Leute am besten gar nichts sagen sollten. Sie waren hervorragend ausgebildet, auch wenn sie noch eine Menge Erfahrung brauchten. Sie wussten, was sie zu tun hatten.
„Ende der Durchsage“, gab Melori bekannt, nachdem er ihr signalisiert hatte, dass er nichts mehr zu sagen hatte. „Ensign Tagori“, wandte sie sich an den Piloten, „legen Sie die eleganteste Landung hin, die Sie je absolviert haben.“
„Aye, Ma’am.“
Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie ein Tor in einem Berg aufglitt, wo die Ortungsgeräte nichts als massiven Felsen anzeigten. Tagori beschleunigte die PHOENIX und jagte sie auf das Tor zu. Da Lomokk keine Atmosphäre besaß, erreichte das Schiff das Tor, bevor es sich vollständig geöffnet hatte. Was Tagori jedoch nicht dazu veranlasste, die Geschwindigkeit zu drosseln, obwohl die PHOENIX in ihrer Breite nicht hindurchpasste. Unmittelbar vor der Kollision drehte er das Schiff um neunzig Grad seitwärts, und die PHOENIX raste in die riesige Halle dahinter, in der bereits einige andere, kleinere Schiffe parkten. Der für die PHOENIX vorgesehene Landeplatz wurde von weißen Strahlern erleuchtet.
Tagori drehte das Schiff in die normale Flugposition zurück, drosselte jäh die Geschwindigkeit, sodass es fast abrupt zum Stillstand kam – ein Manöver, zu dem die PHOENIX gegenwärtig als einziges Schiff in der ISA fähig war. Anschließend drehte er es so, dass die hypothetische „Nase“ in Richtung Tor zeigte, und ließ die PHOENIX in derselben Geschwindigkeit sinken, wie die Landestützen ausgefahren wurden, sodass das Schiff wahrhaft sanft aufsetzte.
Melori lächelte. „Danke, Ensign. Genau so habe ich mir unsere elegante Landung vorgestellt.“
Der junge Offizier straffte sich vor Stolz und schaltete die Triebwerke aus. Auf dem Bildschirm wurde eingeblendet, dass sich eine Tür im hinteren Bereich des Hangars öffnete und eine Horde von Wesen auf die PHOENIX zugingen. Die meisten von ihnen trugen Handscanner und andere Geräte.
„Das Empfangskomitee“, murmelte Ashkonn.
Melori stand auf. „Dann begeben wir uns mal in die Schlacht. – Alle Systeme auf Standby“, ordnete sie an. „Holen Sie Ihr persönliches Gepäck, meine Damen und Herren, und dann finden Sie sich in der Hauptschleuse ein. Wir verlassen geschlossen das Schiff.“
Eine Viertelstunde später hatte die gesamte Besatzung das Schiff verlassen. Melori übergab die Kommandokontrolle offiziell an die Leiterin des Wartungsteams. Natürlich war ihr und allen anderen klar, dass die Leute die PHOENIX zwar durchaus warten würden, aber dass der Hauptzweck des Durchchecken war, die Geheimnisse des Schiffes zu ergründen.
Admiral Indira Graham, die Leiterin des terranischen IsteND-Zweiges, hatte die PHOENIX zwar nach ihrer Fertigstellung besichtigt und sich die Konstruktionspläne genau angesehen. Aber sie hatte dabei nicht zum Beispiel die zwanzig Raumjäger entdeckt, die Melori unter der Hand von der IsteP erhalten hatte. Sie hatte einen Teil von denen beim Kampf um Ishkorai einsetzen müssen, was aufgezeichnet und über alle Kom-Kanäle der Gronthagu Liga verbreitet worden war. Dadurch waren die Bilder selbstverständlich auch beim IsteND gelandet, der nun wusste, dass Meloris Schiff mindestens ein Geheimnis verbarg.
Und nicht nur die Raumjäger widersprachen der offiziellen Genehmigung für die Dinge, mit denen die PHOENIX bestückt sein durfte. Etliche Waffen und Schutzschildvarianten entsprachen auch nicht den Vorschriften, weil sie gemäß den ISA-Gesetzen ausschließlich der Interstellaren Polizei vorbehalten waren. Dass deren Oberkommandant Rhan Kharmin ebenfalls ein allerdings geheimes Mitglied des IsteND und somit befugt war, Melori diese Dinge zu überlassen, wussten nur sehr wenige Wesen. Und das sollte so bleiben.
Eine Lantheani trat auf Melori zu, begleitet von vier weiteren Wesen, die an ihrer Kleidung das Emblem der Sicherheitscrew trugen. „GanShara“, stellte sie sich vor. „Captain Melori, bitte folgen Sie mir. Erster Agent Farankish erwartet Sie, sobald Sie Ihr Gepäck abgelegt und sich frisch gemacht haben.“
Dass man gleich fünf Sicherheitsleute geschickt hatte, um Melori zu eskortieren, zeigte ihr, dass sie unter Arrest stand, auch wenn GanShara das nicht ausdrücklich verkündet hatte. Melori folgte ihr.
3.
An Bord der OSMERRU, Kampfschiff des Zarshash-Clans
01.04.351 ISA-Zeit
Karstur Shorru hatte sich einen Plan zurechtgelegt, wie er Mrreyna die Botschaft von der Existenz der tot geglaubten PHOENIX und ihrer Kommandantin mitteilen konnte, ohne augenblicklich im Mittelpunkt ihrer Wut zu stehen. Schließlich wäre er nicht der erste Überbringer einer schlechten Nachricht, der das nicht überlebt hatte. Mrreyna wurde immer unberechenbarer und gewalttätiger, nicht nur im Kampf gegen Handelsschiffe und deren Eskorte, sondern auch gegenüber ihren Leuten. Der geringste Anlass genügte nicht nur für einen Wutausbruch, sondern auch für exzessive Gewalt. Die Tendenz dazu hatte sie von Anfang an gezeigt, seit sie der Gilde beigetreten war. Doch es wurde immer schlimmer. Nicht erst seit Kantaka, wo sie unter anderem durch Captain Melori, die damals noch Kommandantin einer Raumjägerstaffel gewesen war, eine beinahe vernichtende Niederlage erlitten hatten.
Mrreyna verhielt sich für eine Vigani völlig untypisch. Shorru hatte sich vor einiger Zeit über Viganeh schlau gemacht, um Mrreyna und ihr Verhalten besser einschätzen zu können. Dabei war er auf eine Krankheit, vielmehr einen Gemütszustand gestoßen, der als shnashnarr bezeichnet wurde. Eine Übersetzung ins ISArru gab es dafür nicht, aber die Symptome wurden beschrieben als eine Art Wahnsinn, der unbehandelt zu völligem emotionalen Kontrollverlust führte. Das passte zu Mrreynas Verhalten. Was jedoch die Behandlungsmethoden betraf: shnashnarr galt als unheilbar. Man konnte nur die Symptome mit Medikamenten unterdrücken. Als ob Mrreyna Medikamente einnehmen und dadurch eine Schwäche zugeben würde! Dazu hätte sie sowieso erst einmal begreifen müssen, dass sie krank war. Doch shnashnarr ließ gerade dieses Begreifen nicht zu.
Also blieb die einzige Möglichkeit, um mit ihr auszukommen, möglichst nicht ihr Missfallen zu erregen. Und sie zu töten, wenn sie sich eines vielleicht nicht allzu fernen Tages überhaupt nicht mehr unter Kontrolle hatte. Was Shorru bedauerte, denn er hatte Mrreyna geliebt. Ein teil von ihm liebte sie noch; zumindest die Mrreyna, die sie in den Momenten war, in denen sie nicht von shnashnarr regiert wurde.
Shorru plante, ihr das Überleben Captain Meloris unterzujubeln in einer Situation, in der etwas anderes erheblich wichtiger war als Melori und ihr Schiff. Diese Situation war gekommen. Ein Informant aus dem ISA-Handelsverband hatte ihnen mitgeteilt, dass ein Konvoi von nur fünf tinuskischen Handelsschiffen vollbeladen mit Yoridium unterwegs vom Abbauplaneten zurück nach Tinussak, ihrer Heimatwelt, war.
Die Sauroiden nahmen eine abgelegene Route, auf der sie sich vor Überfällen sicher glaubten. Außerdem hatten sie auf einen Geleitschutz verzichtet, denn sie gingen davon aus, dass ein großer, von Kampfschiffen begleiteter Konvoi auffiel und erst recht Begehrlichkeiten weckte. Darüber hinaus vertrauten sie auf die Kampfkraft ihrer Schiffe, denn auch ihre Zivilschiffe erhielten eine äußerst wehrhafte Grundausstattung.
Wenn die Angaben über den Umfang der Ladung stimmte, woran Shorru nicht zweifelte, dann brachte ihnen dieser Beutezug auf einen Schlag knapp eine Milliarde ISAti Gewinn. Das sollte genügen, um Mrreynas Wut zu dämpfen, wenn sie von Meloris Überleben erfuhr.
Mrreynas hatte die legal registrierten Handelsschiffe des Clans auf eine Route geschickt, die mit der des tinuskischen Konvois zusammentraf, sodass es schien, als seien die Clanschiffe mit Waren ebenfalls auf dem Weg nach Tinussak. Unter dem Vorwand, dass beide Konvois sicherer wären, wenn sie den Flug gemeinsam fortsetzten, würden diese Schiffe sich den Tinuskeh anschießen. Derweilen flogen die fünf nicht registrierten Piratenschiffe mit aktivierter Tarnung nebenher. Sobald die Handelsschiffe strategisch günstige Positionen innerhalb des tinuskischen Konvois erreicht hatten, würden diese das Feuer eröffnen und die Waffenphalanx der Tinuskeh außer Gefecht setzen. Im selben Moment würden auch die getarnten Schiffe sich enttarnen, den Rest erledigen und die Tinuskeh zum Aufgeben zwingen.
Zwar waren die Tinuskeh ein Volk von Kämpfern, die weder Tod, noch Dämonen oder Götter fürchteten und bis zum letzten Atemzug kämpften. Aber sie waren auch hervorragende Strategen und keine Freunde von sinnlosen Opfern. Sobald sie erkannten, dass sie keine Chance mehr hatten, würden sie aufgeben. Besonders weil Mrreyna ihren Opfern vorzulügen pflegte, dass sie nur an der Fracht interessiert sei und die Schiffe und ihre Crews unbehelligt ziehen ließe, wenn man die Fracht widerstandslos aushändigte. Da sie nie Überlebende zurückließ, die das Gegenteil hätten behaupten können, funktionierte die List fast immer hervorragend.
Shorru befand sich in seiner Kabine und wartete auf des Zeichen, dass der Kampf unmittelbar bevorstand. Es konnte nicht mehr lange dauern.
Wie aufs Stichwort erklang ein im gesamten Schiff hörbarer Rundruf von der Zentrale, der vom Signalton des Gefechtsalarms begleitet wurde: „Alles auf Gefechtsstation!“