Heidi Zorzi

Psychotherapie mit komplex traumatisierten Jugendlichen

Ein Integrativer Ansatz für die Praxis

Zu diesem Buch

Schwer und komplex traumatisierte Jugendliche zu behandeln, gilt zu Recht als große therapeutische Herausforderung. Das Buch gibt allen, die diese Patientengruppe betreuen, einen vielschichtigen und auf großem Erfahrungswissen basierenden integrativen Therapieansatz an die Hände. Die Autorin zeigt, worauf zu achten ist, um hilfreiche Veränderungsprozesse im sozialen Verhalten, der emotionalen Befindlichkeit und der Persönlichkeitsmuster einleiten zu können. Zu diesem Zweck werden die Wirkmechanismen der typischen Symptomatiken entwicklungspsychologisch und neurowissenschaftlich erklärt. An zahlreichen Fallbeispielen und Übungen macht sie deutlich, wie betroffene Jugendliche wieder fühlen lernen, wie Körpererinnerungen zugänglich werden und emotionaler Stress beherrschbar wird.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:

www.klett-cotta.de/lebenlernen

Impressum

Leben Lernen 306

Die digitalen Zusatzmaterialien zu den Kapiteln 7.7 und 10.6 haben wir zum Download auf www.klett-cotta.de bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM89239

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© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Umschlag: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Joshua Fuller on Unsplash

Abbildungen 4 – 11: Leonie Zorzi

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89239-0

E-Book: ISBN 978-3-608-11541-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20404-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Vorwort

Das vorliegende Buch schließt eine große Lücke, die ich selbst in meiner psychotherapeutischen Methodenentwicklung lassen musste: Die Trauma- und Bindungstherapie mit früh vernachlässigten und/oder misshandelten Jugendlichen. Natürlich arbeite ich auch mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, denen eine solche schreckliche frühe Lebenserfahrung angetan worden ist – aber meistens sind diese schon als Kinder einmal in meiner Behandlung gewesen. Dadurch ergibt sich ein ganz anderer Startpunkt: Sie spüren, was ihnen fehlt, sie wissen oft, was sie wollen, sie haben Vertrauen, sie haben Zuversicht, die Integration ihrer Ego-States ist schon vorangeschritten – und sie können sich konzentrieren. Was will man mehr?!

Völlig unvergleichlich ist es aber, mit früh bindungs- und gewalttraumatisierten Jugendlichen in einen Erstkontakt zu kommen: Sie sind voll tiefem Misstrauen, sie haben kaum irgendeine Zuversicht, ihre Ego-States sind stark dissoziiert, sie spüren kaum, was ihnen fehlt, und wissen üblicherweise nicht, was sie von uns wollen sollten.

Wie kann da eine Psychotherapie überhaupt in Gang kommen?

Wie kann sie trotz all der vielen Unwägbarkeiten sogar helfen?

Heidi Zorzi beschreibt in ihrem wundervollen Buch Wege, die gangbar sind:

Wege sowohl bezüglich der Sichtweisen auf das Gesamtproblem, die einen neuen Blick auf diese oft doch so hoffnungslosen »Fälle« ermöglichen.

Als auch Wege bezüglich der Selbstwahrnehmung und -regulation der/des Therapeut/in im Kontakt.

Und sie beschreibt auch Wege hinsichtlich konkreter Angebote und Unterstützung in der Jugendlichentherapie. Man spürt ihren Sinn für die besonderen Momente in der Therapie, in denen eine echte heilsame Erfahrung möglich wird: Alle Körpersinne und Beziehungsmomente bekommen hier eine entscheidende Bedeutung für das große Projekt der seelischen Heilung.

Nürnberg, im Dezember 2018

Dorothea Weinberg

Prolog

Seit Jahren häufen sich die Fach- und Ratgeber-Publikationen im Bereich Trauma und Traumatherapie. Beratern, Therapeuten und Pädagogen steht heute eine große Palette von Aus- und Weiterbildungen zu diesem Thema zur Verfügung. Es gibt zahlreiche zertifizierte Curricula zur Qualifizierung als »Traumatherapeut/in«, »Traumapädagog/in« oder »Traumaberater/in«. Auch Betroffene und ihre Angehörigen können aus einem breiten Angebot an Ratgeberliteratur wählen.

So erfreulich diese Entwicklung ist, so suggeriert sie doch auch, dass die psychischen Folgen von Traumatisierungen sehr schnell, einfach und gut behandelbar oder gar heilbar seien, wenn nur die richtigen Methoden und Interventionen angewandt würden. Besonders im Bereich der kognitiv-behavioralen Therapieansätze liegen evidenzbasierte Untersuchungsergebnisse vor, die einen Therapieerfolg nach bestimmten Trauma-fokussierenden Interventionen bestätigen. In der Regel handelt es sich bei den Probanden um von Monotraumatisierung Betroffene bzw. um Opfer klar umgrenzter, erinnerungsfähiger und erzählbarer traumatischer Erlebnisse.

Früh und komplex traumatisierte Patienten aber – ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene – fallen meist durch die engen Auswahlkriterien der Untersuchungssettings, sei es, weil sie sich nicht freiwillig einem solchen unterziehen oder sich überhaupt in Behandlung begeben, die Vor- und Nach-Testungen verweigern oder eben weil sie sich gar nicht erinnern oder in Worte fassen können, was ihnen passiert ist, wobei sie z. T. massive Symptomatiken infolge früher Beziehungstraumatisierungen zeigen.

Solche Klienten sind – zumindest in der Anfangsphase der Therapie – nur schwer mit standardisierten traumatherapeutischen Interventionen zu erreichen. Was die Schwelle zur Aufnahme einer längerfristigen psychotherapeutischen Behandlung für diese Kinder und Jugendlichen überhaupt passierbar macht, sind in erster Linie der Aufbau und das Angebot einer tragfähigen therapeutischen Beziehung (Allianz), die ihre bisherigen Lebenswelten mitsamt den darin herrschenden Normen und Werten ernst nimmt, würdigt und ihr Verhalten als ihrer schwierigen Lebenssituation angemessen akzeptiert – obwohl in aller Regel sehr von den eigenen Lebensanschauungen und Grundwerten der in Helferberufen Tätigen divergiert.

Dieser Beziehungsaufbau muss von Beginn des ersten Kontakts an erfolgen, mehr als Angebot oder Einladung zur persönlichen Weiterentwicklung denn als Interventionsmaßnahme zur schnellen Beseitigung vorliegender Symptome. Voraussetzung dafür ist aufseiten der/s Therapeutin/en vor allem die bedingungslose Bereitschaft, die Innen- und Außenwelten des jeweiligen Klienten kennenzulernen, sie wie ein Gast oder Reisebegleiter interessiert, aufmerksam und wertschätzend mit ihm zu erforschen, um erst dann, auf der Basis dieser – in der therapeutischen Dyade nun geteilten und angemessen gespiegelten – Erfahrungen, zusammen solche Wege aus inneren und äußeren Verstrickungen zu suchen, die für die Betroffenen gangbar und hilfreich sind.

Meine Erfahrung in der therapeutischen Arbeit mit früh traumatisierten Kindern und Jugendlichen hat mir immer wieder gezeigt, dass diese Wege vielfältig und individuell sehr unterschiedlich sind und sein müssen. Je nach den speziellen Bindungs- und Lebenserfahrungen, den individuellen Ressourcen und den spezifischen Verletzungen ergeben sich z. T. völlig unterschiedliche Therapieverläufe, die sich in kein standardisiertes Manual übersetzen bzw. generalisieren lassen. Therapeut und Klient kreieren gewissermaßen in jedem Behandlungsverlauf eine individuell zugeschnittene Fassung der evidenzbasierten Psychotherapie, die der Therapeut in seiner Ausbildung gelernt hat.

In der Geschichte vom »verrückten Königssohn« wird ein solcher Beziehungsaufbau wunderbar beschrieben:

Der junge Prinz, einziger Sohn eines alternden Königs und seines Zeichens Thronfolger, hatte sich im Laufe der Jahre – zum Entsetzen seiner Familie – immer mehr zurückgezogen, saß schließlich nackt unter einem Tisch und pickte dort Körner . . . als wäre er ein Huhn. Der verzweifelte König holte alle Ärzte und Medizinmänner des Landes zusammen und beauftragte sie, alles in ihren Möglichkeiten Liegende zu tun, um seinen Sohn von seinem »Verrücktsein« zu heilen. Die Fachleute untersuchten den jungen Mann (so gut das unter dem Tisch ging), diagnostizierten, stritten sich über die richtige Behandlungsmethode und wandten ihre Interventionen an – aber der Königssohn blieb weiter unter seinem Tisch hocken und pickte seine Körner.

Als der König alle Hoffnung auf Heilung seines Sohnes schon aufzugeben schien, meldete sich ein unscheinbares, altes Männlein zu Wort: »Euer Gnaden, dürfte ich auch einmal mein Glück versuchen?« Es wartete die Antwort des Königs gar nicht ab, sondern zog sich nackt aus, kroch unter den Tisch zum Königssohn und begann dort, zusammen mit diesem Körner zu picken.

Der Königssohn stutzte, sah das Männlein an und fragte es: »Wer bist du und was machst du hier?« Das Männlein antwortete: »Ich bin neugierig und möchte gerne wissen, wie es ist, hier unter deinem Tisch diese Körner zu picken. Wenn dich das nicht stört, würde ich gerne ein bisschen hier mit dir sitzen und erfahren, wie es sich anfühlt, so zu leben.«

Der Königssohn nickte, und die beiden pickten und tauschten sich über Geschmack und Konsistenz der Körner aus. Nach einer Zeit sprach das Männlein: »Ich hab jetzt verstanden, warum du die Körner pickst, sie sind recht schmackhaft und reichlich vorhanden. Auf die Dauer der Zeit aber wird der Geschmack eintönig.« Und er erzählte dem Königssohn von der Süße der Früchte, der Würze der Kräuter und lud ihn ein, die verschiedenen Geschmäcker mit ihm zu teilen. Sie kosteten zusammen etliche Speisen, die die Diener unter den Tisch schoben, entdeckten ihre unterschiedlichen Vorlieben und besprachen interessante neue Rezepte.

Nach einer Zeit meinte das Männlein: »Ab und zu friere ich ein bisschen hier unter dem Tisch. Es wird dich wohl nicht stören, wenn mir die Diener eine warme Jacke hereinschieben?« Der Königssohn sah zu, wie sich das Männlein genüsslich die warme Jacke anzog, befühlte sie und nahm den Vorschlag des Alten an, eine weitere Jacke bringen zu lassen.

Satt und in warme Jacken gehüllt, plauderten die beiden weiter, und das Männlein erzählte davon, wie sich andere Stoffe auf der Haut anfühlten, und der Wind, die Sonne, das Wasser . . . Und es sagte: »Wir beide haben es hier unter dem Tisch jetzt wirklich kuschlig, warm und sicher . . . Auf die Dauer der Zeit aber wird’s hier auch reichlich eng.« Es erzählte dem Königssohn vom Sich-Strecken, vom Hüpfen, vom Laufen am Strand . . . bis dieser Lust zu verspüren begann, das alles selbst zu erleben, und sich schließlich – erst langsam und beschützt, an der Seite des Männleins – herauswagte unter seinem Tisch und die Welt neu erkundete1.

Mitunter ist selbst ein so höfliches und wertschätzendes »Eindringen« in den durch dicke Mauern geschützten persönlichen Raum des Jugendlichen zunächst nicht möglich, weil dieser sich, wenn auch einsam, nur in seinem Schutzpanzer sicher fühlt. Noch fehlt das Vertrauen in uns als »professionell Helfende«, noch konnte er nicht genügend heilsame Bindungserfahrungen machen, um ihn einen kleinen Spalt zu öffnen. Dann sollten wir uns erst einmal symbolisch neben die Mauer setzen, diese wahrnehmen, in Worte fassen und laut über ihre hilfreichen Funktionen nachdenken. Wir sollten unsere Wertschätzung darüber äußern, wie gut er auf seine Grenzen in ungewohnten Lebenslagen und ihm wildfremden Personen gegenüber achten kann: Es ist durchaus angemessen, erst einmal aus sicherer Entfernung zu prüfen, wer diese/r Therapeut/in eigentlich ist, was er oder sie vorhat und was davon tatsächlich hilfreich für den Jugendlichen selbst sein könnte.

Um heilsame Veränderungsprozesse im sozialen Verhalten, der emotionalen Befindlichkeit und den impliziten Persönlichkeitsmustern komplex traumatisierter Jugendlicher bewirken zu können, benötigen wir als ihre Begleiter ein umfassendes Verständnis der zugrunde liegenden Wirkmechanismen ihrer Symptomatiken einerseits und ein breites, möglichst ganzheitliches Spektrum an psychotherapeutischen Behandlungsansätzen andererseits – entsprechend der tief greifenden Störungen sowohl auf der vegetativ/körperlichen als auch auf der emotional/limbischen und der kognitiv/mentalen Ebene. Und natürlich ein echtes Interesse an der Person, ein pädagogisch/therapeutisches Selbstverständnis als begleitender Coach oder Karawanenführer auf ihrem Weg sowie das unbeirrbare Vertrauen auf ein grundsätzlich innewohnendes Veränderungspotential, das sich in der therapeutischen Dyade im Hier und Jetzt, in aneinandergereihten Augenblicken gegenwärtigen Erlebens (D. Stern, 2005) entfalten wird – wie dies in der Geschichte des »verrückten Königssohns« durch die bedingungslos-unaufdringliche Präsenz, die interessierte Neugierde und die beharrliche Zielorientierung des Männleins geschieht.

In diesem Buch möchte ich pädagogisch, diagnostisch und therapeutisch tätigen KollegInnen – neben den theoretischen Grundlagen im ersten Teil dieses Buches – eine hilfreiche therapeutische Haltung sowie methodenübergreifende Behandlungsansätze in der Arbeit mit komplex traumatisierten Jugendlichen vorstellen, die sich in meiner Arbeit bewährt haben, und ihnen die Scheu nehmen, sich auf diese, zugegeben meist langwierigen, oft scheinbar »hoffnungslosen Fälle« einzulassen. Es lohnt sich in jedem einzelnen Fall!

Ganz herzlich bedanken möchte ich mich

Kapitel 1

»Du mit deiner Laber-Therapie!«

Erste Grenz-Begegnungen mit komplex traumatisierten Jugendlichen

»Man sieht nur, was man weiß.«

J. W. v. Goethe

Mitte der 90er-Jahre, als ich die Tätigkeit in meiner Praxis für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie begann, bewegten sich viele meiner Kollegen mit mir noch in »Trauma-therapeutischen Steinzeiten«. Eine Großzahl der mittlerweile häufig genutzten, sog. Trauma-fokussierenden Interventionen wie EMDR, Screening-Technik, die Trauma-fokussierte kognitive Verhaltenstherapie und andere Verfahren wurden damals – meist in den USA – gerade erst entwickelt und kamen, etwas zeitversetzt, langsam auch in Europa an, waren aber noch kaum evaluiert. Die in den letzten Jahren nicht zuletzt infolge immer differenzierterer bildgebender Verfahren (PET, MRT) exponentiell vermehrte neurobiologische Forschung (McClean, 1990; Damasio, 2011; LeDoux, 2001/2003 u. a.) steckte in ihren Kinderschuhen und war noch nicht Bestandteil meiner oder anderer psychotherapeutischer Ausbildungen gewesen. Es war ein neues und riesiges Entwicklungsgebiet, auf dem in den Folgejahren zahlreiche und vielfältige Früchte wachsen sollten, sowohl im Bereich der Trauma-Forschung als auch im Rahmen der Entwicklung spezieller Therapieansätze und -verfahren.

Da ich vor meiner psychotherapeutischen Ausbildung als forensische Sachverständige v. a. im Bereich der Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen tätig gewesen war, hatte ich mir einiges an theoretischem Wissen in den Bereichen »sexueller Missbrauch«, »Vergewaltigung« und »Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen« angeeignet.

Größtenteils dieser Vortätigkeit war es wohl auch geschuldet, dass ich bereits kurz nach Praxiseröffnung im Jahr 1997 viele Therapie-Anmeldungen mit Trauma-spezifischem Hintergrund bekam und mich alsbald mit der Problematik konfrontiert sah, dass meine jungen Klienten selbst wenig bis kaum von sich aus oder auch auf Nachfrage hin mit mir über ihr Trauma, ihre traumatische Lebensgeschichte und schon gar nicht über die Verursacher ihrer schlimmen Erfahrungen sprechen wollten oder konnten.

Das war in meiner Gutachterinnen-Zeit anders gewesen: Es gab immer einen im vorausgehenden Ermittlungsverfahren eruierten »Sachverhalt zum fraglichen Erleben«, der mir schwarz auf weiß in der Gerichtsakte vorlag. Die Befragungen der jugendlichen Zeugen mussten zeitlich und formal sehr strukturiert und direkt – unter Vermeidung aller suggestiven Fragen oder Vorhalte – durchgeführt werden. Aus meinem psychotherapeutischen Blickwinkel von heute wird mir noch bewusster, unter welcher inneren Anspannung die Betroffenen in dieser exponierten Situation gestanden haben mussten: neuronal im Stressmodus und immer in der Angst, etwas Falsches zu sagen oder eine geliebte Bezugsperson zu Unrecht zu beschuldigen oder gar zu verlieren.

Während einer Therapiestunde viele Jahre später sprudelte es aus einem damals 10-jährigen Mädchen heraus: »Ich werde doch nicht die schlimmsten Sachen mit dem Papa erzählen, wenn da ein Tonband mitläuft!«

Was ich als angehende Therapeutin in mein konkretes Arbeiten mitgebracht hatte, war eine mehr oder weniger solide universitäre Schulung in Entwicklungs-psychologie, eine personzentrierte Spieltherapieausbildung mit tiefenpsycho-logischer Nachqualifikation und ein wenig Gespür im Umgang mit kindlichen Zeugen traumatischer Erlebnisse. Dazu die sicher nicht zu unterschätzende gelebte Erfahrung als Ehefrau und Mutter von vier Kindern, die mir im Laufe unserer gemeinsamen Jahre als Familie immer wieder meine eigenen Ansprüche, unausgesprochenen Botschaften und menschlichen Begrenzungen als Mutter spiegelten – eine Selbsterfahrung, die keine Ausbildung in so intensiver Weise ermöglichen kann und die mich wohl einigermaßen bescheiden und demütig bezüglich meiner Selbstwirksamkeit als Mutter und auch anderen Eltern gegenüber gnädiger und feinfühliger in meinem Urteil gemacht hat.

Heute – zwei Jahrzehnte später – blicke ich auf viele, zum Teil langjährige Therapieverläufe mit komplex traumatisierten Kindern und Jugendlichen zurück. Darauf, wie ich mich in jedem einzelnen Fall vorantasten musste, mehr am Gespür und an meinen Gegenübertragungsgefühlen2 entlang als auf der Basis eines fundierten Wissens Trauma-spezifischer Zusammenhänge, das ich mir im Laufe der Zeit erst nach und nach aneignen konnte.

Implizit habe ich sicher auch damals schon – v. a. dank meiner personzentrierten Grundausbildung – über ein paar hilfreiche Therapeutenvariablen wie Echtheit oder Neugierde auf und Interesse an Kindern und Jugendlichen verfügt, die mir das Arbeiten mit diesen Klienten erleichtert haben. Dennoch hadere ich im Nachhinein ein wenig damit, ob ich sie nicht noch angemessener hätte begleiten können mit meinem Wissen, meiner Erfahrung und meinem »Instrumentenkoffer« von heute.

Weit mehr als in den besten Aus- und Weiterbildungen habe ich über all die Jahre »by doing«, in den einzelnen therapeutischen Prozessen mit den Klienten selbst gelernt – was verdeutlicht, dass psychotherapeutische Tätigkeit in ihrem Kern eine Erfahrungs-, eine empirische Disziplin ist.

Für jeden Psychotherapeuten kann es nur bereichernd sein, auch und gerade Verfahren und Interventionen kennenzulernen, die nicht im Spektrum der richtlinienbezogenen Grundausbildung liegen. Die ursprüngliche Entscheidung für eine Ausbildung in einer der Richtlinientherapien musste nicht selten aufgrund äußerer Gegebenheiten getroffen werden, was längerfristige Offenheit und Interesse an anderen Blickwinkeln ja nicht ausschließen muss. Es landet ohnehin über kurz oder lang im psychotherapeutischen »Spam«, was sich mit bestem Willen nicht in den persönlichen therapeutischen Stil integrieren lässt, und das ist auch gut so.

Als Allererstes aber spüren vor allem früh traumatisierte Klienten unsere Authentizität: »Der/die mir da gegenübersitzt, scheint tatsächlich so zu ticken, wie oder was sie/er da labert . . .« Immer wenn wir meinen, etwas Bestimmtes an den Klienten bringen zu wollen, sei es frisch Angeregtes aus der Supervision, im letzten Seminar neu Erlerntes oder eine pfiffige, gerade angelesene Intervention: Sie riechen den Braten, merken, woher der Wind weht . . . und sind gerüstet, uns bei Nichtgefallen damit auflaufen zu lassen. Sie vermitteln uns immer unmittelbar, dass sie nicht die Methode brauchen, sondern das Gegenüber. Also werden wir gut daran tun, »in Charakter zu treten«, unsere Persönlichkeit zu zeigen, auch und gerade in ihren menschlichen Unvollkommenheiten.

Eine meiner ersten Klientinnen, die damals 16-jährige Ellen, war mit der Diagnose »Selektiver Mutismus« zur Therapie angemeldet worden. Den Hintergrund der Vorstellung bildeten bereits zur Anzeige gebrachte mutmaßliche sexuelle Übergriffe auf die Jugendliche, eine emotional hoch aufgeladene und

gleichzeitig verschlossene familiäre Atmosphäre sowie der nicht so klar in Worte gekommene Auftrag der Eltern, ich solle angesichts der widersprüchlichen Aussagen der Tochter die tatsächlichen Abläufe eruieren und die Symptomatik ihres mutistischen Rückzugs verbessern. Aus dem Heute betrachtet ein von vorneherein unerfüllbarer Anspruch!

Frisch aus der psychotherapeutischen Ausbildung, motiviert und etwas naiv nahm ich den unausgesprochenen Auftrag an und wollte anwenden, was ich in meiner personzentrierten Ausbildung gelernt hatte.

Auch damals wusste ich freilich schon, dass die therapeutische Compliance eines Jugendlichen dem Auftrag und Wunsch der Eltern diametral entgegengesetzt sein kann, stellte mich also darauf ein, dem Mädchen bereits in unserer ersten Begegnung zu vermitteln, dass und inwiefern eine therapeutische Begleitung für sie selbst, unabhängig von den Erwartungen der Eltern, Sinn machen könnte. Im Rückblick muss ich über meine verzweifelten Versuche lächeln, diesem scheinbar verstummten Mädchen Äußerungen zu entlocken. Zusätzlich wollte ich mittels projektiver Verfahren wie »TAT« oder »Rorschach-Test« Einblicke ins Seelenleben der Jugendlichen gewinnen. Mit alldem sollte ich scheitern – aus heutiger Sicht zu Recht.

Meine Erwartung, einer Klientin, die im Vorfeld die beschämende Erfahrung gemacht hatte, dass ihre Angaben von der Umwelt als wirr, unglaubwürdig und kompromittierend aufgenommen worden waren, genau auf diesem Kanal wieder begegnen zu wollen und sie erreichen zu können, hatte sich sehr schnell als widersinnig erwiesen: Ellen hörte und sah sich meine Versuche teils befremdet, teils belustigt an, schwieg weiterhin beharrlich, erschien zwar regelmäßig – von der Mutter gebracht – zu den vereinbarten Sitzungen, mehr als stille Beobachterin meines Tuns, ohne verbales oder auch nur körperliches oder mimisches Feedback auf meine therapeutischen Bemühungen. Unser Miteinander sollte erst in Gang kommen, als ich ihr vorschlug, im Spazierengehen zu schweigen. Wir machten uns auf den gemeinsamen Weg, und wie zufällig entstanden erste Blickkontakte und ein flüchtiges gegenseitiges Anlächeln. Die innere Bereitschaft des Mädchens, tatsächlich mit mir zu sprechen, kam schließlich im letzten Drittel des Therapieprozesses, als ich mehr durch Erspüren als durch Erfragen verstanden hatte, dass die Anzeige und deren belastende Folgen die Klientin letztendlich zum Verstummen gebracht hatten. Ich bot Ellen an, meinerseits mit der Staatsanwaltschaft Kontakt aufzunehmen mit dem Ziel einer Einstellung des Verfahrens. Die Anspannung in Körper und Geist des Mädchens, auch die zwischen uns und in mir begann

sich nun zunehmend aufzulösen. Aus heutiger Sicht wäre das für mich wohl der Beginn und die Basis hilfreicher traumatherapeutischer Interventionen gewesen, damals war es das Ende der Behandlung und subjektiv Erfolg genug. Nie habe ich erfahren, ob und welches reale Trauma sich hinter den Verhaltensweisen und der Symptomatik der Klientin verbarg.

Heute würde ich sicherlich mehr »mentalisieren« (s. Kap. 9), deutlicher mimisch und körperlich spiegeln (s. Kap. 7), Hypothesen über Gefühle und innere Zustände der Klientin in Worte bringen und . . . weniger konkrete Erwartungen hegen.

Ein solides Repertoire bewährter Methoden und konkrete Langzeiterfahrungen schaffen immer befreienden Spielraum, der sowohl den Klienten als auch den Therapeuten entlastet. Die Interaktionen können gelassener, authentischer und spielerischer werden.

Heute profitiere ich auch und besonders von den Supervisionen mit jungen Kolleginnen und meinem Blick von außen auf die beschriebenen Therapieprozesse. Sie erscheinen mir aus der Perspektive der Zuschauerin wie individuell-kreative Tanzpartien von Führendem und Geführtem, wenn die Choreographie der gegenseitigen Einstimmung gelingt. Sicher hatte es auch etwas Gutes, dass gerade ein mutistisches Mädchen früh meine therapeutische Laufbahn kreuzte: Durch sein beharrliches Schweigen zeigte es mir sehr schnell die Grenzen meiner Selbstwirksamkeit als Therapeutin auf und ließ diesbezügliche Hybris gar nicht erst aufscheinen. Es sollte noch heftiger kommen.

Hannah (15) war von ihrer Bezugserzieherin im Heim – das zweite, in dem sie seit ihrer Inobhutnahme im 8. Lebensjahr untergebracht war – wegen aggressiver Impulsdurchbrüche und auffälligem Essverhalten zur Behandlung angemeldet worden. Während einer dreimonatigen stationären Behandlung hatte sie die Diagnose »Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten« bei traumatischer früher Beziehungsgeschichte im Sinne eines »Broken Home« bekommen. Faktisch war sie meine erste Klientin mit explizit traumabezogener Diagnose.

Trotz oberflächlicher Kenntnis der schwierigen Lebensgeschichte des Mädchens hätte ich mir damals, zu Beginn unserer zweijährigen Therapiezeit, nicht träumen lassen, was sich in der therapeutischen Dyade des geschützten Therapieraums an traumatischen Reinszenierungen manifestieren kann. Ein langsames, vorantastendes Kennenlernen im fremden Raum, wie dies bei sicher gebundenen Therapiekindern und -jugendlichen nahezu die Regel ist, gibt es bei beziehungstraumatisierten Klienten mit externalisierender Symptomatik selten. Meist sind sie ab der ersten Stunde mit all ihren Verhaltensbesonderheiten präsent, setzen sie unbewusst – oft distanzlos und ohne Rücksicht auf Verluste – in der Zweierbeziehung in Szene. Gleichzeitig geben diese ersten Stunden in verdichteter Form oft schon die wichtigsten Themen des ganzen Therapieverlaufs vor (s. Kap. 6). Hannah sollte auch meine erste Lehrmeisterin bezüglich der Erkenntnis sein, dass das tatsächliche Lebensalter nicht in allen Bereichen dem inneren Entwicklungsalter früh traumatisierter Klienten entspricht. Von Beginn an inszenierte sie ihr inneres emotionales Chaos »gnadenlos« in unserer Beziehung: Im Spiel konnte sie mich schnell und unmittelbar in Angst versetzen (z. B. im Kampf mit Gummischwertern), genoss es scheinbar, mich aus dem Hinterhalt zu erschrecken, im Regelspiel zu beschummeln und mich immer wieder schwach anzureden bzw. abzuwerten (»Ich bestimme ja hier!«). Beim Lesen meiner damaligen Mitschriften dieser Stunden wundere ich mich, wie viel ich mir, auch in meiner Rolle als Therapeutin, habe gefallen lassen, welche Attacken ich ausgehalten habe. Heute achte ich, auch im spieltherapeutischen Setting, auf meine mir inzwischen deutlich spürbaren Grenzen, setze sowohl dem Klienten als auch mir einen klaren Rahmen des respektvollen Miteinanders, ohne die sich inszenierenden traumaassoziierten Themen abzuwürgen, möchte als erwachsene Begleitung möglichst präsent, handlungsfähig und im guten Sinne führungsstark bleiben. Geholfen hat mir dabei vor allem das spieltherapeutische Regelsystem meiner Kollegin Dorothea Weinberg, die in den letzten 20 Jahren ihr Konzept der »Traumabezogenen Spieltherapie« entwickelt und immer wieder verfeinert hat (s. Kap. 10). Damals aber hat sich ein Großteil der traumatischen Reinszenierung noch direkt in unserer therapeutischen Beziehung abgespielt: Ich versuchte zu halten und auszuhalten, nicht grenzenlos, aber doch mit sehr weit gesteckten Grenzen. Auch wenn ich solche Reinszenierungen in der therapeutischen Beziehung heute anders handhaben würde, hat dieses Halten und Aushalten der externalisierenden Verhaltensweisen von Hannah langfristig doch dazu beigetragen, dass sie, die sich in Beziehungen bisher hauptsächlich weggestoßen und verlassen gefühlt hatte, nach und nach vorsichtig Vertrauen fasste (»Sie bekommen meine Handynummer, aber nur stückchenweise, jede Woche eine Zahl . . . !«) und spontan Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche in Worte bringen konnte. (»Ich hasse Kinder! Ich gebe meines mal zur Adoption frei oder besser in Dauerpflege, wo es mich kennenlernen kann, wenn es

will.«) Hinter ihrer gewöhnlich verbal-rauen Sprechweise traten mit der Zeit immer differenziertere, selbstreflexive Äußerungen zutage, die mich regelmäßig staune ließen. (»Meine Familie ist ein einziger Krimi!«, »Hab ich den Teufel in mir?«, »Wenn ich esse, beruhige ich mich und vergesse den Ärger.«)

Die Arbeit mit Hannah hat mir auch deutlich gemacht, dass wir Therapeuten nicht davon ausgehen können, Wesentliches aus der traumatischen Vergangenheit der Klienten erzählt zu bekommen, selbst wenn wir uns explizit als zuständige Adressaten für »die schlimmen Seiten ihres Lebens« anbieten. Das meiste, wenn es denn überhaupt erinnert wird, ist sehr scham- und schuldbehaftet, zeigt sich eher symbolisiert in ihrem Verhalten und ihrer Stimmungslage während der Therapiestunde als in Erzählungen. Wir sind diesbezüglich – freilich unter Wahrung der Schweigepflicht – in erster Linie auf die Berichte und Einschätzungen der Bezugspersonen, gegebenenfalls auch auf Aktenstudium, angewiesen, wobei von zentraler Bedeutung ist, dass ich das, was ich weiß, aus Gründen der Transparenz in der Sitzung mit dem Jugendlichen in Worte bringen werde.

Im Rückblick auf meine Psychotherapie mit Hannah hätte ich heute sicher gerne mehr Augenmerk auf ihre mir damals nur vage erkennbaren körperlichen Verspannungen, grobmotorischen Auffälligkeiten und selbstschädigenden Körpermanipulationen gelegt, hätte ihren spontanen Äußerungen (z. B. »Fernsehen ist mein Freund«) mehr Resonanz und Vertiefung zu geben versucht. Ihre Berichte, dass sie regelmäßig mit einer Spinne spreche, hätte ich gerne nicht als »möglicherweise psychotisch«, befremdlich und beunruhigend erlebt, sondern willkommen geheißen und mehr von ihr darüber erfahren wollen, was in diesen Zweiergesprächen in Worte kam und welche Kommentare ihre Spinne gegeben hatte.